Tod am Alex: Der Alexanderplatz macht Angst
Durchgangsstätte, ewige Baustelle – und jetzt ein Schreckensort. Am Sonntagmorgen wurde auf dem Alexanderplatz ein 20-Jähriger tot geprügelt. Einfach so. Schon lange haben viele Angst vor diesem städtischen Areal, obwohl hier eigentlich wenige Straftaten passieren.
Sie streift sich die langen roten Haare aus dem Gesicht. Die junge Frau aus der Nachbarschaft. „So eine Feigheit“, sagt sie. „Sie waren so viele und er nur einer.“ Behutsam legt sie eine weiße Rose vor flackernden Kerzen auf dem Gehweg ab. Sie schiebt die Blätter mit den Fingerspitzen zurecht, so dass man den Brief darunter noch lesen kann. „Unfassbar“ steht in großen dunklen Buchstaben auf dem kleinen Stück Papier. Das Wort „Unbegreiflich“ auf einem anderen.
Die Blumen, die Kerzen und Botschaften vor einem Eiscafé markieren ungefähr den Ort, an dem am frühen Sonntagmorgen Jonny K., ein 20-jähriger Berliner, tot geprügelt worden ist. Nach den Tätern wird derzeit mit Hochdruck gesucht. Und nach Antworten auf die Frage: Warum der Alexanderplatz? Erst kürzlich war dort ein junger Mann niedergeschossen worden. Ist es dieser ewig unvollendete Platz im Herzen Berlins, der die Gewalt heraufbeschwört? Was führt zu dieser Enthemmung?
Am Alex, wie die Berliner diesen Ort nennen, treffen sich die Welten. Etwa 300.000 Menschen passieren Tag für Tag das weitläufige Areal, von dem niemand sagen kann, wo genau es anfängt, der Alexanderplatz zu sein, und wo es endet. Die Rentnerinnen in den schicken Mänteln und dauergewellten Haaren, die Punks in den zerrissenen Jeans, sie alle bevölkern es. Und nichts stimmt. Die Punks grölen „Sieg Heil“, als ein Polizeiauto an ihnen vorbeirollt. An der Weltzeituhr klebt eine Vermisstenanzeige. Jugendliche schreien. Glas geht zu Bruch. Aus den Blumenrabatten stinkt es nach Urin. Obdachlose hocken am Ausgang zum Bahnhof, haben sich unter der Bahnunterführung einen trockenen Platz gesucht und trotzdem in einer Pfütze niedergelassen.
Aufbruch und Scheitern gehören schon immer zu diesem Platz. Wer auch immer am Alexanderplatz angekommen ist, hoffnungsvoll, fast immer ist er gescheitert. Die Revoluzzer von 1848 auf ihren Barrikaden. Die Baumeister der Weimarer Republik. Die sozialistischen Stadtplaner der DDR. Und bis heute der Senat mit seinem Wolkenkratzer-Plan von 1994. Niemand hat es geschafft, die große Leere angenehmer zu machen. Der Alexanderplatz ist Durchgangsort und ewige Baustelle, seit hundert Jahren Projektionsfläche von Architekten, doch immer war die Geschichte schneller als die Baumeister.
Schon in den 20er Jahren soll der Platz zum Verkehrsknotenpunkt der boomenden Hauptstadt werden. Man plant einen modernen Kreisverkehr mit hufeisenförmiger Umbauung. Doch der Plan scheitert an der Weltwirtschaftskrise. Der Architekt Peter Behrens verwirklicht nur Alexanderhaus und Berolinahaus, dann geht den Investoren das Geld aus. Zur selben Zeit lässt der Schriftsteller Alfred Döblin seinen Romanhelden Franz Biberkopf an diesem Ort scheitern. Der freigelassene Totschläger zerbricht an der Großstadt Berlin, deren gewalttätiges Epizentrum der Alexanderplatz ist, bevölkert von Huren, Krüppeln und Säufern. Der Soundtrack des Romans soll für den Rest des Jahrhunderts derselbe bleiben: krachender, kreischender Baulärm.
Nach dem Vorbild des Roten Platzes in Moskau vergrößert man den Platz in den 60er Jahren auf das Vierfache der Vorkriegsfläche. Fernsehturm und Kongresshalle, Centrum-Warenhaus und Interhotel kommen hinzu. Doch auch die DDR schafft es nicht, den Platz zu vollenden. Auch von den zehn Türmen, die der Masterplan von Hans Kollhoff aus dem Jahr 1993 vorsieht, steht bislang keiner. Der Aufbruch lässt auf sich warten.
