Raed Saleh, SPD-Fraktionschef im Abgeordnetenhaus: „Das Thema Ökologie haben wir verschlafen“
Berlins SPD-Fraktionschef Raed Saleh über den Klimaschutz, Sarrazin und seinen Optimismus, dass die SPD in Berlin wieder stärkste Kraft wird. Ein Interview.
Raes Saleh ist seit 2011 Chef der SPD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus.
Er trat 1995 der SPD bei und ist seit 2008 Mitglied des Berliner SPD-Landesvorstands. Sein Wahlkreis liegt in Berlin-Spandau.
Herr Saleh, wollen Sie nicht SPD-Parteichef werden?
Oh, mit der Frage habe ich nicht gerechnet! Sie wissen doch: Ich bin gerne SPD-Fraktionsvorsitzender, und in Berlin ist auch noch viel zu tun.
Sie loben Franziska Giffey in höchsten Tönen. Was prädestiniert die Bundesfamilienministerin für hohe Ämter in der SPD? Was kann die Genossin, was andere nicht können?
Franziska Giffey zeichnet aus, und ich kenne sie seit vielen Jahren gut, dass sie eigene Ideen entwickelt – und dann auch vertritt. Sie dackelt nicht irgendwelchen Trends hinterher, sie steht zu ihren Positionen, auch wenn das in der SPD manchmal hart ist. Wir sind beide, mit unseren Erfahrungen in Neukölln und Spandau, sehr bodenständig.
Wir haben ähnliche Visionen für eine sozialdemokratische Politik. Die Menschen müssen sich darauf verlassen können, dass das Leben bezahlbar bleibt, dass es Sicherheit und Ordnung gibt und dass der Staat in Notsituationen für sie da ist. Abstrakte Diskussionen über den Sozialismus oder Staatstheorien sind weniger unser Ding.
In der Berliner SPD gilt Frau Giffey als rechts, ist das ein Makel?
Sie ist nah bei den Leuten, versöhnlich, charismatisch und authentisch. Ich finde, Franziska Giffey ist eine hervorragende Repräsentantin der linken Volkspartei SPD.
Dann läge es nahe, dass Giffey von der Berliner SPD für den Parteivorsitz nominiert wird, oder?
Ich weiß doch gar nicht, ob Franziska Giffey für den SPD-Bundesvorsitz antreten will, das ist ihre ganz persönliche Entscheidung.
Auch abhängig davon, was aus ihrer Doktorarbeit wird?
Sie muss bewerten, ob sie den Hut in den Ring werfen will. Ich kann dazu nur sagen: sie ist ein großes Talent.
Es gibt noch ein Talent aus Berlin. Welche Rolle könnte der Juso-Bundesvorsitzende Kevin Kühnert künftig in der SPD spielen?
Ich mag ihn, weil er den Finger immer wieder in die Wunde legt. Er warnte die SPD 2013 und 2017, in die Große Koalition zu gehen. So wie ich auch. Kevin Kühnert ist umtriebig und mutig und sagt was er denkt. Er wird in der Bundespartei auch künftig eine große Rolle spielen.
Im Parteivorstand?
Das muss er selbst entscheiden.
Ist die Doppelspitze, die in der Bundes-SPD weitgehend Konsens ist, auch ein Modell für die Landespartei – und für die SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus?
Ich gehe davon aus, dass die Doppelspitze als Kann-Option auf allen Ebenen der Partei etabliert wird, also auch in Berlin. Ein Patentrezept ist es aber nicht. Ich warne dringend davor, jetzt ständig die Grünen imitieren zu wollen, die mit ihrer Doppelspitze (wie auch die Linken) lange Zeit nicht glücklich waren. Das muss gut vorbereitet sein und die Chemie zwischen beiden Vorsitzenden muss stimmen.
Apropos Grüne: Wie wirkt sich deren Höhenflug auf die rot-rot-grüne Koalition in Berlin aus?
Die Zusammenarbeit ist gut. Es könnte hier und da geräuschloser laufen, weil Streit niemandem hilft. In Regierungsbündnissen gibt es aber nun mal Reibungen, wir sind unterschiedliche Parteien mit eigenen Programmen. Deshalb meine Bitte auch an die Parteifreunde im Bund: Versucht jetzt nicht, die Grünen zu kopieren, sondern besinnt euch auf eine Politik der sozialen Gerechtigkeit, da sind wir das Original.
Wir wollen auch eine soziale Marktwirtschaft mit investitionsfreudigen Unternehmen, aber Eigentum verpflichtet. Die SPD muss der Profitgier Grenzen setzen. Und wir stehen für ein offenes, buntes Land. Gleichzeitig muss die SPD garantieren, dass die Spielregeln von allen eingehalten werden. Egal, ob sie Mustafa oder Michael, Natascha oder Petra heißen.
