Interview mit Städteforscher Charles Landry: „Der Holzmarkt steht für neue Lebensformen“
Das alternative Bauprojekt in Friedrichshain könnte scheitern, dabei ist es für Berlin enorm wichtig – sagt der Erfinder der „kreativen Stadt“, Charles Landry.
Charles Landry, ein Brite mit deutschen Wurzeln, hat das Konzept der „kreativen Stadt“ erfunden. Er berät weltweit Stadtplaner, wie sie lebendige Quartiere schaffen können. Für Landry ist das von der Pleite bedrohte Holzmarkt-Quartier in Friedrichshain ein Symbol für das innovative Potenzial Berlins, mehr wert als ein Google-Campus in Kreuzberg. Mit Landry sprach Thomas Loy.
Worin sehen Sie persönlich die Ursache für die Probleme am Holzmarkt?
Das ist sicher ein Bündel an Gründen. Das ist auch kulturell nicht einfach, wenn ein Projekt wie der Holzmarkt auf eine Verwaltung trifft. Da sind in so vielen Jahren sicher auch mal Leute aneinandergeraten. Aber im Kern sehe ich zwei wesentliche Aspekte. Ein soziales Unternehmen, das hybrid ist, mit einigen Bereichen Geld verdient, andere hingegen subventioniert, ist ungewöhnlich. Bisher kämpft der Holzmarkt übrigens hauptsächlich mit Schulden. Wichtiger aber noch: Der Holzmarkt steht für neue Lebensformen, die sich erst langsam Bahn brechen. Die sind noch kein Allgemeingut, schon gar nicht in Gesetzestexten, mit denen Beamte nun mal arbeiten müssen.
Wie sehen diese neuen Lebensformen am Holzmarkt aus?
Beim Holzmarkt sind die privaten Räume sehr klein, aber der öffentliche Platz ist sehr groß. Das ist genau das, was die besten und neuesten Hotels machen. Das Eckwerk mit seinen Coworking-Bereichen ist auch so konzipiert. Arbeiten und Leben gehören zusammen, Millionen Leute machen das schon, warum will man das an diesem Ort verbieten? Warum nicht Vielfalt und Diversität von Entwicklungsformen unterstützen? Am Holzmarkt gefällt mir, dass er nicht nur auf die Profitmaximierung ausgelegt ist – daraus ergeben sich ungeheure Möglichkeiten, auch Geschäftsideen zu verwirklichen, die erst auf längere Sicht eine Rendite abwerfen.
Aber Investoren geben ihr Geld doch lieber in klassische Büro- oder Apartmenthäuser, in denen jeder Quadratmeter optimal ausgenutzt wird.
Schlaue Investoren denken da schon weiter. Ich bekam vor Kurzem einen Anruf von einer großen Unternehmensberatung. Die Berater suchten nach Argumenten, wie sie Investoren aus Dubai ihre riesigen Hotel- und Bürotürme ausreden können. Mit Projekten wie am Holzmarkt kann man inzwischen durchaus auch Geld verdienen, es geht nur darum, will ich zehn bis zwanzig Prozent Rendite machen oder gebe ich mich mit fünf bis neun zufrieden, langfristig ist vielleicht fünf bis neun Prozent besser.
Genau das hat ja die schweizerische Abendrot-Stiftung bewogen, das eigentlich sehr teure Grundstück am Holzmarkt zu kaufen und den Holzmarkt-Leuten zur Verfügung zu stellen.
In vielen anderen Stiftungen macht man das inzwischen ähnlich. Und viele Leute bewundern, dass in Berlin Objekte aus der klassischen Verwertung herausgenommen werden. Dass es möglich ist, einen Upper-West-Side-Turm zu haben, aber auch eine Alte Malzfabrik oder ein Yaam. Es gibt international eine Sehnsucht nach solchen Entwicklungen, auf jeder Ebene, auch in den Thinktanks der Europäischen Kommission. Es ist eigentlich unglaublich, wie stiefmütterlich man den Holzmarkt behandelt, der für Berlin eine große Bedeutung hat.
Was passiert denn, wenn ein alternatives Baukonzept auf eine klassische Bürokratie stößt, die entlang ihrer gesetzlichen Vorgaben entscheidet, Lärmschutz, Brandschutz und Abstandsflächen einfordert wie andernorts auch?
