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Hohe Rückfallquote. Das Gehirn merkt sich den Rauschzustand – und wie er herbeigeführt werden kann.
©  Daniel Naupold/dpa

Alkoholismus: Der letzte Schluck

Das Stereotyp vom Alkoholiker, der sein Leben nicht im Griff hat, ist fatal. Denn es lenkt ab von den gut geschmierten Trinkern. Die fallen viel weniger auf, suchen aber oft viel zu spät Hilfe.

Die Stimmung ist ausgelassen, lautstark wankt die Touristengruppe aus einer Metal-Kneipe. Dass reichlich Alkohol geflossen ist, verrät nicht nur der instabile Gang, sondern auch der T-Shirt-Aufdruck: „I’m not an alcoholic, alcoholics go to meetings. I’m a drunk, we go to parties“ („Ich bin kein Alkoholiker, Alkoholiker gehen in Selbsthilfegruppen. Ich bin nur besoffen, wir gehen auf Partys). Ohne es vermutlich zu beabsichtigen, bringt der Slogan eine in der Gesellschaft immer noch weit verbreitete Definition von Alkoholismus auf den Punkt: Alkoholiker ist nicht derjenige, der einen gefährlichen Konsum an den Tag legt, sondern derjenige, der damit ein Problem hat. Nicht das regelmäßige Alkoholtrinken, das vom einsamen Feierabendbier bis zum kollektiven Kontrollverlust auf dem Münchner Oktoberfest reicht, nicht der Alkohol, mit dem allein in Deutschland Milliarden verdient werden, stehen in Verruf – sondern der Mensch, der nicht mehr damit klarkommt.

Alkohol wird oft mit Armut assoziiert. Alkoholiker sind die Anderen. Die Außenseiter. Doch diese Zerrbilder trügen, denn Suchterkrankungen sind keine Frage der sozialen Schicht oder der Bildung. Alkoholismus und Drogenkonsum finden mitten in der Gesellschaft statt. Und hinter vorgehaltener Hand hört man viele Beispiele: Vom Chirurgen, der vor der OP von seiner Assistenz den Flachmann gereicht bekommt, damit die Hand ruhig wird. Vom Journalisten, der mit einer Flasche Wein seine Schreibblockade verflüssigt. Vom Regisseur, der morgens schon in einer Cognac-Wolke wandelt. Alles kein Problem – solange die Betroffenen funktionieren und gute Arbeit abliefern.

Ein fatales Stereotyp

Das Stereotyp vom dysfunktionalen Alkoholiker ist deshalb fatal, weil es den Blick auf all die gut geschmiert laufenden Trinker verstellt. Die Folge: Viele Menschen mit einem Alkoholproblem werden von ihrem sozialen Umfeld weitestgehend in Ruhe gelassen und bekommen erst Hilfe, wenn ernsthafte Organschäden wie Leberzirrhose diagnostiziert werden. „Zwei Drittel der Alkoholerkrankten nehmen erst nach 11,8 Jahren Hilfe an“, sagt Darius Chahmoradi Tabatabai, Chefarzt der auf Entwöhnungstherapien spezialisierten Hartmut-Spittler-Klinik in Schöneberg. Das Zerrbild eines suchtkranken Menschen verhindert, dass Betroffene oder Angehörige früh professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Denn niemand möchte so sein wie „die“.

Suchtkranke Menschen werden oft abgelehnt und ausgegrenzt. „Stigmata sind ein Appell an den Menschen mit einer Suchtkrankheit: Dein Verhalten ist nicht akzeptabel, solange du Drogen nimmst, gehörst du nicht zu uns“, sagt Suchtforscher Georg Schomerus vom Universitätsklinikum Greifswald. So soll nicht nur der Suchtkranke wieder auf Linie gebracht werden, sondern auch die Gesellschaft vor schädlichem Verhalten geschützt werden. Und es ist auch eine Warnung an alle anderen: Hier verläuft die Grenze des Akzeptablen. Ausgrenzung als Prävention.