22 Kilometer vom Alexanderplatz entfernt, in einer grauen Plattenbausiedlung in Spandau, sitzt nun Jonnys Vater Lothar-Günther K. im Kinderzimmer seines Sohnes und entschuldigt sich. „Es ist nicht aufgeräumt“, sagt er leise. Der breitschultrige 69-jährige Mann hat tiefe Ringe unter den Augen. „Ich kann nicht mehr schlafen und nicht mehr essen“, sagt er. Dennoch verschließt er sich nicht der Welt. Er will reden. Reden, obwohl er seine Hände zur Faust ballt, Tränen über sein Gesicht rinnen, sein Körper von Weinkrämpfen geschüttelt wird. Seit jener Nacht stellt er sich immer und immer wieder die gleiche Frage: Warum Jonny? „Er war so ein lieber, hilfsbereiter Junge und immer für alle da.“
"Ein schrecklicher Ort", sagt der Vater
Am Samstag um 22 Uhr sah Lothar-Günther K. seinen Sohn zum letzten Mal. Als er das Haus verließ, habe er noch zu ihm gesagt: „Pass auf dich auf!“ So wie man es als Vater eines Sohnes, so erwachsen er auch sein mag, eben sagt. Lothar-Günther K. streichelt die weiße Siamkatze Delisia seines verstorbenen Sohnes. Sie war sein Ein und Alles. Sie hat oben in seinem Etagenbett geschlafen und er unten.
Jonny war mit seiner Schwester und ihrem Freund zu einer Geburtstagsparty in einem Restaurant am Alex eingeladen. Wenn die Geschwister zusammen unterwegs waren, habe er immer ein gutes Gefühl gehabt. Es soll so eine nette Party gewesen sein, alle hätten fröhlich und ausgelassen gefeiert, sagt Lothar-Günther K. Bis ein paar türkische Jungs ins Restaurant wollten. Das habe ihm seine Tochter berichtet. „Sie haben die hübschen thailändischen Mädchen gesehen und wollten mitfeiern. Doch sie wurden an der Tür abgewiesen und haben laut gepöbelt. Sie waren total sauer.“ Seine Version dessen, was nun folgte, sieht in dieser Zurückweisung den Ursprung. Viereinhalb Stunden habe die Gruppe draußen vor dem Lokal gewartet.
Zwei Schlaganfälle, einen Herzinfarkt und ein Nierenversagen hat der Rentner schon hinter sich. Eine Plastiktüte auf dem Wohnzimmertisch ist randvoll mit Medikamenten. „Hiergegen gibt es keins“, sagt Lothar-Günther K. und fasst sich mit der rechten Hand an sein Herz. Er zieht ein Fotoalbum aus dem Regal. Ein Foto zeigt Jonny auf dem Fußballplatz. Jonnys Lieblingsverein war Arsenal London. Und nach seinem Fachabitur hatte er vorgehabt, eine Ausbildung zum Kaufmann zu beginnen.
Er selbst, sagt der Vater, habe den Alexanderplatz mit diesen „dunklen Katakomben“ schon immer unheimlich gefunden. „Ich bin dort mal aus der U-Bahn gestiegen und habe erlebt, wie sie am hellichten Tag einem Mann das Portemonnaie geraubt haben. Seitdem fahr ich da nicht mehr hin. Ein schrecklicher Ort.“
Sie bleiben stehen, die Berliner mit den Einkaufstüten, an diesem schrecklichen Ort, die Touristen mit den Fotoapparaten, die Anzugträger, die Rentnerdamen mit Handtäschchen, die Trinker mit Bierflasche, die Punks und die Jugendlichen. Viele halten für einen Moment inne, hier vor dem Eiscafé. Sie beugen ihre Köpfe über die zahlreichen Kerzen, die weißen Rosen und die Briefe, die an den 20-Jährigen erinnern.
„Die Erschütterung der Ermittler, die können Sie greifen“, sagt Michael Krömer. Der Berliner Polizeidirektor hat mit seinen Kollegen gesprochen, mit denen, die als Erste am Tatort waren. Was sie gesehen haben, will er lieber nicht sagen. Es war brutal. „Früher hat man sich geprügelt, aber es wurde aufgehört, als jemand am Boden lag“, sagt Krömer und schüttelt den Kopf. „Heute wird in einigen Fällen weiter getreten.“ Weiter und weiter, bis zum Ende.
Am Dienstag wenden sich die Ermittler bei einer eilig einberufenen Pressekonferenz an die Öffentlichkeit. Sie könnte der mächtigste Verbündete für sie werden in einem Fall, der viele Zeugen haben muss. Denn als Jonny K. und drei seiner Freunde vor dem zu dieser Zeit längst geschlossenen Eiscafé Rast suchen, verlassen am anderen Ende des Blocks sehr viele Menschen die Aftershow-Party des türkischen Popsängers Murat Boz. Der hatte am Samstag im Tempodrom sein einziges Deutschlandkonzert gegeben. Es sind vor allem junge Frauen, die zu Tausenden zu seinen Auftritten strömen. Und bis etwa vier Uhr morgens schloss sich auch diesmal für 700 Eingeweihte im Cancun die Aftershow-Party an.
Ob auch die Täter zu den Gästen dieser Veranstaltung in unmittelbarer Nähe zum Roten Rathaus gehört haben, wissen Jutta Porzucek, Leiterin der Mordkommission, sowie Andreas Behm und Michael von Hagen von der Staatsanwaltschaft zurzeit nicht zu sagen. Zu dritt sitzen sie auf dem Podium. Die Staatsanwaltschaft hat eine ungewöhnlich hohe Belohnung für Hinweise ausgesetzt. 15.000 Euro beträgt sie und ist eine der höheren Summen, die in Berlin bisher zur Ergreifung von Tätern angeboten werden. Normal sind 5000 Euro in einem Mordfall, in dem die Ermittler nicht weiterkommen.
