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Eine Prostituierte auf dem Straßenstrich in der Kurfürstenstraße.
© imago/Rolf Kremming

Prostitution an der Kurfürstenstraße: „Den Frauen bleibt fast nichts von dem Geld“

Streetworker Gerhard Schönborn über den Wandel des Kurfürstenkiezes und die Debatte über Sperrgebiete und Sex-Kabinen.

Soll es Sperrgebiete für Prostituierte geben? Helfen so genannte Verrichtungsboxen, also Kabinen oder überdachte Areale für den bezahlten Geschlechtsverkehr? Derzeit wird mal wieder kontrovers über die Frage diskutiert, wie der Straßenstrich an der Kurfürstenstraße in Tiergarten so organisiert werden kann, dass die Interessen von Nutzern und Anwohnern besser in Einklang gebracht werden können.

Gerhard Schönborn (57) ist Mitgründer und Vorsitzender von Neustart e.V., einem christlichen Verein, der seit elf Jahren ein Kontaktcafé am Straßenstrich unterhält. Ein Gespräch über das Viertel und die aktuelle Debatte.

Herr Schönborn, Sie arbeiten seit 15 Jahren als Streetworker im Kurfürstenkiez, haben vor elf Jahren das Café Neustart mit aufgebaut. Wie hat sich die Szene verändert?

Als ich 2004 anfing, war das hier ein klassischer Drogenstrich. Die meisten Frauen, die an der Straße standen, waren heroinabhängig. Viele waren mit drogenabhängigen Männern zusammen. Die Frauen gingen also mit für ihre Freunde anschaffen, um Drogen zu kaufen. Diese Konstellation gibt es kaum noch. Aber natürlich gibt es immer noch die drogenabhängigen Frauen.

Einheimische waren damals die größte Gruppe, vereinzelt gab es auch solche Prostituierte, die vor der Drogenwelle der Normalfall im Kiez waren, und heute oft als „selbstbestimmte Sexarbeiterinnen“ bezeichnet werden.

Wann kam denn die Drogenwelle?

Vor 50 Jahren etwa, so in den 70ern. Das Gebiet hier ist schon seit über 100 Jahren von Prostitution bestimmt. Wo heute der „Sozialpalast“ steht, war davor der Sportpalast und weil der mit seinen Großveranstaltungen ein so großer Anziehungspunkt war, haben sich ringsum Bordelle und Bars angesiedelt. In den 1970er Jahren, in Zeiten der Hausbesetzerszene, kamen dann die Drogen ins Milieu. Die Prostitution an der Potsdamer Straße verlagerte sich in die Kurfürstenstraße hinein. Das war klassische Beschaffungsprostitution. Bis 2006 blieb das mehr oder weniger so.

Kiezkenner. Seit 15 Jahren arbeitet Gerhard Schönborn an der Kurfürstenstraße.
Kiezkenner. Seit 15 Jahren arbeitet Gerhard Schönborn an der Kurfürstenstraße.
© Kitty Kleist-Heinrich

Was änderte sich 2006?

Mit der Fußball Weltmeisterschaft 2006 standen erstmals auffällig viele Osteuropäerinnen an der Straße. Zum Beispiel vorne am LSD, da stand dann eine ältere Frau, um die 60, die die Mädchen dort positionierte. Nach dem Finale waren sie wieder weg.

Danach veränderte sich die Straße in immer kürzeren Abständen. Zunächst waren hier vor allem Polinnen und Tschechinnen, dann – nach der zweiten EU-Osterweiterung – bulgarische und rumänische Frauen. Und dann noch eine Berliner Besonderheit: ganz viele Ungarinnen.

Ein paar Jahre lang gab es massive Auseinandersetzungen um die Standplätze. Wer am falschen Ort stand, wurde zusammengeschlagen. Mittlerweile sind die Straßenabschnitte größtenteils klar verteilt. Aktuell ist der größte Teil der Kurfürstenstraße in ungarischer Hand.

Arbeiten selbstbestimmte Sexarbeiterinnen heute eher in Bordellen oder stehen sie auch noch am Straßenstrich?

Also: Die einheimische, nicht drogenabhängige Prostituierte gibt es am Straßenstrich kaum noch. Vereinzelt stehen hier Frauen, die seit dreißig und mehr Jahren in der Prostitution tätig sind. Aber diese Gruppe Frauen ist mittlerweile ein kleines Segment, egal ob am Straßenstrich oder im Bordell. 80 Prozent der Prostituierten in Berlin kommen aus Osteuropa, diese Gruppe prägt die Szene.

Und diese Sexarbeiterinnen sind weniger selbstbestimmt?