Es geht immer um Lärmschutz und Parkplätze, wenn Bauprojekte nicht vorankommen. Das sind die klassischen Klischees, die Visionen verhindern. Anstatt zu fragen: Was ist eure Idee? Über Lärmschutz reden wir später. Aber selbst Berlin kann Probleme lösen, etwa wie beim Siemens-Innovationscampus. Dort gab es Einwände vom Denkmalschutz. Abgesehen davon glaube ich, dass der Streit eher um Nutzungen geht. Will ich Räume für intelligentes Coworking schaffen oder sollen Sozialwohnungen entstehen? Was ich nicht verstehe: Warum insistieren die Politiker nicht bei anderen Bauprojekten an der East Side Gallery oder am Alexanderplatz auf Sozialwohnungen? Ausgerechnet an einem der symbolischen Projekte des anderen Berlin bestehen sie auf solche Vorgaben. Haben sie Angst vor großen Investoren wie Warren Buffett, Anschutz oder der Bank Paribas?
Die haben wahrscheinlich größere Rechtsabteilungen als der Holzmarkt. Wie kreativ könnte eine Bürokratie mit alternativen Planungsideen umgehen?
Letztlich muss sich die Bürokratie erneuern. In Dänemark gibt es ein Innovationszentrum, in dem sich Verwaltungen genau mit solchen Fragen beschäftigen. Bei der UN gibt es ein Projekt mit dem Titel: Hacking Bureaucracy – eine Art Anleitung, wie Beamte ihr eigenes bürokratisches System kreativ aufbrechen können. Es geht darum, einen Mentalitätswechsel einzuleiten, weg von: „Nein, das geht nicht, weil...“, hin zu: „Ja, das geht, wenn...“ Wenn Dinge immer nur verboten werden, machen die Leute das einfach im privaten Bereich und stellen keine Anträge mehr.
"Google würde die Atmosphäre versauen in Kreuzberg"
Vielleicht hatten die Holzmarkt-Leute zu sehr ihre alte Bar 25 mit den schiefen Holzhütten im Kopf, als sie anfingen, den Holzmarkt und das Eckwerk als dauerhaftes Projekt zu planen.
Das glaube ich nicht. Das Eckwerk ist eine Sache, die clever ist, die leisten sich alle möglichen Spleens, bei denen auch Geld verbrannt wird, allein die Hütten auf so teurem Baugrund, aber das Restaurant macht Geld, der Club auch. Was ist das Ziel? Eine Form von Entwicklung, die nach anderen Prinzipien funktioniert. Nach kapitalistischen Prinzipien macht das keinen Sinn, aber es bringt der Stadt einen Wert darüber hinaus. Sonst hätten all diese Orte wie die Malzfabrik in Schöneberg, das Kulturquartier Silent Green in Wedding oder das Radialsystem in Friedrichshain nicht so viel Resonanz. Diese Orte machen doch Berlin aus. Oder der Klunkerkranich in Neukölln, ein Gartenprojekt mit Familiencafé und Club auf dem Parkdeck eines Shoppingcenters. Ich weiß, dass dort viele bürokratische Fragen im Gespräch mit den zuständigen Politikern, sagen wir mal, „kreativ“ geregelt wurden.
Sie kennen viele Großstädte in der Welt. Wo steht Berlin in Sachen Zukunftsfähigkeit, städtebauliche Kreativität, neue Formen des Wohnen und Arbeitens?
Berlin bietet kulturellen Experimenten Raum, die vielleicht mal zum Mainstream gehören werden, in 20 oder 30 Jahren. In Bereichen wie Nachhaltigkeit, Fahrradfreundlichkeit oder Nutzung von intelligenten Technologien steht Berlin nicht in der Spitzengruppe, sondern eher Städte wie Kopenhagen und Helsinki. Etwa Technologien, die ermöglichen, dass Bürger bei Meetings ihrer Politiker zuschauen können und auch die Papiere lesen können, die vor ihnen liegen, wenn sie Entscheidungen treffen. Da geht es um Transparenz, Zugang zu Daten und die Stärkung der demokratischen Kultur.
Was bedeutet die Vertreibung von Google aus Kreuzberg durch eine sich ebenfalls als kreativ und alternativ verstehende Gruppe von Bewohnern?
Diese Leute sind auch gegen das, was der Holzmarkt sein will. Auf der einen Seite mache ich mir Sorgen um Berlin, auf der anderen Seite mache ich mir überhaupt keine Sorgen, weil die Resonanz und die Zugkraft der Stadt so stark sind. Okay, man hat Google verloren, aber man hat den Siemens-Campus gewonnen. Vielleicht hätte der Senat sich einmischen sollen und sagen: Google, wir wollen dich, aber nicht in Kreuzberg.
