Der Berliner Zoo wird 175 Jahre alt: „Das Tiererlebnis macht uns unverzichtbar“
Am 1. August 1844 wurde der Berliner Zoo eröffnet. Direktor Andreas Knieriem über Kritik und Zukunft, Tofu und Tierschutz – und die Kunst der Panda-Diplomatie.
Herr Knieriem, in einem Ranking der deutschen Zoos ist Berlin kürzlich nur im Mittelfeld gelandet. Hatten Sie sich zum 175. Geburtstag ein schöneres Geschenk erhofft?
Solche Rankings gibt es zu Hunderten. Ich würde so weder mein Hotel noch den Urlaubsort auswählen.
Wo steht Berlin nach Ihrer Einschätzung?
Berlin hat mit Zoo, Tierpark und Aquarium den größten Zoobetrieb der Welt und kann sich durchaus mit den berühmten Zoos in San Diego, Singapur und New York messen. Jährlich besuchen fünf Millionen Menschen bei uns 28 000 Tiere aus 1400 Arten – das sind Zahlen, die einen natürlich stolz machen. Ich weiß aber auch, dass wir noch viel zu tun haben.
Der Berliner Zoo ist der älteste in Deutschland. Ist er auch veraltet?
Als ich 2014 mein Amt als Zoodirektor angetreten habe, hatten wir sowohl im Zoo als auch im Tierpark einen Sanierungsstau. Wir haben hier zum Teil bemitleidenswerte Zustände vorgefunden: Das Raubtierhaus versprühte den Charme einer Toilette, viele Tiere lebten in einer äußerst reizarmen Umgebung. Der Zustand einiger Anlagen war schlicht nicht mehr zeitgemäß, sondern versetzte die Besucher in das Jahr 1950 zurück. Die Tiere kamen größtenteils ganz gut damit klar, aber so möchte man Tiere heute nicht mehr sehen.
Was hat sich inzwischen getan?
Wir haben zunächst eine Bestandsaufnahme gemacht und Strukturen aufgebaut, mit denen man vernünftig arbeiten kann. Stück für Stück haben wir eine Vision herausgearbeitet und Pläne für die Zukunft geschmiedet. Der Garten brauchte Auffrischung, viele Bereiche hatte der Maler scheinbar jahrelang ausgespart. Alles blätterte mehr oder weniger vor sich hin. Ich bin mir sicher, dass ein Zoo in einem solchen Zustand bei den Besuchern, dann auch in Bezug auf die Tierhaltung, Mitleid auslöst. Hier war also dringender Handlungsbedarf. In den vergangenen fünf Jahren hat unser Team zahlreiche Anlagen naturnaher und abwechslungsreicher gestaltet.
Das klingt nach viel Arbeit.
Ja, das ist die logische Folge nach jahrelangem Stillstand. Kaum vorstellbar aber auch, dass hier nach dem Zweiten Weltkrieg fast alles zerstört war. Das Aquarium wurde durch eine Bombe mitten in der Krokodilhalle fast vollständig niedergebrannt. Nur 91 Tiere überlebten den Krieg. Katharina Heinroth (Zoodirektorin 1945–1956, d. Red.) und Heinz-Georg Klös (1956–1991) waren danach mit den Neubauten sehr umtriebig. Später gab es eine ruhigere Phase. Und jetzt sind wir an einem Punkt, an welchem wir vielleicht einen Paradigmenwechsel eingeleitet haben.
Inwiefern?
Wir müssen mit dem begrenzten Raum in der Stadt sinnhaft umgehen. Und uns genau überlegen, welche Tierarten wir artgerecht halten können. Und die Auswahl treffe nicht ich als Zoo-Direktor, weil mir eine Tierart so besonders gut gefällt – so war das vielleicht vor 175 Jahren üblich. Heute treffen wir diese Entscheidungen mit Experten auf der ganzen Welt.
Was ist heute noch anders?
Wir haben heute einen ganz anderen Zugang zu Tieren. Früher war das Empfinden deutlich geringer ausgeprägt. Heute ist jedoch vieles entfremdet von der Wirklichkeit. Teilweise haben die Menschen eine geradezu romantische Einstellung zur Natur. Die Art, wie wir mit Tieren umgehen, ist aber nicht immer natürlich.
Wie meinen Sie das?
