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Das Schweizer Haus an der Ecke Unter den Linden/Friedrichstraße überstand den Krieg weitgehend intakt, vom Café Victoria zu seiner Rechten blieb nur ein Schutthaufen übrig. Heute steht dort der Neubau „Upper Eastside Berlin“.
©  Alexander Kupsch/Landesarchiv Berlin

70 Jahre Kriegsende: Ein Fotoprojekt verbindet Damals und Heute zur irritierenden Einheit

Wo vor 70 Jahren Trümmerberge ragten, lassen heute glatte Fassaden jede Vergangenheit vergessen. Auf den Bildern von Alexander Kupsch gleiten die beiden Zeitebenen ineinander über.

Einschusslöcher? Schon möglich, schwer zu entscheiden. Und ohnehin kaum zu erkennen. Nur etwas hellere Flecken hier und da, offenbar Ausbesserungen an der Muschelkalkfassade. Vielleicht nicht mal Kriegsschäden, das Haus der Schweiz an der Ecke Unter den Linden/Friedrichstraße hatte ja trotz der exponierten Lage damals, vor 70 Jahren, nur wenig abbekommen.

Auch dem Haus der „Polnischen Apotheke“ an der nächsten Ecke, der zur Mittelstraße, ist kaum anzusehen, dass es einen verheerenden Krieg mit Bombenangriffen und Häuserkampf überstanden hat. Vermögen aber schon die letzten beiden historischen Gebäude an der Friedrichstraße zwischen Linden und Bahnhof kaum mehr vom Grauen des Mai 1945 zu zeugen, so macht es die übrige Bebauung gänzlich unmöglich, sich hier das Kriegsende vorzustellen. Glatte Neubauten, Geschäftshäuser überwiegend im modernen Einheitslook, ungeeignet als Anhaltspunkte fürs optische Gedächtnis.

Viel Fantasie ist da gefragt, will man sich die Stadt vor 70 Jahren heute vorstellen. Gewiss, es gibt institutionalisierte Ruinen wie die Gedächtniskirche, wiederholt saniert, sodass sie heute mehr Schau- und Fotografierobjekt denn Mahnmal ist. Und es gibt hier und da noch Einschusslöcher an alten Bauten, für die Nachwelt konserviert und teilweise sogar hinter Glas wie an der Villa Parey in der Tiergartener Sigismundstraße 4A, doch überwiegend sind es mit fortschreitender Sanierung verschwindende Spuren. Und die weißen Pfeile, die vor 30 Jahren an Wohnblocks zu den Schutzräumen wiesen, findet man schon lange nicht mehr.

Fotos können da weiterhelfen, riesenhaft wie am Potsdamer Platz und fünf weiteren Orten der Stadt, die Open-air-Ausstellung „Mai ’45 – Frühling in Berlin“ der Kulturprojekte Berlin. Die Bildwände zeigen die Orte bei Kriegsende, eine verdienstvolle Unternehmung, nur ist es mitunter schwer, die historischen Fotos mit der aktuellen Situation in Verbindung zu bringen. Allzu viel hat sich verändert.

Eine Erfahrung, die auch Alexander Kupsch bei seinem Projekt „Ausgebombt! Eine Zeitreise zur Stunde Null“ immer wieder gemacht hat. In der einen Hand ein Foto vom Kriegsende aus dem Bestand des Berliner Landesarchivs, in der anderen die Kamera, hat er versucht, genau den Ort ausfindig zu machen, an dem die alte Aufnahme entstand, und ihn erneut zu dokumentieren, stets mit halbwegs gleicher Brennweite und zur selben Tageszeit, was dank der Schatten noch das geringste Problem war. Denn die Ansichten hatten sich meist völlig verändert. Gebäude waren verschwunden, andere emporgewachsen, Bäume hatten sich in die Höhe geschoben. Nur die Straßen waren, obzwar oft verbreitert, in der Regel gleich geblieben. So waren Straßenschilder oftmals sein einziger Anhaltspunkt.