Aber Google wollte nicht woandershin, sondern unbedingt nach Kreuzberg. Genau wie andere Firmen, die aus dem kreativen Potenzial der widerspenstigen Szene schöpfen wollen.
Es ist klar, dass die Mieten steigen, wenn Google einzieht, das hat man auch in Dublin gesehen. Wenn ich mich entscheiden soll zwischen einem klaren Ja oder Nein, dann sage ich: Ich habe nichts gegen Google, aber das Unternehmen würde die Atmosphäre versauen in Kreuzberg. Darüber gibt es keinen Zweifel. Ich hätte Google gesagt: Geht doch dorthin, wo es noch rau und hip zugleich ist, nach Rummelsburg oder so.
"In Deutschland beharrt man sehr auf dem Rechtsstaat"
In Kreuzberg hat man auch Angst vor noch mehr Touristen. Was kann man dagegen tun?
Die Proteste werden wachsen, das ist klar. In Barcelona, Lissabon oder Venedig sehen wir das schon. Die Städte müssen lernen, Nein zu sagen. In Amsterdam vermeiden es die Bewohner, ins Stadtzentrum zu gehen. Sie haben es an die Touristen verloren. Ich weiß nicht, wie konkrete Lösungen aussehen können. Airbnb zu beschränken, kann schon mal helfen. Es geht darum, den bislang unkontrollierten Tourismus zu lenken. Als ich jung war, durfte man nur 50 britische Pfund mit ins Ausland nehmen, nur mal als Beispiel.
In Berlin strebt der Senat inzwischen radikale Veränderungen an, beim Verkehr, bei der Digitalisierung der Bürokratie, aber in der Umsetzung geht es unheimlich langsam voran. Woran liegt das?
Ich habe das Gefühl, das das Problem komplexer ist als in anderen Städten, vielleicht liegt das an der Geschichte Berlins. Der Flughafen-Chef hat kürzlich bei uns auf dem Creative Bureaucracy-Festival gesagt, die hochgelobten deutschen Ingenieure hätten sich in ihren jeweiligen Bereichen so ausdifferenzierte Normen geschaffen, dass das Zusammenspiel nicht mehr funktioniere. Da scheitert dann Theorie in der Praxis. Hinzu kommt: Wir sprechen schon seit 30 Jahren über integrierte Stadtplanung. Ich habe das Gefühl, dass die Säulen der Verwaltung, diese Königreiche, hier sehr stark sind. Ein Beispiel: Wer bewertet, wie eine Straße umgebaut werden soll, ist das nur die Verkehrsbehörde? Warum gibt es keine Behörde für die Menschen, die die Straße nutzen werden? Wenn die Menschen-Behörde so viel Einfluss hätte wie die Verkehrsbehörde, würde die Straße wahrscheinlich anders aussehen. In Deutschland beharrt man sehr auf dem Rechtsstaat, andere Länder sind da flexibler. Das Image der Bürokratie ist leider eher negativ, daher ist es auch schwierig neue Talente anzulocken, die nicht nur Gesetze zitieren, sondern eher danach fragen: Was ist der Sinn eines Gesetzes?
Charles Landry wurde 1948 in London geboren, seine Eltern waren vor den Nazis aus Berlin geflüchtet. Landry hat in München sein Abitur gemacht, heute lebt er bei London
Der Streit am Holzmarkt
Die Holzmarkt-Genossenschaft fordert Schadensersatz vom Land in Millionenhöhe, weil es für das Eckwerk-Projekt nach fünf Jahren Planung immer noch kein Baurecht gibt. Auch mit der städtischen Gewobag, die als Projektpartner gewonnen wurde, haben sich die Genossen überworfen. Das Eckwerk besteht aus fünf Holzhochhäusern. Darin sollten kleine Wohnkapseln für Studenten mit großzügigen Gemeinschaftsräumen verbunden werden, in denen gearbeitet, gegessen und gefeiert werden kann. Es sollte keine Mietzahlung nach Quadratmetern geben, sondern eine Nutzungspauschale. Die renommierten Architekturbüros Graft und Kleihues haben die Gebäude entworfen. Weil die Genossen viel Geld in die Eckwerk-Planung gesteckt haben, aber nicht mehr über das Grundstück verfügen können, droht ihnen die Pleite. In einem Vermittlungsverfahren, das über drei Monate läuft, soll jetzt ein Ausweg aus der verfahrenen Situation gefunden werden. Verbindlich sind die Vorschläge dieses unabhängigen „90-Tage-Rats“ aber nicht.