Berlin am Zirkeltag: Der Mann, der gefälschte Mauer-Souvenirs entlarvt
Sie sind ein Verkaufsschlager, doch längst nicht alle der bunt bemalten Brocken sind echt. Geologe Ralf Milke macht den Test. Ein Laborbesuch.
Keiner kennt die Berliner Mauer so gut wie Ralf Milke. Er schaut ihr unter die graue Haut bis ins tiefste Innere. Der 52-jährige Mineraloge durchleuchtet die verbliebenen Reste des monströsen Bauwerks mit Röntgenstrahlen und analysiert so die buchstäblich einzigartigen kristallinen Strukturen des einstigen Mauerbetons. Dazu reicht dem Privatdozenten am Geologischen Institut der Freien Universität (FU) in Lankwitz ein einzelnes Bröckchen oder ein Splitter. Kleinste Teile, wie sie seit der Wende in Souvenirläden oder von fliegenden Händlern am Checkpoint Charlie hunderttausendfach als „Original Berliner Mauerstein“ verkauft werden.
Sie stecken in winzigen eingestanzten Plastikkapseln auf Postkarten oder Lesezeichen. Sie kleben bunt besprayt auf Kühlschrankmagneten, werden Berliner Plüschbärchen auf die Tatze oder Ampelmännchen auf die Hand gepappt, zu Schlüsselanhängern und Briefbeschwerern verarbeitet oder geschreddert in Schnapsfläschchen abgefüllt. Größere Bröckchen sind fein säuberlich in Acrylglasgehäusen montiert, gerne neben einem Trabimodell oder den Fähnchen der Alliierten. Fertig ist der Schreibtischschmuck. Einmal Berliner Mauer, bitte!
Hunderte Proben hat Ralf Milke analysiert
Das Bollwerk gegen die Freiheit ist zur Massenware geworden, es wird in Serie zu Geld gemacht, vor allem an Touristen verhökert. Viele US-Gäste sind heiß auf ein Stück „Berlin-Wall“ – als Symbol für Frieden und Freiheit oder den Sieg des American Way of Life über den Kommunismus.
Doch der reißende Absatz nährt Zweifel. Alles nur gefälscht? Darauf gibt in Deutschland derzeit nur ein Mann eine verlässliche Antwort: Ralf Milke. Der Geowissenschaftler braucht nur ein paar Minuten, um herauszufinden, ob ein Mauerstück echt oder Fake ist. Solche Untersuchungen betreibt er neben seinem regulären Lehr- und Forschungsjob an der FU sozusagen aus Spaß nebenher. Den ersten Anstoß dazu bekam Milke 2010 durch den Anruf einer Boulevardzeitung. Zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung wollte die Redaktion wissen, ob er eine Methode kenne, originale Mauerreste von Fälschungen sicher zu unterscheiden.
Nein, die gab es damals nicht. Aber Milke brauchte nur eine einzige Woche, um die perfekte Lösung zu finden. Schließlich sollte der geplante Artikel über die fragwürdigen Mauerreminiszenzen rasch erscheinen. Seither hat er hunderte Betonproben analysiert. Menschen aus aller Welt bringen sie ihm vorbei oder senden sie per Post. Ist das Ergebnis positiv, stellt er sogar ein Echtheits-Zertifikate aus. Kostenpunkt? Milke macht das für eine Spende in die Kaffeekasse des Instituts.
Das Herzstück ist der Röntgenpulverdiffraktometer
Seine Labors liegen im Parterre des Gebäudes N auf dem „Geo Campus“ der FU an der Malteserstraße in Lankwitz. Der Geowissenschaftler ist ein lebhafter Typ, Wuschelhaar, Outdoor-Hosen, legeres lilafarbenes Hemd. Er wirkt, als wäre er nach einer Gesteinsexkursion auf direktem Weg ins nüchtern-graue Labor geeilt. Den weißen Kittel lässt er am Haken hängen. Milke redet sich in Begeisterung vor einem Gerät mit dem unaussprechlichen Namen Röntgenpulverdiffraktometer – dem Herzstück des von ihm ausgetüftelten Verfahrens.