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Jetzt will die SPD sogar das Klima schützen…
Das Thema Ökologie haben wir leider verschlafen. Jetzt müssen wir die junge Generation davon überzeugen, dass die SPD auch für die Welt von Morgen und Übermorgen steht. Für eine nachhaltige Politik, für einen generationsübergreifenden Gesellschaftsvertrag.
Gute Absichten allein helfen nicht. Gerade in Berlin hat nicht nur die SPD, sondern die gesamte Koalition ein Umsetzungsproblem.
Ja, Rot-Rot-Grün in Berlin trägt eine besondere Verantwortung. Die Koalition muss sich genau überlegen, was sie bis zur Wahl im Herbst 2021 noch auf die Beine stellen kann. Wir wollen schließlich Vorbild sein, für linke Bündnisse in anderen Bundesländern und im Bund. Wer raus aus der GroKo will, muss alternative Optionen haben.
Offenbar glauben die Berliner nicht, dass der sozialdemokratisch geführte Senat das hinbekommt. 13 Prozent in den Umfragen sprechen nicht für großes Vertrauen.
Es wird extrem viel Arbeit kosten, um das verlorene Vertrauen wiederzugewinnen. Aber ich bin fest überzeugt, dass dies der SPD in Berlin gelingen wird und auch im Bund. Allerdings nur dann wenn wir uns wieder auf unsere originären Themen konzentrieren. Ich sag’s mal so: Erst lagen in den Umfragen die Linken vorn, jetzt sind es die Grünen und am Ende der Wahlperiode ist die SPD wieder stärkste Partei.
Da wollen wir Ihnen den starken Glauben nicht nehmen.
Totgesagte leben länger. Aber im Ernst: Wenn es der SPD gelingt, die Stadt wieder zusammenzubringen, das politische Scharnier zu sein, kann die harte Arbeit Früchte tragen. Die SPD ist die Berlin-Partei. Viele Menschen sagen mir: Hallo Leute, ihr werdet gebraucht, wir wollen eine starke SPD! Wir können wieder punkten, wenn wir die Menschen davon überzeugen, dass wir aus den Fehlern und Niederlagen der letzten Jahre die richtigen Lehren ziehen.
Welche Lehren sind das? In Berlin, ganz konkret?
Nehmen wir, als ein Beispiel, die innere Sicherheit. Da wollen wir eine behutsame Aufstockung der Videoüberwachung, auch eine Reform des Polizeigesetzes. Zu unserem innenpolitischen Paket gehört auch eine konsultative Volksbefragung, etwa zur Zukunft des Tempelhofer Feldes.
Ein spannendes Thema, fünf Jahre nach dem Volksentscheid, der eine Bebauung des 130 Hektar großen Geländes verboten hat. Was schwebt Ihnen vor?
Ich bin für eine behutsame Bebauung der Ränder des Feldes mit Sozialwohnungen, sei es auf der Neuköllner oder der Tempelhofer Seite. Die große Innenfläche sollte frei bleiben für Freizeit, Naherholung und Sport, und als Frischluftschneise für die Stadt. Man könnte vielleicht überlegen, dort ein großes Kinderplanschbecken zu bauen, Bänke hinzustellen und Bäume zu pflanzen. Wenn ein vernünftiges Gesamtkonzept zur Abstimmung gestellt würde, bin ich sicher, dass eine breite Mehrheit dies unterstützt.
Das Parlament könnte das Tempelhof-Gesetz auch ohne Plebiszit ändern.
Das schließe ich aus. Das müssen die Berliner entscheiden.
Noch in dieser Wahlperiode?
Das wohl nicht. Es ist eher ein mittelfristiges Projekt.
Ein Projekt, das die Berliner aktuell bewegt, ist der Mietendeckel. Kommt das Gesetz so wie geplant?
Die Mieten sind eines der großen sozialen Probleme unserer Zeit. Wohnraum ist Teil der Daseinsvorsorge und keine Ware. In den letzten Jahren wurden viele Regelungen geschaffen, um die Mieten zu dämpfen, aber das reicht vorne und hinten nicht. Angesichts drohender sozialer Verwerfungen und einer neuen Gentrifizierungswelle ist der Staat berechtigt, in den Markt einzugreifen. Wir stehen mit dem Mietendeckel auf der Seite derer, die sich und ihre Familie jeden Tag über die Runden bringen müssen. Die Leute können nicht mehr. Um das zu ändern, legen wir uns gern mit der Lobby der Wohnungswirtschaft an.
Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags hält den Mietendeckel für rechtswidrig. Was sagen Sie dazu?
Es wird mit Sicherheit nicht das letzte Gutachten zur Frage der Einführung des Mietendeckels sein. Im Vergleich zu allen bisherigen Gutachten aus dem Bundestag zeigt dieses Gutachten eine neue bemerkenswerte Wendung. Zitat: „Eine Zuständigkeit der Länder für ein Verbot von Mieterhöhungen könnte sich aber aus der Gesetzgebungskompetenz für das Wohnungswesen ergeben.“ Mit dieser Aussage haben die Abgeordneten der CDU/CSU Fraktion im Bundestag, die mit allen Mitteln und krampfhaft versuchen einen Mietendeckel zu verhindern, wohl nicht gerechnet.
An den Eckpunkten des Mietendeckels gibt es auch in der SPD Kritik.
Ich kenne kaum Genossen, die den fünfjährigen Mietenstopp nicht unterstützen. Die Zahl derer, die beispielsweise behaupten, dann müssten städtische Wohnungsunternehmen und Genossenschaften auf Verschleiß fahren, ist sehr überschaubar. Es sind Einzelstimmen, ohne Gewicht in der Partei. Ich warne auch davor, den kommunalen Unternehmen weiterhin zu gestatten, die Mieten jährlich um zwei Prozent zu erhöhen. Bevor wir den privaten Immobilienfirmen einen Mietenstopp verordnen, müssen wir uns an die eigene Nase fassen. Inwieweit die Kritik an einer Absenkung von Mieten berechtigt ist, muss geprüft werden.
Die Immobilienwirtschaft, aber auch Juristen bezweifeln, dass der landesgesetzliche Mietendeckel juristisch haltbar ist.
Ein Gutachten, das die SPD-Fraktion in Auftrag gab, kommt zu einem anderen Ergebnis. Trotzdem rechne ich fest damit, dass gegen den Mietendeckel geklagt wird. Das muss der Staat aushalten. So wie damals, als Berlin als erstes Bundesland einen eigenen Mindestlohn eingeführt hat. Das ging auch vor die Gerichte. Inzwischen hat sich der Mindestlohn bundesweit etabliert.
Angesichts der Pläne für einen Mietenstopp: Kommt Ihnen das Volksbegehren „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ da nicht in die Quere?
Es gibt den alten Spruch: „Will der Graf nicht deichen, muss er weichen.“ In Deutschland enteignen wir permanent, wo es um berechtigte Gesamtinteressen geht. Allerdings werfe ich der Initiative vor, willkürlich enteignen zu wollen. Es sollen alle Firmen mit mehr als 3000 Wohnungen vergesellschaftet werden.
Es gibt aber auch Eigentümer einzelner Mietshäuser, die sich schäbig und gesetzeswidrig verhalten. Und es gibt Vermieter von über 3000 Wohnungen, die sozial agieren. Wer mit seinem Eigentum vernünftig umgeht, soll nicht bestraft werden. Berlin ist angewiesen auf starke Unternehmen, die sich für die Stadt engagieren.
Wird der Senat mit der Initiative über einen Kompromiss verhandeln, um einen Volksentscheid zu verhindern?
Das weiß ich nicht. Ich gehe aber davon aus, dass erst einmal geprüft werden muss, inwieweit die Forderung der Initiative überhaupt verfassungskonform ist. Warten wir’s ab. Ansonsten bin ich der letzte, der sich Gesprächen verweigert. Miteinander reden hilft immer.
Eine ganz andere Frage: Am Mittwoch wurde vor der SPD-Schiedskommission Charlottenburg-Wilmersdorf das Ausschlussverfahren gegen den früheren Finanzsenator Thilo Sarrazin verhandelt. Haben die Sozialdemokraten keine anderen Probleme, bringt Sie der Rauswurf Sarrazins weiter?
Für mich ist der Fall Sarrazin längst abgehakt. Für mich ist Sarrazin schon seit langem kein Sozialdemokrat mehr. Er hat schon vor vielen Jahren den Weg der deutschen Sozialdemokratie verlassen. Er hat Grenzen überschritten, indem er die Menschen auf ihren wirtschaftlichen Nutzen reduziert und sie auf Grund ihrer Religion und Herkunft stigmatisiert.
Das hatten wir in Deutschland schon einmal, und auch heute sehen wir am rechten Terror, wohin Hass und Menschenverachtung führen kann. Ich habe Thilo Sarrazin als einen klugen Mann kennengelernt, aber er hat sich verrannt und misst seinen Erfolg offenbar nur noch am Verkauf von Büchern. Ohne zu bedenken, welchen Geist er aus der Flasche gelassen hat.