So weit die Theorie. Doch wie sieht es im realen Leben aus? Ortstermin Hartmut-Spittler-Klinik in Schöneberg. Wir treffen Rico (Name geändert). Der 31- Jährige trägt einen eleganten schwarzen Mantel, dazu sportliche Sneaker. Augenringe lassen ihn müde wirken, doch sobald er zu reden beginnt, ist der Blick hellwach. Rico ist seit drei Monaten clean. Der Weg war hart. „Ich kam als gebrochener Mensch in die Entzugsklinik“, erinnert er sich. Manchmal war er 14 Tage am Stück betrunken. „Ich habe mich so geschämt, ich wollte mich nur noch umbringen.“ Versucht hat er es mit Tabletten. Und weitergetrunken hat er, um zu vergessen. Manchmal so lange, bis er umgekippt ist. „Meine Erinnerungen aus dieser Zeit sind ein einziger Strudel, ich kann gar nicht mehr unterscheiden, was real ist und was ich fantasiert habe.“ Tagelang ist er wie vom Erdboden verschluckt.

Ricos Rettungsanker: Familie und Freundin sorgen sich und finden ihn letztlich wieder – auf der Straße liegend. Notaufnahme. Vier Promille. Stationärer Entzug im Wenckebach-Klinikum. „Ohne meine Freundin und meine Familie hätte ich das wohl nicht überlebt“, sagt er. Die Logik der Stigmatisierung ist simpel: Suchtkranke sollen sich für ihre Exzesse gefälligst schämen. Und das tun sie – nur hören sie dadurch nicht automatisch auf zu trinken. Im Gegenteil: Scham heizt den Konsum oft erst richtig an.

Mit 14 fing es an

Wie konnte es dazu kommen? Was hat Rico bloß so ruiniert? „Eigentlich war es der normale Gang“, erinnert er sich. Mit 14 oder 15 zum ersten Mal Alkohol. „Bier hat mir eigentlich gar nicht geschmeckt.“ Aber das Abhängen mit Freunden und die ersten Partys waren gut. Mit 16 der erste Filmriss. Dann folgten durchgemachte Nächte in Berliner Clubs: Amphetamine zum Wachbleiben, Ecstasy für den Spaßfaktor.

Leise eskalierte Ricos Drogenkonsum. Was damals noch unter „mal einen draufmachen“ und „Grenzen austesten“ lief, wurde bald zu seinem steten Begleiter. Rico ist gelernter Koch. Dass nicht wenige Menschen im Gastrogewerbe zu Aufputschmitteln greifen, ist kein Geheimnis. Denn während vorn die Gäste dinieren, herrscht hinten in der Küche oft gnadenloser Stress. „14 bis 18 Stunden in der Küche stehen, die Hitze, der Druck, der extrem harte Umgang untereinander – das hältst du nüchtern nicht lange durch“, sagt Rico. Aber die Drogen – und damit ist hier auch Alkohol gemeint – ließen Rico funktionieren. „Manchmal war ich auf Crystal Meth sieben, acht Tage wach und bin arbeiten gegangen.“

Heute ist Rico zwar abstinent, er bezeichnet sich aber dennoch als „polytox“, also durch zahlreiche Substanzen „vergiftet“. Zu Beginn jeder Suchttherapie müssen diese Gifte erst raus aus dem Körper. Das passiert im Krankenhaus beim sogenannten Entzug. Danach folgt die Entwöhnung in einer Rehabilitationsklinik. „In der Reha geht es darum, Menschen mit einer Suchterkrankung wieder die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen und ihnen ein Leben ohne Drogen aufzuzeigen“, sagt Alexander Stoll, Leitender Oberarzt der Hartmut- Spittler-Klinik.

„Besonders dankbar bin ich meiner Psychotherapeutin“, sagt Rico. „Die Gespräche helfen mir, mich selbst besser zu verstehen, besonders meine ersten drei Lebensjahre“, sagt er. Denn Ricos Start ins Leben war alles andere als einfach. Der Vater, schwerer Alkoholiker, schlug die Mutter, brach ihr im Rausch die Rippen. Sie floh mit den Kindern vor dem Tyrannen. Bloß weg. Doch wohin? Schutzräume, wie Frauenhäuser, gab es in der DDR nicht. Und so gab die Mutter – in ihren jungen Jahren vollkommen überfordert von der Gewalt – die Kinder in Obhut. Rico, damals erst drei Jahre alt, verbrachte ein dreiviertel Jahr in einer Pflegefamilie. „Unsere Mutter hat uns besucht, wenn sie konnte“, sagt er. Sie habe das Beste aus ihrer Situation gemacht, sagt Rico rückblickend. Der Vater trank währenddessen weiter, bis zur Hirnblutung.