Wir können Beutegreifern kein Tofu geben. Und auch der Fuchs kommt nicht zur Ente und fragt: Passt es denn heute, wo tut es nicht weh? Was glauben Sie, wie viele kopflose Tiere der Fuchs uns täglich hinterlässt? Die Natur ist manchmal brutal. Aber wir sehen es nicht als unsere Aufgabe, dies so deutlich zu zeigen. Wir müssen keine ultrarationale Naturbildungsstätte sein. Ich sehe unsere Aufgabe darin, überhaupt Faszination für Tier und Natur aufzubauen.
Ist die denn verloren gegangen?
Das Naturgefühl war vor hundert Jahren sicher anders ausgeprägt. Auch in der heutigen hoch digitalisierten Welt kann das wahrhaftige Zusammentreffen mit einem Tier nicht nachgebildet werden. Wir Menschen sind immer noch analoge Wesen.
Zookritiker sagen, jeder Dokumentarfilm vermittele mehr davon als ein Zoobesuch.
Wissen Sie noch, was vor zwei Tagen in der „Tagesschau“ kam? Ich auch nicht. Das ist das große Problem digitaler Kommunikation. Ich habe so viele tolle Tiersendungen gesehen. Trotzdem kann ich Ihnen nichts davon rezitieren. Wenn Besucher bei uns das erste Mal auf eine Giraffe treffen, diese großen Wimpern sehen, den Geruch wahrnehmen, die Bewegungen beobachten, dann werden sie sich an dieses Zusammentreffen erinnern. Das unmittelbare Tiererlebnis ist der Grund, warum wir unverzichtbar sind.
Es gibt Menschen, die Zoos als Gefängnisse ablehnen.
Das ist die absolute Minderheit. Viele Argumente sind schlichtweg falsch und mit Kreisch-Rhetorik vorgetragen. Ich kann damit nichts anfangen. Die meisten Menschen bejahen zoologische Gärten, wenn sie sehen, dass die Tiere artgerecht von einem kompetenten Team gehalten werden. Die steigenden Besucherzahlen sprechen dafür, dass die Menschen uns vertrauen und den Zoo Berlin als Naturort schätzen.
Was bedeutet der Zoo den Berlinern?
Die Berliner waren schon immer tierversessen. Für sie stellt der Zoo Berlin einen vertrauten Ort dar, der sich über all die Jahre treu geblieben ist. Wir tragen den gleichen Namen wie früher, bestehen am gleichen Ort und machen quasi immer noch das Gleiche. Es gehört leider aber auch zu den Berlinern, dass sie alles immer etwas schlechter reden, als es tatsächlich ist. Wäre Berlin München, die Münchner kämen aus dem Schwärmen nicht mehr heraus. Wo haben Sie das noch, dass Sie in der Großstadt die Pappeln rauschen hören und ein paar Meter weiter eine Elefantenherde beim Baden beobachten können?
Durch die Zeit der Teilung in Ost und West hat Berlin heute zwei Tiergärten. Braucht es auch künftig beide?
Berlin braucht definitiv zwei zoologische Einrichtungen. Bei fünf Millionen Besuchern im Jahr ist es vollkommen illusorisch, diese Besucherströme in einem Zoo zu bewerkstelligen, da würden wir an die Kapazitätsgrenze geraten. Und unsere Stadt wächst ja auch noch stetig. So steigen jährlich unsere Einnahmen, aber auch unsere Ausgaben.
Es ergibt also auch wirtschaftlich Sinn?
Ja, das tut es. Wir finanzieren uns als Zoo selbstständig. Der Tierpark bekommt eine Förderung in Form eines Betriebskostenzuschusses vom Land Berlin. Und das ist gut so.
Sie wollen das Geld auch ausgeben, sagen Sie. Wofür?
Im nächsten Jahr starten wir mit dem Bau eines Nashornhauses. Wir planen einen exotischen Tempel für den Artenschutz, in welchem die Besucher einen Einblick in den sumpfigen Lebensraum der Panzernashörner werfen können. Das allein kostet 20 Millionen Euro. Auch mit dem Primatenhaus werde ich mich dieses Jahr noch beschäftigen.
Das Nashornhaus soll an die indische Elefantenpagode aus der Entstehungszeit des Zoos angelehnt sein. Wo haben Sie sich sonst inspirieren lassen?
