Hauptverdächtiger im Fall Jonny K.: Der letzte Übergriff liegt nur vier Monate zurück
Nachdem am gestrigen Sonntag die Trauerfeier für den getöteten Jonny K. stattfand, sucht die Polizei noch immer fieberhaft nach dem mutmaßlichen Haupttäter Onur U. (19). Der frühere Boxer, der in der die Türkei geflüchtet sein soll, war schon früher gewalttätig.
Die Fahndung nach den drei noch flüchtigen mutmaßlichen Tätern vom Alexanderplatz läuft auf Hochtouren. Eine heiße Spur gibt es noch nicht, teilte die Staatsanwaltschaft am Sonntag mit. Doch inzwischen wurden Einzelheiten über die bisherige kriminelle Karriere des mutmaßlichen Haupttäters Onur U. (19) bekannt, der sich nach dem tödlichen Angriff auf den 20-jährigen Jonny K. in die Türkei abgesetzt haben soll.
Onur U. wurde in den vergangenen Jahren nach Angaben eines Justizsprechers bereits mehrfach wegen Gewaltdelikten und Nötigung zu Jugendstrafen verurteilt. Dazu gehörten gemeinnützige Arbeit, Jugendarrest oder ein Anti-Aggressions-Training. Er sollte lernen, bei Wut auf Gewalttätigkeit zu verzichten.
Der letzte Übergriff des jungen Deutschen türkischer Herkunft liegt nur vier Monate zurück. Im Juni bedrängte er als Autofahrer einen Radler auf einem Radstreifen so stark, dass dieser beinahe stürzte. Onur U. hielt an, die beiden Männer gerieten in Streit, den U. mit einem Faustschlag beendete. Der Radler erlitt eine Gesichtverletzung. Bei der späteren Gerichtsverhandlung wurde Onur U. noch nach Jugendstrafrecht verurteilt, obwohl er bereits 19 Jahre alt war und sich als Heranwachsender verantworten musste. Er bekam zwei Wochen Jugendarrest, die er in der Arrestanstalt in Lichtenrade absaß. Zuvor war der Mann zwei Mal wegen anderer Gewaltdelikte verurteilt worden. Hinzu kommt eine Jugendstrafe wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz: Onur U. trug ein in Deutschland verbotenes Butterflymesser bei sich, als er von der Polizei überprüft wurde.
Bei der Attacke am Alexanderplatz soll er nach bisherigen Erkenntnissen „die treibende Kraft“ gewesen sein. Die drei bislang gefassten mutmaßlichen Mittäter, zwei 19-Jährige und ein 21-Jähriger, haben ihn in ihren Teilgeständnissen offenbar schwer belastet. Dass er möglicherweise besonders gezielt und heftig zuschlug, könnte mit seiner langjährigen Karriere als jugendlicher Amateurboxer zusammenhängen. Onur U. trainierte erst in der Boxabteilung von Hertha BSC, später beim Verein Schöneberger Boxfreunde 1924, zuletzt im Halbschwergewicht. Er gehörte zum Jugendkader der Amateurboxer, wurde im Leistungszentrum in Hohenschönhausen trainiert.
Nach den Worten seines langjährigen Trainers bei den Schöneberger Boxfreunden, Fred Bergemann, war Onur U. „ein höflicher, netter Junge“. Bergemann sagt: „Als ich las, was ihm vorgeworfen wird, war ich wie vor den Kopf geschlagen.“
Wie berichtet, hatten sechs junge Männer vor zwei Wochen nachts auf Jonny K. eingeschlagen und getreten, als dieser mit Freunden aus einem Club am Alexanderplatz kam. Ihr Opfer starb wenig später, ein Freund, der Jonny K. helfen wollte und gleichfalls attackiert wurde, erlitt leichte Verletzungen. Beide Gruppen kannten sich zuvor nicht.
Staatsanwaltschaft sieht bei mutmaßlichen Mittätern Fluchtpotential
Onur U. lebte bis zur Flucht bei seinen Eltern in Wedding. Treffen die Vorwürfe zu, so hatten alle bisher gegen ihn verhängten Jugendstrafen nicht die Wirkung, die sich der Gesetzgeber davon verspricht. Der kurzfristige Freiheitsentzug im Jugendarrest gilt laut Jugendgerichtsgesetz zugleich als Sanktionierung und als Erziehungsmaßnahme. In Berlin sind die straffällig gewordenen Jugendlichen in Lichtenrade pädagogisch betreut untergebracht. Sie sollen laut Justizverwaltung „durch strukturierte Betreuungsangebote Lebenshilfen erhalten“. Dazu gehören Beschäftigungen bis zur beruflichen Weiterbildung. Das Anti-Aggressions-Training soll nach Angaben der Landeskommission Berlin gegen Gewalt die Hemmschwelle für aggressives Handeln erhöhen und die Jugendlichen befähigen „alternative Konfliktlösungsmöglichkeiten“ zu entwickeln. Inwieweit dies zum Erfolg führt, wird aber aus Sicht von Kritikern noch ungenügend wissenschaftlich ausgewertet. „In den Kursen werden teils unterschiedliche Methoden angewandt, man müsste sich dringend auf bestimmte Standards verständigen und die Evaluierung verbessern“, sagt der rechtspolitische Sprecher der Grünen, Dirk Behrendt. Den Jugendarrest hält er für kaum wirksam: „Da gibt es bundesweit Rückfallquoten von bis zu 80 Prozent.“
Über die Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen die Freilassung des bereits gefassten 21 Jahre alten mutmaßlichen Mittäters wird voraussichtlich in dieser Woche entschieden. Die Staatsanwaltschaft hatte gegen ihn und einen gleichfalls festgenommenen 19-Jährigen Haftbefehle beantragt. In beiden Fällen verhängte ein Haftrichter aber keine Untersuchungshaft mit dem Hinweis, die Männer seien teils geständig und hätten familiäre Bindungen. Aus Sicht der Staatsanwaltschaft ist die Schwere der Straftat dagegen „ein hoher Anreiz zur Flucht.“ Gegen den 21-Jährigen wird wegen Körperverletzung mit Todesfolge ermittelt. Von Mord ist nicht die Rede. Dies würde voraussetzen, dass die Täter vorsätzlich töteten. Das ist nach bisherigen Erkenntnissen nicht der Fall.