Wie funktioniert nun diese Analyse? Das erklärt er am besten live. Er zieht eine Schublade auf voller kleiner Betonstücke, greift eines heraus, ein angeblich echtes. Schlägt ein Stückchen ab, klein wie eine Erbse, zerreibt es in einem Handmörser zu Pulver und füllt das graue Häufchen in eine handtellergroße Form, den Probenhalter. Der Diffraktometer summt bereits leise, das rund 150.000 Euro teure Gerät sieht aus wie eine mannshohe Vitrine, vollgepackt mit Röntgentechnik, wie man sie aus der Medizin kennt. Ralf Milke schiebt die vorderen dicken Strahlenschutzscheiben zur Seite, legt das Testmaterial hinein. Scheiben zu, ein Roboterarm greift die Probe und lässt sie vor der Röntgenröhre rotieren.
„Die Röntgenstrahlen durchdringen das Pulver, es besteht aus dem üblichen Betonmix aus Quarz, Kalk und Zement“, erklärt der Wissenschaftler. Von diesen verschiedenenartigen Kristallen werden die Strahlen unterschiedlich stark abgelenkt und gebeugt. Ein Röntgendetektor registriert dies und stellt die gebeugte Strahlung auf einem Bildschirm dar.
Die Kristalle sind unverwechselbar
Wie Herzschlagkurven zucken Linien auf und ab. Milke beobachtet sie detektivisch, dann zeigt er im Gewirr der meist hochschießenden Ausschläge auf ganz flache Zacken. „Hier, klarer Fall, diese Minikurven erzeugen nur echte Mauerstücke“, sagt er. Das sei ihre Signatur. „Sozusagen der Fingerabdruck.“
Aber warum? Das hänge damit zusammen, dass die DDR ja „wohlsortiert“ gewesen sei. Als das Regime 1975 letztmals den Grenzwall rund um West-Berlin und quer durch die Stadt fast komplett erneuern ließ, wurde nur ein genormter Betontyp für die 3,60 Meter hohen Mauersegmente angerührt. Der Zement kam einzig und allein aus den Rüdersdorfer Gruben im Süden Berlins. „Dessen Kristalle“, sagt Milke, „ sind unverwechselbar.“ Nur sie erzeugen im Röntgenstrahl derart flache Zacken wie an der von ihm gekennzeichneten Stelle im Diagramm.
Aber es geht auch einfacher, um Fälschern auf die Schliche zu kommen. Milkes Tipp: Ganz genau hinschauen. Um dies zu illustrieren, legt er zwei Betonbrocken, groß wie Kinderfäuste, auf den Tisch. Beide sind etikettiert als „Originaler Mauerstein“. Aber nur der Linke ist authentisch. Das signalisiert auf den ersten Blick seine leicht gelblich-bräunliche Tönung, die typische Einfärbung des MauerBetons. Der rechte Brocken ist hellgrau wie der Beton heutiger Bauten.
Die Farbe ist immer frisch
Schaut man genauer hin, so fällt am Rand des echten Stücks zudem eine fünf Millimeter tiefe, nachgedunkelte Zone auf, verursachte durch jahrelange Witterungseinflüsse. Der rechte Brocken sieht dagegen rundherum wie neu aus. Er ist zwar mit Farbklecksen besprüht, angeblich von Mauer-Graffities. Doch Milke lacht. „Die Farbe ist bei allen feilgebotenen Mauerstücken frisch aufgebracht.“
Bleibt die Kardinalfrage: Wieviel Prozent der angebotenen Mauersteine sind denn überhaupt echt, Herr Milke? In der Regel authentisch seien die auf Plexiglas geklebten Stücke ab Faustgröße, sagt er. Sie stammten von Händlern, die sich ganze Mauersegmente zum Verwerten sicherten. „Viele kleinere Teile sind dagegen Fälschungen.“ Er zeigt eine Christbaumkugel mit eingeschweißtem Mauersplitter. „Schön hässlich.“ Und zerbröselt mit dem Daumen ein Bröckchen, das zu einem Lesezeichen gehörte. Billigbeton, von Bastlern rasch angerührt. „Hätte die Mauer daraus bestanden, wäre jeder Trabi locker durchgebrochen.“