Das meiste kommt über Nacht im Traum (lacht). Ich habe sehr viele Zoos in meinem Leben gesehen – in Summe über hundert. Das inspiriert natürlich. Im Ausland waren Zoos ganz anders gebaut. Die haben sich verkniffen, drei Zäune hintereinander zu bauen, die den Besuchern die Sicht auf die Tiere versperrten. In Deutschland sind wir lange der funktionalen Tierhaltung nachgegangen. Funktional ist in Ordnung, wenn man für sich und die Pfleger baut. Aber mit Besuchern und einer Botschaft, die man zu vermitteln hat, wird das natürlich komplexer.
Welche Botschaft meinen Sie?
Wir möchten unsere Besucher für die Tierwelt begeistern, damit sie eine emotionale Verbindung zu den Tieren aufbauen. Die Anlagen sollen dabei als Schaufenster in die Natur wirken, daher versuchen wir die Barrieren zwischen Tier und Mensch weitestgehend optisch aufzulösen. Aber trotzdem müssen diese Grenzen natürlich funktionieren, Sie wollen sicher nicht plötzlich ein Flusspferd neben sich stehen haben. Letztendlich muss man auch realistisch mit den Gegebenheiten vor Ort umgehen. In Berlin müssen wir uns etwa mit dem Denkmalschutz auseinandersetzen.
Sie sprachen davon, dass der Tierbestand reduziert wird. Warum?
Wir möchten dem individuellen Tier mehr Platz geben. Viele Arten wurden ehemals auf zu kleinem Raum gehalten. Im Raubtierhaus etwa, aber auch bei den Affen. Hier hatten wir teilweise eine Über- und Doppelbesetzung, die nicht mehr genehmigungsfähig war.
Wie weit soll reduziert werden?
Wir haben immer noch viele Tiere. Das liegt aber auch daran, dass das artenreiche Aquarium an den Zoo angeschlossen ist. Für Kleinstfrösche braucht man deutlich weniger Platz als für Elefanten. Und neun Quallenarten sind einfacher zu halten als neun Menschenaffenarten. Wir wollen der artenreichste Zoo der Welt bleiben. Aber wir werden weiter Arten abgeben. Mehr, als mancher Zoo Tiere hat.
Welche bleiben?
Bei der Auswahl der Tierarten spielt auch der Bedrohungsstatus eine Rolle. Wir tragen eine große Verantwortung, denn die Mehrzahl unserer Tiere ist Teil der rund 400 weltweiten Erhaltungszuchtprogramme. Okapis, Lemuren, Bonobos, all diese Arten sind bedroht und wir sehen es als unsere Aufgabe, diese Tiere als eine Art Arche Noah der Gene zu erhalten.
Kritiker sagen, das sei Augenwischerei. Tiere bedrohter Arten würden in Gefangenschaft gezüchtet, aber nicht ausgewildert.
Hier stellt sich zunächst eine ganz andere Frage: Wo können Sie noch Tiere auswildern? Solange die Menschen mit einem Fell mehr verdienen als ein landestypisches Jahresgehalt, ist das doch vollkommen illusorisch. Die tropischen Regenwälder verschwinden gerade. Aber es gibt auch Lichtblicke: Wir haben in den vergangenen Jahren beispielsweise Wisente, Bartgeier und Przewalskipferde erfolgreich ausgewildert.
Was können Zoos also leisten?
Neben der Bildungsarbeit vor Ort, der Zusammenarbeit mit der Forschung und der Nachzucht bedrohter Tierarten sammeln Zoos weltweit jedes Jahr über 300 Millionen Euro für den Artenschutz. Mit diesem Betrag werden Projekte auf allen Kontinenten finanziert. Wir sind vor allem Fachleute für die Tiere in unserem Zoo. Für den Naturschutz vor Ort können wir Hilfestellungen geben, letztendlich brauchen wir hier aber die Unterstützung der Politik.
Stichwort Panda-Diplomatie. China bindet über den Bärenverleih politische Partner an sich.
Der funktioniert aber auch andersherum. Wir geben sehr viel Geld für die Pandas nach China – eine Million Dollar pro Jahr. Der Beitrag fließt zu 100 Prozent in die Arbeit der chinesischen Experten bei Zucht, Schutz und Wiederauswilderung. Dadurch können unter anderem die Schutzgebiete ausgebaut werden. Davon profitieren nicht nur die Pandas, sondern auch andere Tier- und Pflanzenarten.
Für den Bambus gibt der Zoo viel Geld aus: Ein Viertel der Gesamtfutterkosten jährlich fällt auf zwei Pandas.