In der Gruppe zu reden, kann befreiend sein

Hohe Rückfallquote. Das Gehirn merkt sich den Rauschzustand – und wie er herbeigeführt werden kann.
Hohe Rückfallquote. Das Gehirn merkt sich den Rauschzustand – und wie er herbeigeführt werden kann.
©  Daniel Naupold/dpa

Ein weiteres wichtiges Therapieelement sind Großgruppen, in denen montags und freitags alle Patienten der Hartmut-Spittler-Klinik zusammenkommen. Hier kann alles angesprochen werden, was auf der Seele brennt: Konflikte mit Angehörigen, Rückfälle, aber natürlich auch Erfolge, die erreicht wurden. „Ziel ist, eine therapeutische Gemeinschaft zu bilden, in der sich die Patienten auch gegenseitig in ihrer Abstinenz unterstützen“, sagt Stoll. Während die Einzelgespräche mit den Therapeuten oder in Kleingruppen noch geschützte Räume sind, ist die Großgruppe quasi die Bühne. Hier zu sprechen verlangt Mut, Einsicht und Selbstbewusstsein. Wer es hier schafft, zu sagen: Ja, ich habe ein Alkohol- oder Drogenproblem, der ist einen großen Schritt weiter.

Wie befreiend diese Erfahrung sein kann, hat auch Rico erlebt: „Das Reden vor der Großgruppe, mir vor so vielen Menschen einzugestehen, dass ich bereit war, zu sterben, das hat mir ungemein geholfen“, sagt er. „Wenn man sich in der Großgruppe öffnet und seine Geschichte erzählt, heult oft jemand mit. Menschen, die du vielleicht gar nicht so gut kennst, finden sich in dir wieder. Und dann merkst du, dass du mit deinen Problemen nicht allein bist.“ Aber obwohl Rico schon viel geschafft hat, musste er auch immer wieder Rückschläge hinnehmen. Mehr als einmal griff er wieder zur Flasche. Wie gehen Suchtkliniken damit um, wenn ein Patient während der Entwöhnung rückfällig wird und wieder zur Droge greift? Immerhin, die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls ist nicht gering: „Etwa 60 Prozent der Patienten konsumieren nach ihrer Entlassung früher oder später wieder“, sagt Chefarzt Tabatabai.

Das Hirn erinnert sich, wie der Zustand herbei geführt werden kann

Der Grund für diese recht hohe Rückfallquote ist das Suchtgedächtnis: Durch Alkohol und andere Drogen werden im Gehirn Botenstoffe, vor allem Dopamin, ausgeschüttet oder so manipuliert, dass sie länger an den Synapsen, also den Verbindungsstellen der Nervenzellen, wirken. Es kommt zu einer Art Neurotransmitter-Kick, der das Belohnungszentrum extrem stimuliert. Wir sind high, wach und glücklich. Das Gehirn merkt sich diesen Zustand – und natürlich, wie er herbeigeführt werden kann. Problem: Nichts im abstinenten Leben schüttet so viel Glücksbotenstoffe aus wie ein Drogenrausch. „Sie könnten fast gleichzeitig ein opulentes Festmahl verzehren, guten Sex haben und dazu noch eine Zigarette rauchen – sie würden nie an den Kick herankommen, den ihnen Amphetamine, Ecstasy oder Heroin geben“, sagt Stoll. Die Versuchung, sich dem Rausch noch während einer Entwöhnungstherapie wieder hinzugeben, ist also groß. Einige Entzugskliniken versuchen solche Rückfälle mit rigorosen Maßnahmen zu unterbinden: Ausgangssperren, Kontaktverbote, Leibesvisitationen, bei Verstößen droht der Rauswurf. Gerade für Patienten, die ihrem Suchtdruck nur wenig entgegensetzen können, können Regeln und Kontrollen eine Entlastung sein und so die Abstinenz unterstützen.