492 Taschendiebstähle im Jahr 2011
Dass es sich bei den Tätern um Männer handeln soll, „wahrscheinlich arabisch aussehend“, hat die Polizei durch die Zeugenaussagen von zweien der Opfer erfahren. Weitere Personen seien allerdings „dazugetreten“, erklärt Jutta Porzucek. Was das bedeute? Es habe wohl Schaulustige gegeben. An deren Gewissen wollen Porzucek und die Staatsanwälte jetzt appellieren. Jetzt, da ein Mensch zu Tode gekommen ist. Einer, der nichts weiter wollte, als einen betrunkenen Freund nach Hause bringen.
Jonny K. und seine Freunde dürften durchaus aufgefallen sein. Drei der jungen Männer haben thailändische Wurzeln, ein vierter ist kamerunischer Abstammung. Aber vor allem trägt einer von ihnen huckepack den sturzbetrunkenen Gefährten durch die Nacht, der alleine nicht mehr gehen kann. Immer wieder muss er abgesetzt, dann neuerlich geschultert, weitergeschleppt und zur nächsten Straße getragen werden, wo die Freunde hoffen, ein Taxi für ihn aufzutreiben. Vor dem Eiscafé bei den Rathauspassagen setzt der Träger seinen angeschlagenen Freund auf einen Stuhl. Und dann geht es sehr schnell. Jemand tritt den Stuhl des Betrunkenen unter ihm weg. Jonny K. sagt, „Hey, lasst das mal, dem geht’s nicht gut.“ Dann wird er angegriffen.
Wie viele Schläger es sind, die Jonny K. noch am Boden mit Fußtritten so schwer am Kopf verletzen, dass er an Gehirnblutungen stirbt, ist unklar. Der Freund, der vorausgegangen war, um ein Taxi zu rufen, sieht nun zurückeilend sieben Personen auf Jonny K. eindreschen. Auch ein zweiter Begleiter wird verletzt und kommt mit einem Jochbeinbruch davon.
Alles lief innerhalb weniger Minuten ab. Es waren viele Nachtschwärmer unterwegs. Derzeit wertet die Polizei akribisch Videomaterial aus Überwachungskameras von der Nacht aus. Sie vermutet aber, dass es von der Tathandlung selbst keine Bilder gibt und dass vor allem Zeugen weiterhelfen könnten. Menschen, die nun vielleicht das Gewissen plagt. Die man locken kann mit der Belohnung, bevor die Eindrücke jener Nacht vom Alltag verdrängt werden.
Konnte so was nur hier passieren?
„Wer zum Alexanderplatz kommt, darf sich eigentlich wohl fühlen“, sagt Polizeidirektor Krömer. Dennoch hat die Polizei im vergangenen Jahr 492 Taschendiebstähle gezählt. Statistisch gesehen registrieren die Beamten jeden Tag eine Körperverletzung, jeden fünften Tag einen Raub. Es fängt harmlos an. Betrunkene pöbeln sich an, irgendwann fliegen Fäuste. Die Hemmschwelle sei gesunken, sagt Krömer. Die Täter gehen bis zum Äußersten. Wie in der Nacht zum Sonntag vor dem Eiscafé. Warum? „Ich habe keine Erklärung, die mich annähernd überzeugen könnte“, sagt Krömer. Er ist seit 38 Jahren bei der Polizei.
Marco Zack als Inspektionsleiter der Bundespolizei, die hier auf diesem Bahnhof zuständig ist, zeichnet ein weniger dramatisches Bild. An die 300.000 Reisende passieren täglich die stählerne Halle. Dabei sei die Zahl der Prügeleien, der Schubsereien, der gewalttätigen Angriffe in vergangenen Jahren zurückgegangen. Dennoch haben sie in diesem Jahr schon 60 solcher Angriffe im Bahnhof gezählt. „Das ist zu viel“, sagt Zack. Aber im Vergleich mit dem Hauptbahnhof oder dem Zoo – kein Grund zur Beunruhigung.
Und wieder gibt es mit Frank Frederking einen, der den Alexanderplatz besser machen will. Seit Anfang des Jahres engagiere sich die Polizei im Bündnis Alexanderplatz, sagt der Abschnittsleiter. Gemeinsam mit Gewerbetreibenden, dem Bezirk, der Kirche und anderen wolle man den Platz verschönern, sicherer machen. Büsche mit Dornen sollen gepflanzt werden, wegen des Uringestanks in den Blumenrabatten. Viel Licht soll es geben, auf den dunklen Wegen am Neptunbrunnen. Einen Volleyballplatz haben sie schon gebaut, auch ein Wegeleitsystem wurde installiert. „Wir haben heute höchstens noch ein Dutzend Punks vor Ort.“ Drogenabhängige sieht man so gut wie nie, sagt Frederking. „Die Tat hätte genau so woanders stattfinden können.“