An sich ist Alexander Kupsch Grafiker bei einer Werbeagentur, dazu leidenschaftlicher Fotograf, der für sein Projekt „Gruß aus Berlin“ seit Jahren die aktuellen Gegenansichten zu historischen Ansichtskarten aus dem Berlin um 1900 sucht und sie, in einer anfangs irritierenden Montage aus Alt und Neu, wiederum zu Ansichtskarten mit zwei ineinander verschränkten Zeitebenen umwandelt und verkauft. Daraus wurden bereits einige Reihen von Fotos, die Vergangenheit und Gegenwart zugleich zeigten, so zu den Judendeportationen aus Moabit oder zur Geschichte Leipzigs – und nun eben zur Stunde null in Berlin. Gut 30 Aufnahmen, bald auch in einer Ausstellung zu sehen, sind so per Fotoshop entstanden, von Sightseeing-Orten wie auch wenig bekannten Kiez-Ecken, halbwegs gleichmäßig auf West und Ost verteilt. Und es ist nicht bei den Standbildern einer eingefrorenen Doppelwirklichkeit des Gestern und Heute geblieben. Vielmehr hat Kupsch seine Bilder zu kleinen Animationsfilmen umgewandelt, in denen die alten Ruinen peu à peu von den Neubauten überlagert werden und sich in Ruinen ebenso stückweise zurückverwandeln.

Zum Beispiel eben an der Ecke Unter den Linden/Friedrichstraße. Vor 70 Jahren gab es selbst im halbwegs intakten Schweizer Haus statt Fenstern nur noch leere Höhlen. Die Gebäude auf der anderen Straßenseite Richtung Bahnhof aber waren ein einziger Trümmerhaufen, aus dem Mauerreste wie riesige abgebrochene Zahnstummel herausragten. „Berlin – der Schutthaufen bei Potsdam“, so hat Bertolt Brecht die in Berlin allgegenwärtige Szenerie beschrieben, Max Frisch wiederum sah nur „ein Hügelland von Backstein, darunter die Verschütteten, darüber die glimmernden Sterne; das Letzte, was sich da rührt, sind die Ratten.“

Der Steinhaufen direkt gegenüber dem Haus der Schweiz waren die Trümmer des Cafés Victoria, es hatte das gleichnamige Hotel, bis Ende des Ersten Weltkriegs eines der besten in Berlin, um gut ein Vierteljahrhundert überlebt. In fünf Schritten vollzieht sich in Kupschs Animation der Weg von Alt zu Neu: Erst taucht links ein moderner BVG-Bus auf, die Fassade des Hauses der Schweiz glättet sich und wird farbig, rechts erscheinen Fußgänger, und die neue Bebauung des „Upper Eastside Berlin“ verschlingt in zwei Schritten die Trümmer des Krieges.

Auch der Kurfürstendamm hat in den 70 Jahren einen Wandel durchgemacht, der verkürzt auf wenige Sekunden atemberaubend ist. Die per Computertrick einmontierten modernen Schaufensterbummler wirken auf dem kriegszerstörten Boulevard schon deswegen deplatziert, weil sie vor lauter Trümmern auf dem Trottoir keinen Schritt vorwärtskämen, ohne einen Bruch des Fußgelenks zu riskieren. Und zu kaufen gibt es in den ramponierten Geschäften sowieso nichts.

Eine Szene vom Askanischen Platz, dem Sitz des Tagesspiegels, hat Kupsch ebenfalls auf den beiden Zeitebenen eingefangen. In der angrenzenden Bernburger Straße, gegenüber von Stülers 1945 fast völlig zerstörter, später rekonstruierter St. Lukas-Kirche, ragen 1945 noch einige Ruinen in die Höhe. Heute ist dort der Parkplatz des Tagesspiegels. Kaum einer, der ihn nutzt, dürfte sich Gedanken darüber gemacht haben, dass dort, wo nun sein Auto steht, einmal Menschen gewohnt haben, vielleicht bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen sind. Grund genug, mit Bildern und Filmen wie denen Alexander Kupschs daran zu erinnern, dass im Neuen das Alte stets mitenthalten ist.

Alexander Kupschs „Zeitreise zur Stunde Null“ ist als multimediale Ausstellung vom 4. bis 13. Mai im Orangelab, Ernst-Reuter-Platz 2, zu sehen, täglich von 12 bis 19 Uhr. Infos: www.grussausberlin.de

Andreas Conrad

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