Das ist ein beachtlicher Betrag – aber nicht jeder hat das Privileg, diese faszinierenden Tiere in seinem Zoo zu halten. Unser Bambus kommt weitestgehend aus Holland, weil wir hier im Botanischen Garten die Massen und Sorten nicht haben. Bambussprossen müssen wir jedoch aus China einkaufen. Meng Meng ist sehr wählerisch. Was sie verschmäht, frisst Jiao Qing aber in den meisten Fällen.
Geht es den Pandas in Berlin gut?
Davon gehe ich aus – die Pandas haben sich in den vergangenen zwei Jahren gut bei uns eingelebt.
Es gab einigen Aufruhr um das Verhalten von Meng Meng.
Von Kiel bis Allgäu ist diskutiert worden, dass Meng Meng rückwärts läuft. Tatsächlich macht sie das aber nur, wenn Pfleger in der Nähe sind. Sie hat offenbar in China gelernt: Wenn ich rückwärts laufe, gibt es neuen Bambus, dann kümmert man sich um mich. Mittlerweile konnte sie dieses Verhalten aber zum größten Teil ablegen.
Gibt es zum Zoo-Geburtstag Nachwuchs?
Die beiden Pandas haben sich im April erstmals gepaart. Nach Rücksprache mit den chinesischen Experten haben wir Meng Meng anschließend zusätzlich künstlich besamt. Noch wissen wir nicht, ob dies tatsächlich zu einer Trächtigkeit geführt hat. Wenn wir Pech haben, wissen wir es – selbst mit Ultraschalluntersuchung – erst kurz vor der Geburt.
Der Nachwuchs gehört qua Vertrag den Chinesen. Dürfte er überhaupt in Berlin bleiben?
Wenn die Pandas Nachwuchs bekommen, würde der bis zu vier Jahre bei uns bleiben. Auch im natürlichen Lebensraum gehen Jungtiere und Mütter irgendwann getrennte Wege – Pandas sind ja Einzelgänger. Das wäre auch der Zeitpunkt, an dem der Nachwuchs voraussichtlich nach China zieht.
Sind Zoos heute hauptsächlich Zuchthäuser?
Entschieden nein. Wir brauchen in einer urbanen und hoch digitalisierten Gesellschaft Räume, welche uns die Natur nahebringen: einen Ort zum Verweilen, ein grünes Klassenzimmer und einen Standort für Forschung. All dies leisten zoologische Gärten.
Wie gelingt Ihnen das?
Wir haben hier auf 33 Hektar sämtliche Bildungs- und Sozialschichten. Das ist eine große Chance, weil wir die Möglichkeit haben, viele Menschen zu erreichen. Aber es ist auch eine Herausforderung: Wir dürfen nicht zu kryptisch sein, denn wir bereiten die Informationen nicht für Fachpublikum auf. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die Besucher die wahrhaftige Begegnung mit Elefant, Ziege oder Alpaka am nachhaltigsten beeindruckt. Darüber hinaus möchten wir die Geschichte des Tiers erzählen: Wie heißt es, wo lebt es, was frisst es – ist es in seinem ursprünglichen Lebensraum womöglich bedroht?
Sind Tafeln dafür noch zeitgemäß?
Wir haben es mit digitalen Formaten versucht. Wir stellen jedoch fest, dass diese oft noch nicht ausgereift sind: zu teuer, immer wieder kaputt, nicht massentauglich. Wir müssen hier ja von bis zu 20 000 Besuchern am Tag ausgehen, die das Format nutzen möchten. Auch Apps haben ihre Grenzen. Häufig kommen wir deshalb zum traditionellen Schild zurück. Wir bereiten es aber didaktisch anders auf als früher.
Mit Erfolg?
Ich glaube, wenn Menschen nach Hause gehen und es hat ihnen bei uns gefallen hat, dann können wir das als Erfolg verbuchen.
Was fasziniert Sie persönlich am Zoo Berlin?
Ich habe das Privileg, abends mit meinem Hund eine Runde durch den menschenleeren Zoo zu gehen: Die Formen, die Farben, die Gerüche – mit den Tieren hat man die ganze Welt beisammen. Wenn Sie abends ganz allein auf dem Gelände sind und einen Blick auf die erleuchteten Hochhäuser werfen, erinnert mich das an den New Yorker Central Park. Dazu die intakte Natur, die alten Eichen, die schon lange vor der Gründung des Zoos hier erste Wurzeln schlugen – und dies mitten in einer Großstadt. Für mich ist der Zoo einfach einzigartig.