Die Grenzen zwischen Menschenhandel, Zuhälterei, Nötigung und Armut sind fließend. Wenn der Cousin danebensteht und aufpasst, dass die Frau Geld verdient, hat das nichts von Freiwilligkeit, aber Menschenhandel ist es auch nicht direkt. Den Frauen selbst bleibt fast nichts von dem Geld, das sie verdienen. Es gibt ein parasitäres Umfeld, das das schwer verdiente Geld den Frauen aus der Tasche zieht. Und wenn ihnen doch etwas übrig bleibt, tragen sie es zur Bank hier an der Ecke und überweisen es nach Hause.

Die Prostitution am Kurfürstenkiez ist Anwohnern seit Jahren ein Dorn im Auge. Der Bezirksbürgermeister von Mitte, Stephan von Dassel (Grüne), möchte zur Beruhigung der Situation sogenannte Verrichtungsboxen aufstellen. Also eine Art Carport oder Kabinen, in denen die Freier die Prostituierten treffen. Jede „Box“ soll außerdem mit einem Alarmknopf ausgestattet sein. Können die Verrichtungsboxen mehr Sicherheit für die Frauen bringen?

Wenn Verrichtungsboxen aufgestellt werden, müsste auch die Polizei oder ein permanenter Sicherheitsdienst vor Ort sein. Köln wird jetzt immer als das Superbeispiel genannt, dabei hatte die Stadt Dortmund auch auf Verrichtungsboxen gesetzt, um dann festzustellen, dass die Kriminalität in dem Gebiet ausartete.

Weil die Prostitution sich durch die Verrichtungsboxen konzentrierte, standen da 300, 400 bulgarische Frauen mit entsprechend kriminellem Hintergrund an Männern. Also wurden die Boxen dann wieder abgerissen und die Stadt zum Sperrbezirk erklärt. Jetzt beschränkt sich die Prostitution in Dortmund auf die Hinterzimmer der Kneipen, was für die Stadt wohl erträglicher ist als die Situation zuvor.

Und wie wäre es, die Prostitution hier ganz zu verbieten, also den Kurfürstenkiez zum Sperrbezirk zu erklären, wie manche Anwohner es fordern?

Die Kurfürstenstraße ist ja nur die Spitze des Eisbergs. Hier sind etwa 300 bis 400 Frauen unterwegs. Und die 6000 bis 10.000 Frauen, die in der ganzen Stadt arbeiten, die sieht man zwar nicht, das Elend in diesen sogenannten Prostitutionsstätten ist aber auch nicht kleiner. Wer im Bordell wohnt, hat zwar ein Dach über dem Kopf, aber viel besser ist das Leben nicht. Für viele bedeutet die Straße eine größere Freiheit.

Und laut BKA-Statistik stammen etwa zehn Prozent der Betroffenen von Menschenhandel vom Straßenstrich. Die meisten Opfer findet man im Escortbereich, in Laufhäusern oder im Bordell. Den Kurfürstenkiez zu einem Sperrbezirk zu machen, würde die Prostitution an den Stadtrand verdrängen, wo dann auch keine Hilfsorganisationen mehr sind. Aus den Augen, aus dem Sinn.

Hier im Kurfürstenkiez muss man sich wenigstens mit der Problematik auseinandersetzen. Außerdem: Will man ein Verbot durchsetzen, muss man Geldbußen gegen die Frauen verhängen. Aber das ist unsinnig. Hier an der Kurfürstenstraße stehen Frauen, die wissen nicht, wo sie abends schlafen werden, wie sie den nächsten Tag überstehen. Oder sie werden von Zuhältern zur Prostitution gezwungen. Deshalb finde ich auch die Strafen von bis zu 10.000 Euro unsinnig, wenn sie sich nicht registrieren lassen, wie das im Prostituiertenschutzgesetz gefordert wird.

Seit Ende Januar definiert die Polizei das Gebiet um die Kurfürstenstraße nicht mehr als „kriminalitätsbelasteter Ort“. Spüren sie diese Entscheidung in ihrer Arbeit?

Dadurch, dass der Kiez jetzt nicht mehr so definiert wird, kann die Polizei auch nicht mehr so einfach Kontrollen durchführen, sondern braucht einen konkreten Anlass. Vielleicht werden heute weniger Anzeigen erstattet als vor fünf Jahren, aber jeder weiß, dass hier massive Zuhälterei und Menschenhandel stattfindet. Vom Drogenhandel ganz zu schweigen.

Vor ein paar Wochen die Schießerei in einem Café in der Kurfürstenstraße oder der erstochene Rumäne an der Lützowstraße. Das sind schwere Straftaten, die mit diesem Milieu verbunden sind. Die Entscheidung, den Straßenstrich aus dieser Kategorie heraus zu nehmen, kann ich nicht nachvollziehen.

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