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"Achtung, in 170 m endet West-Berlin": Mitten durch den Groß-Glienicker See verläuft die Grenze zur DDR. Am gegenüberliegenden Ufer sind Grenzbefestigungen zu sehen. Das hält die West-Berliner nicht von ihren Badefreuden ab (undatierte Aufnahme). Heute sieht es anders aus.
© picture alliance / Günter Bratke

Zeitreise in das Berlin von 1990: Der erste Sommer der Freiheit

Rübergemacht im Bikini: Vor 25 Jahren gab es gesamtdeutschen Badespaß. Unsere Autorin hat sich auf eine Zeitreise begeben in die Hitze Berlins von 1990.

Die Geschichte bleibt lebendig, auch hier am Glienicker See, durch den einst die Grenze lief. Hier die DDR, da West-Berlin. Auch Diana Köhn-Bengui kann sich auf ihrem Badehandtuch noch erinnern. „Komisch, aber heute ist mir das mit dem früher geteilten See eingefallen“, sagt die 43-jährige Spandauerin, während ihre zehnjährige Tochter Joelma an einer Sandburg baut. 1989 noch hatten Grenz-Bojen mitten auf dem Wasser, Todesstreifen und Mauer die Menschen in Bikini und Badehose, West und Ost getrennt. Dann kam der Mauerfall im nasskalten Herbst und schließlich der erste Sommer der Freiheit 1990. Ein Vierteljahrhundert danach wissen viele Berliner noch genau, wie das damals so war. „Mein Mann und ich haben mit dem Auto das Umland erkundet. Da waren die Straßen teils noch grottig schlecht und es gab leider kaum Restaurants zum Einkehren“, erinnert sich Gabriele Weidemann. Die 56-jährige wohnt in Spandau, aber heute hat sie ihr Stühlchen da aufgebaut, wo früher in Groß Glienicke der Todesstreifen war und man gar nicht hinkam. „Hier ist es stiller als an der Spandauer Uferseite, da sind so viele laute Jugendliche, deswegen bin ich hier.“

1990: Liefernotstand. Es gibt kein Eis und Bier mehr

Heute holen sich in Groß Glienicke Ex-Ost an der „Seeperle 7“ Eis, Kaffee oder Snacks. Die waren im Freiheitssommer 1990 in Berlin oft ausverkauft, und es gab auch in anderen Bereichen Mangel. „Versorgungsengpässe von West-Händlern beklagt“, schrieb der Tagesspiegel im August vor 25 Jahren. Bier, Eis oder Süßwaren konnte der Großhandel nicht mehr pünktlich liefern.

Erinnerung an das, was mal war: Schild nahe dem Groß-Glienicker See.
Erinnerung an das, was mal war: Schild nahe dem Groß-Glienicker See.
© Annette Kögel

Die Berliner standen häufig vor leeren Regalen und mussten lange anstehen. „Der Grund für die im Westen ungewohnte Situation ist offenbar die enorme Nachfrage aus Ost-Berlin und dem DDR-Umland“, hieß es weiter. Da versuchten auch Spandauer Einzelhändler, wenigstens die Neugier der Ostdeutschen auf westdeutsches Bier zu befriedigen. Kein Wunder, auf Platz eins der deutschen Musikcharts war schon im Frühjahr 1990 ein Interpret namens Werner Wichtig mit dem vielsagenden Stimmungs-Hit: „Pump ab das Bier“. Ost, West, das vermengt sich inzwischen auch am Groß Glienicker See zum großen gemeinsamen Wir. Ebenfalls auf der früheren DDR-Seite sitzen Matthias Forchert, 56, und Susanne Wessel, 50, kuschelnd auf ihrem Badetuch. Die Bankangestellte kommt extra aus Lankwitz zu dem heute fast kristallklaren See – früher flossen hier Schadstoffe aus alten Armee- und LPG-Restbeständen ein. Ihr Lebensgefährte ist gebürtiger Spandauer, Leitwartenmitarbeiter am Flughafen Tegel und in Falkensee zuhause. Im Sommer 1990, sagt er grienend, da trug er noch Oberlippenbart.

Die Mutprobe: Zu den Grenzbojen schwimmen

Und „früher als Junge bin ich als Mutprobe von der West-Berliner Seite zu den gelben Grenzbojen geschwommen“. Passiert sei nie was, auch wenn Kindern hier immer wieder erzählt wurde, dass es ein Schnellboot der DDR-Grenzer gebe. Am 22. Mai 1963 ist dann doch was passiert, da berichtete der Tagesspiegel: „Grenzposten zogen Leiche aus dem Glienicker See“. Die „sowjetzonalen Grenzpolizisten“ haben den Flüchtling, der wohl „über den See nach West-Berlin schwimmen wollte“, an der „Zonengrenze des Bezirks Spandau geborgen“. Ein Glück sind die Zeiten längst vorbei, sagt Susanne Wessel. Sie ist im Sommer 1990 „auf Landpartie“ nach Brandenburg gefahren – und hat sich endlich in Bad Kösen anschauen können, wo ihre Mutter aufgewachsen ist. „Das war ein Gänsehautgefühl.“