Doch es gibt auch hochmotivierte Patienten, die solche Maßnahmen als großen Eingriff in ihr Selbstbestimmungsrecht empfinden. Sanktionen werden daher von Suchttherapeuten zunehmend kritisch gesehen: „Wir haben nicht das Recht, suchtkranke Menschen für irgendetwas zu sanktionieren“, sagt Oberarzt Stoll. Nach einem Rückfall empfehle man stattdessen eine erneute Entgiftung, um den Körper von den Drogenrückständen zu befreien. Anschließend reflektiere man die Eskapade im gemeinsamen Therapiegespräch. „Wir halten nichts von einem ,Schuld-und-Sühne-Sanktionsspiel’, in dem ein rückfällig gewordener Patient reumütig sein Fehlverhalten zugibt, von den Ärzten gescholten wird und das war es dann“, sagt Chefarzt Tabatabai.

Doch was ist mit der Gefahr, die vom Rausch ausgeht? Rico hat die hässliche Fratze des Alkohols schon sehr früh kennengelernt. „Ich war zu jung, um mich daran bewusst erinnern zu können, aber ich bin mir sicher, dass die Schläge gegen meine Mutter tief in meinem Unterbewusstsein stecken und ich deshalb heute auch so harmoniebedürftig bin“, sagt er. Aber er konnte auch anders – wenn er getrunken hatte, war es vorbei mit der Harmonie. „Ich wurde oft verbal sehr eklig und einmal habe ich meine Freundin, als sie mir ein Bier wegnehmen wollte, so fest am Handgelenk gepackt, dass sie danach blaue Flecken hatte“, sagt er.

Der Zusmamenhang zwischen Alkohol und Gewalt ist offensichtlich

Suchterkrankungen sollten seder stigmatisiert noch verharmlost werden. „Der Zusammenhang zwischen Alkoholintoxikation und Gewalt ist offensichtlich“, sagt Suchtforscher Georg Schomerus. Auch Tabatabai und Stoll ziehen beim Thema Gewalt eine rote Linie: „Wenn ein Patient durch einen Rückfall seine Familie oder andere Menschen gefährdet, dann sagen wir ganz deutlich, dass dieses Verhalten inakzeptabel ist“, sagt Tabatabai.

Alkoholiker machen noch immer vielen Menschen Angst und treffen auf Ablehnung. Laut den Zahlen des Suchtforschers Schomerus fühlen sich 42 Prozent in der Gegenwart eines Menschen mit Alkoholabhängigkeit unwohl. 61 Prozent würden einem Alkoholiker kein Zimmer vermieten, 81 Prozent ihm keine Kinder anvertrauen. „Keine andere psychische Erkrankung wird so stark stigmatisiert“, so Schomerus. Denn im Gegensatz zu Menschen, die an einer Depression oder Schizophrenie leiden, würden Menschen mit einem Suchtproblem oft nicht als krank, sondern als „selber schuld daran“ betrachtet.

Rico hat jedoch gelernt, offener und souveräner mit seiner Erkrankung umzugehen. „Während der letzten Party unseres Schrebergartenvereins habe ich einfach erzählt, warum ich nicht mittrinke und habe dafür viel Verständnis erhalten, ohne dass ich das Gefühl hatte, bemitleidet zu werden.“ Solche Gespräche stärken das Selbstbewusstsein und helfen, Vorurteile abzubauen. Stereotype und Ängste entstehen oft aus dem Unbekannten. Rico ist also auf einem guten Weg. Er weiß aber, dass noch immer alles auf dem Spiel steht und er wachsam bleiben muss, sein Leben lang. „Ich habe Angst davor, dass der nächste Rückfall mein letzter sein könnte, weil ich ihn nicht überlebe“, sagt er. Er weiß aber auch, dass noch nichts verloren ist. „Es ist noch alles da, noch halten Familie und Freundin zu mir.“ Und er träumt von einer besseren Zukunft. „Ich möchte Vater werden und meinen Kindern eine intakte und glückliche Familie bieten.“

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