Filmklassiker aus der Friedrichstraße: Der Sternenhimmel über Berlin
Der restaurierte Film „Varieté“ von 1925 läuft bei der Berlinale. Er wurde teilweise im Wintergarten an der Friedrichstraße gedreht. Ein Stück Stadtgeschichte mit Artistik.
Einen Trapezkünstler spielen – Kleinigkeit. Man klettert die Strickleiter hoch, verneigt sich dort oben ein wenig, den Rest besorgt das Double. Dachte sich auch Emil Jannings, als bei den Dreharbeiten zu „Varieté“, dem Meisterwerk des Regisseurs E. A. Dupont von 1925, die Luftnummern im Berliner Varieté „Wintergarten“ an der Friedrichstraße anstanden. Beim Klettern, so schilderte er später, hatte er „nicht das geringste Gefühl“. Aber als er allein auf der Metallstange stand, auf der anderen Seite, jenseits des Abgrunds, seine Partnerin Lya de Putti, wurde ihm mit einem Mal doch schwummerig.
„Langsam schwankte ich vor und zurück, während meine Augen die Entfernung maßen.“ Plötzlich wurde ihm bewusst, was die Artisten da eigentlich treiben: „wie lebende Pfeile, ohne Flügel durch die Luft fliegen, wobei sie sich nur auf die eigene Kraft, die eigenen Augen und die Nerven ihrer Partner verlassen können“.
Jannings sah über sich den Sternhimmel des Wintergartens, unter sich das gebannt emporstarrende Heer der Komparsen, musste sich mit einem Taschentuch die Stirn wischen, „und das, glaubt mir, war keine Schauspielerei (...) Ich bekenne offen, dass ich innerlich zitterte und ich schäme mich nicht dafür. Im Gegenteil, ich bin darauf stolz.“ Denn in diesem Moment, unter dem künstlichen Sternenhimmel, „wandelte ich mich von einem Schauspieler in den Menschen, den ich darstellte. Nicht länger war ich Emil Jannings, der Schauspieler, ich war Artinelli, der Vaudeville-Artist.“ Und das sei „die größte Kunst – aber auch die größte Erfahrung für einen Schauspieler.“
Nun gut, springen und fliegen musste Jannings dann doch nicht, er war ohnehin von der Figur her alles andere als ein Trapezkünstler, daher in dieser Rolle, bei allen Lorbeeren für ihn und den Film, sogar „hoffnungslos fehlbesetzt“, wie Tagesspiegel-Mitarbeiter Frank Noack in seiner Biografie „Jannings. Der erste deutsche Weltstar“ anmerkte. Aber Jannings’ Schilderung gibt doch eine Ahnung von der Magie der Schauspielerei, mehr noch: vom Zauber, der von E. A. Duponts Film, einem Riesenerfolg in Deutschland wie im Ausland und dort besonders in den USA, noch immer ausgeht. Ein Zauber freilich, den das Publikum bislang nur in recht abgenutzter, zudem lückenhafter Form genießen konnte.
Digitalisierung des Filmerbes "dringend erforderlich"
„Der Fall ,Varieté’ zeigt, wie dringend erforderlich die Restaurierung und Digitalisierung des Filmerbes ist“, sagt Ernst Szebedits, Vorstand der dieses Erbe verwaltenden Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung und damit auch für „Varieté“ zuständig. Auf der Berlinale 2010 präsentierte die in Wiesbaden ansässige Stiftung Fritz Langs „Metropolis“, im Vorjahr Robert Wienes „Das Cabinet des Dr. Caligari“ und wartet diesmal nun mit der restaurierten und digital aufgemöbelten Fassung des Dupont-Klassikers auf.
Längere, aus der jahrzehntelangen Versenkung wiederaufgetauchte Passagen wie seinerzeit bei „Metropolis“ darf der Zuschauer nicht erwarten, „Varieté“ hatte die Zeitläufte weitgehend ohne Verluste überstanden. Lediglich wenige von der deutschen Zensur als zu sexy oder zu brutal befundene Einstellungen sind wohl endgültig verloren gegangen, etwa der „Teil der Entkleidungsszene, der zeigt, wie das Mädchen das Lendentuch aufknüpft und abnimmt“ – so steht es mit Datum vom 24. Oktober 1925 auf der Zensurkarte, die im Archiv der Deutschen Kinemathek in der Potsdamer Straße aufbewahrt wird.
Aber es gab auch so genug zu tun, ein Jahr lang war Filmrestauratorin Anke Wilkening mit „Varieté“ beschäftigt. Grundlage für die nun vorliegende Version war eine praktisch unbenutzte Nitrokopie aus der Library of Congress in Washington, ergänzt durch eine schon reichlich abgenudelte, offenbar oft gezeigte Nitrokopie aus dem Filmarchiv Austria – beide eindeutig vom selben Kameranegativ gezogen, was die Arbeit erleichterte. Oft wurde damals parallel mit zwei Kameras gefilmt, wodurch Versionen mit identischer Handlung, doch leicht versetzten Einstellungen entstanden, heutigen Restauratoren ein Graus.
