Berlinale-Kolumne: Der Applaus des Publikums klang nicht vorgetäuscht
Polyamorie, Sex und Höhepunkte: Der Frühling liegt in der Luft und auf der Berlinale geht es vogelwild zu. Eine Kolumne.
Hey, es ist Frühling! Auf der Berlinale wird so vogelwild gevögelt, dass man als Zuschauer ins Flattern kommt. Wenn man dem Eröffnungsfilm der „Perspektive Deutsches Kino“ glauben darf, wartet auf uns alle ein erfülltes Sexleben in vielen unterschiedlichen Stellungen und Partnerkonstellationen. Das gibt auch Tränen, denn offene Beziehungen bergen nicht nur offene Arme und Beine, sondern auch offene Fragen. Die wichtigste stellt eine Protagonistin von „Easy Love“ ihrem Freund: „Wie kann ich mich mit Dir frei fühlen?“ Der Film ist ein Glanzpunkt, nicht nur wegen der Höhepunkte.
Hier spielen keine Schauspieler das Leben nach, sondern menschliche Paare, Dreiecke und Vierecke aus Düsseldorf sich selbst, ihre Sehnsüchte, Ängste. Der Applaus des Publikums klang nicht vorgetäuscht. Sondern nach dem Wunsch der alten Frau in dem New Yorker Restaurant im wahrsten Liebesfilm aller Zeiten: Harry und Sally. Die Dame sagt nach Sallys legendärem vorgespielten Orgasmus zur Bedienung: „Ich will genau das, was sie hatte.“
Noch stöhner kommt es bei der Berlinale am Montag – da gastiert Erika Lust im Babylon. Sie hat mich schon zu einem Interview eingeladen.
Ausgelutschte Melonen am Pool
Erika Lust ist eine Erotikfilmerin aus Barcelona; laut ihrer Agentur produziert sie „sex positive Erwachsenen-Filme, die sexuell intelligente Handlungsstränge, natürliche Charaktere und realistischen Sex portraitieren“. Zur Vorbereitung hab ich mir ein Video zusenden lassen aus ihrer Reihe X-Confessions. Da kommt ein Pärchen in ein verlassenes Ferienhaus, in dem eine Frau am Pool wartet, die Melonen auslutscht, und ein Mann am Grill die Würstchen wendet – er hat lediglich eine Schürze an; also am Anfang.
Mir scheint das eine realistische Darstellung meines nächsten Spanien-Urlaubs zu sein.
Und sonst so? Über den Dächern Berlins habe ich entdeckt, wie Filme bereits mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz produziert werden. Zu sehen sind zunächst in einer leeren Halle kämpfende Neuzeitritter, denen ein Computer später die Umgebung hinzufügt: Wasserfälle, Armeen, was Filmritter so brauchen. Vielleicht brauchen wir bald gar keine Schauspieler mehr, um uns gegenseitig was vorzuspielen. Dann wischen wir die Emotionen vom Bildschirm und nicht die Tränen aus dem Gesicht. Den Frühling in Berlin werde ich allerdings vermissen.
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Robert Ide, Berlin-Chef beim Tagesspiegel und großer Kino-Fan, schreibt für den Tagesspiegel jeden Tag seine neue Berlinale-Kolumne - auch auf der Titelseite. Titel: "Im Film mit Robert Ide". Er löst damit Harald Martenstein ab, der seit 1990 die Berlinale als Kolumnist begleitet hat. Hier lesen Sie Martensteins Bilanz im Tagesspiegel.
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