Früher ließ die Wasserqualität wegen Einleitungen auf dem Gebiet der Ex-DDR zu wünschen übrig, heute leuchtet der Groß Glienicker See (hier das Spandauer Ufer) bei Sonne fast türkis und ist auch Eldorado für Taucher . Und natürlich für Burgenbauer und Kinder, wie hier die kleine Joelma. Sie war mit ihrer Mutter Diana Köhn-Bengui auf Badeausflug.
Früher ließ die Wasserqualität wegen Einleitungen auf dem Gebiet der Ex-DDR zu wünschen übrig, heute leuchtet der Groß Glienicker See (hier das Spandauer Ufer) bei Sonne fast türkis und ist auch Eldorado für Taucher . Und natürlich für Burgenbauer und Kinder, wie hier die kleine Joelma. Sie war mit ihrer Mutter Diana Köhn-Bengui auf Badeausflug.
© Annette Kögel

Eine Emotion, wie sie die Berliner in beiden Stadthälften schon vereinte. „Wahnsinn“ war das meistgebrauchte Wort dieser Zeit. Es war ein Gefühl der Anarchie, die Überzeugung, dass alles im Leben möglich sein kann, wenn so etwas Unfassbares wie das Ende der DDR geschehen kann. Mit dem Motorrad cruisten damals viele neugierig rüber in den wilden Osten, mit dem Fahrrad war das wegen der Holperwege schon schwieriger. Auf Weddings Straßen standen damals „Ossis“ neugierig vor den Fensterscheiben der Döner-Läden. Viele West-Berliner fühlten sich damals Berlins Türken wesentlich näher und verbundener als den Deutschen aus dem anderen Deutschland.

Alle summten mit: Another day in paradise

Viele Jugendliche, die heute am Groß Glienicker See auf der Berliner Seite vom Bus runter ans Wasser laufen, im Wasser rumalbern und mit Gleichaltrigen flirten, können sich so etwas kaum mehr vorstellen. Sie schwimmen, als wäre es das Normalste der Welt, um die Inseln im See herum, sitzen beim Sonnenuntergang mit Bier-Lemmon im Sand.

Da hat es heute übrigens nach wie vor der alte Westen besser, der hat länger Sonne beim Baden, auf der alten DDR-Seite ist es schon schattig. Also jetzt rübermachen auf die Spandauer Seite des Groß Glienicker Sees, um den sich schon lange der Streit um einen Uferweg rankt. Im alten Westen, im südlichen Spandauer Ortsteil Kladow, gibt es eine DLRG-Station, eine Tauchbasis, eine neue Gaststätte am Wasser, es ist also etwas kommerziell belebter. Rübermachen. Das war für Ost-Berliner im Sommer der Freiheit endlich möglich. Der meistgehörte Hit, mit dem die Deutschen ins Wiedervereinigungsjahr 1990 gingen, war „Another day in Paradise“, ein Song von Phil Collins.

"Wessis" beziehungsweise "Bundis" vermissen noch den Service

Nun nutzten viele Ost-Berliner die neue Reisefreiheit und fuhren mit dem Trabi, wenn sie einen hatten, in die „BRD“ oder in die Sommerferien nach Österreich. Europäische Reisebüros verzeichneten einen erheblichen Rückgang bei den Reisen nach Osteuropa, die DDR-Bürger wollten da nicht mehr hin. Und „Westler“ fanden laut Tagesspiegel „allen Unkenrufen zum Trotz“ überall auf Rügen Zettel mit „Zimmer frei“. So viele Westler machten noch gar nicht im Osten Urlaub, den die „Bundis“ vermissten den gewohnten Service. Andere, die auf Fischland-Darß wild zelten wollten, wurden erst am Feldrand von Vopos und dann am Strand von den Suchlichtern eines Schiffes vertrieben. Nichts mit campen in uriger Wildnis wie in den USA.

Östlich davon liegt ja Sibirien, und das kennt Albert Kromm gut. Der 73-jährige russlandstämmige Wahl-Spandauer mit deutschem Pass packt auf der Spandauer Seite des Groß Glienicker Sees sein Badehandtuch ein. Wo der Neurochirurg den ersten Sommer der Freiheit verbracht hat? „In Mosambiks Hauptstadt Maputo, da habe ich Kugeln aus den Opfern des Bürgerkriegs herausoperiert.“ Die abendliche Fahrt geht zurück vom global besuchten, Ost-West-vermischten alten Grenzsee rein in die Stadt. An den alten Checkpoint Charlie. In die Beachbar, auf dem alten Todestreifen. Da spielt einer an der Gitarre am verglühenden Lagerfeuer romantische Folksongs. Die Sommer der Freiheit, sie sollen nie vergehen.

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