Ein Drehbuch fand sich nicht mehr, auch ist die ursprüngliche Musik von Ernö Rapée nicht erhalten. Als reiner Stummfilm muss „Varieté“ auf der Berlinale aber nicht vorgeführt werden. Für eine Neuvertonung konnte die britische Band The Tiger Lillies um Martyn Jacques verpflichtet werden, die eine Art zirzensisches Moritatenstück parallel zur Handlung geschaffen hat, geprägt von Jacques’ (englischem) Falsettgesang und sich mit unentwegtem „Variety, variety“-Refrain tief im Kopf festhakend – halb erzählender, halb musikalischer Kommentar, der die latent bedrohliche, ganz auf Untergang weisende Stimmung noch potenziert.
Ein Melodram voller Liebe, Leidenschaft, Hass und Tod
Denn die Geschichte geht nicht gut aus, das wäre auch ohne die im Gefängnis spielende Rahmenhandlung jedem rasch klar. Emil Jannings, das ist „Boss“ Huller, ehemals berühmter Trapezartist, nach einem Absturz Schaubudenbesitzer an der Hamburger Reeperbahn. Ein Mann, der sich in seinen langweiligen Berufs- und Ehealltag ergeben hat, bis Berta-Marie (Lya de Putti) in sein Leben tritt, anfangs mehr verschüchtertes Findelkind als verführerische junge Frau, das ändert sich schnell. Tanzen kann sie und schön mit den Augen rollen, dem ist er nicht gewachsen, flieht mit ihr nach Berlin, kehrt dort ins Trapezgeschäft zurück und wird mit seiner Partnerin vom berühmten Artisten Artinelli (Warwick Ward) entdeckt.
Dessen Auftritt im „Wintergarten“ scheint nach dem Unfall seines Partners schon abgehakt, doch „Boss“ und seine Berta-Marie springen ein: Als die „Drei Artinellis“ feiern sie Triumphe. Aber dann kommt, was kommen muss. Auch Artinelli verfällt der begehrenswerten jungen Frau, die hat nichts dagegen, „Boss“ dagegen um so mehr, und der Verführer muss dran glauben. Gegen den von Eifersucht zerfressenen Kraftbolzen hat Artinelli, zudem nach alkoholseliger Liebesnacht mit Berta-Marie, beim Messerkampf keine Chance.
Ein Melodram voller Liebe, Leidenschaft, Hass und Tod – drei Leben am Abgrund, im übertragenen wie im wörtlichen Sinne. Soll „Boss“, der Fänger, einfach nur wenige Zentimeter danebengreifen, den Nebenbuhler zwischen den Zuschauerreihen zerschmettern lassen? Die Szenen am Hochtrapez gehören zu den stärksten des Films, entfesselt und verwirrend schwingt die Kamera, den Artisten gleich, vor und zurück, unter den vorbeitanzenden Lichtern des berühmten Sternenhimmels an der Friedrichstraße.
Diese Szenen wurden tatsächlich im Varieté „Wintergarten“ gedreht, dem Ort also, an dem die Brüder Emil und Max Skladanowsky am 1. November 1895 zum ersten Mal mit selbst gedrehten Filmchen ihr „Bioskop“ vorgeführt hatten – die erste öffentliche Filmvorführung der Geschichte. Danach war der „Wintergarten“ – sein Name verweist auf die ursprüngliche Funktion des Saales in dem direkt am Bahnhof Friedrichstraße gelegenen Nobelhotel Central – umgebaut und erweitert worden wie noch einmal Ende der zwanziger Jahre. Am 21. Juni 1944 wurde er bei einem Bombenangriff zerstört.
Premiere war im Ufa-Palast am Zoo
Der Film „Varieté“, dessen Premiere am 16. November 1925 im Ufa-Palast am Zoo gefeiert wurde, ist nicht nur ein wichtiges und hochdramatisches Element der Berliner Filmgeschichte, sondern dokumentiert ebenso die Stadtgeschichte wie die der Artistik. Zu sehen sind neben den Innen- auch einige Außenaufnahmen des Wintergartens und des Bahnhofs Friedrichstraße, Bimmel-Bolle hat seinen Auftritt, und sogar ein Bus Richtung Turmstraße huscht durchs Bild, dies vielleicht nur eine Studioaufnahme, aber immerhin. Freunde des Varietés und seiner Bühnenlegenden dürfen sich an einem Kurzauftritt des berühmten Jongleurs Enrico Rastelli erfreuen, die Tiller Girls schwenken ihre Beine, und zwei Männer spielen Einradhockey, was als die älteste filmische Dokumentation dieses Sports gilt.
Und noch in einer sehr menschlichen Form hat „Varieté“ Filmgeschichte geschrieben und den Keim gelegt zu einer Oscar-Karriere, wie Florian Henckel von Donnersmarck, Regisseur von „Das Leben der Anderen“, erzählte. Seinen ersten Film sah er demnach mit vier Jahren im New Yorker Museum of Modern Art. Erwartet hatte er „Doktor Dolittle“, das Disney-Musical von 1967, gezeigt wurde aber „Varieté“, vielleicht noch nicht das Richtige für solch einen Knirps. Aber mit dieser Erfahrung, so der Regisseur, habe sein Interesse an Filmen begonnen. Und dabei hatte er noch nicht mal die restaurierte Fassung gesehen.
„Varieté“, 6. Februar, 19 Uhr, Haus der Berliner Festspiele; Wiederholung am 7. Februar, 18.30 Uhr, im Sputnik, Hasenheide 54. Parallel zur Premiere kommen DVD und Bluray-Disc in den Handel, vertrieben von Edel:Kultur.