Wie Berlin wächst: Das Leitbild der Stadt muss neu verhandelt werden
Berlin steht ein atemberaubendes Wachstum bevor. Ob das "ein großes Glück" wird, wie der Senator für Stadtentwicklung sagte, muss sich aber noch erweisen. Ein Kommentar.
In Berlin vollzieht sich gerade in rasendem Tempo eine Zeitenwende, deren Chancen und Risiken atemberaubend sind. Ein Vorglühen wird erkennbar im Haushalt, den gestern der Senat beschloss. Nicht mehr die Tilgung der Schulden von immer noch 60 Milliarden Euro ist das erste, das oberste Ziel, nein: In Angriff genommen wird vor allem die (teure) Wiederertüchtigung einer Verwaltung, die täglich den Offenbarungseid leistet – auf der Straße, in der Schule, vor Gericht, im Amt.
Dabei weiß jeder: Mit den Ausgaben des nächsten Jahres, immerhin wieder 3,5 Prozent mehr als im Jahr zuvor, werden nicht mal die schlimmsten Wunden geheilt, die das notwendige Spardiktat der nuller Jahre sinnbildlich in den Asphalt riss – von den Herausforderungen der kommenden Jahre zu schweigen. Aber davon zu schweigen, das geht jetzt nicht mehr, nicht mehr, seit Anfang dieser Woche der Stadtentwicklungssenator einen dramatischen Wachstumsschub ankündigte: Noch sehr viel mehr Menschen als bisher gedacht werden kommen, um in einer der spannendsten Städte zu leben.
Vier Millionen Einwohner sind keine Utopie, sondern eine Prognose – und die kann auch falsch sein. Aber sich nicht darauf einzustellen, wäre fahrlässig, politisches Versagen. Denn wenn die Zahl stimmt und die Politik sie als Herausforderung annimmt, ist der Etat für die nächsten zwei Jahre schon Makulatur, noch bevor er das Parlament erreicht. Ein Ausgabenplus von 3,5 Prozent vermelden auch Städte, in denen nichts wächst außer dem Gras auf dem Friedhof.
Da kann einem angst und bange werden
In Berlin dagegen wird durch die neue Prognose einfach alles über den Haufen geworfen – nicht zuletzt die Gewissheit, die Dinge ließen sich schon irgendwie regeln. „Ein großes Glück“ nannte der Senator das erwartete Wachstum Berlins. Aber auf dem Weg zum Glück liegt viel Arbeit. Es steht nicht weniger an, als das Leitbild der Stadt neu zu verhandeln. Soll sie in der Mitte wachsen, eng, steinig und hoch? Oder in den heute noch vergleichsweise ruhigen Zentren aller Bezirke? Vielleicht sogar am Rand oder darüber hinaus, mit einem enormen Zuwachs an Pendlern per S-Bahn und SUV? Oder überall gleich? Auch gar nicht zu handeln oder zu spät, ist hier eine Art der Entscheidung – nur dass sie dann willkürlich fällt, zufällig und chaotisch.
Es geht um grundsätzliche Fragen, gegen die solche wie nach der Zukunft des ICC (Diskussionszeit: fünfzehn Jahre) oder des Bahntunnels in Lichtenrade (Planungszeit: ein Vierteljahrhundert) anachronistisch wirken. So viel Muße wie in den vergangenen Jahren wird nicht mehr sein. Da kann einem dann schon angst und bange werden. Wie soll das eine Landesregierung leisten, die es heute nur mit Ach und Krach schafft, wenigstens einigermaßen den Status quo zu verwalten (und vielerorts nicht einmal das)? Wie können die lähmenden Abstimmungsmängel zwischen Senat und Bezirken behoben werden? Wie hält bei alledem die Politik ihr Versprechen, nicht gegen die Bürger, sondern mit ihnen die Stadt von morgen gestalten zu wollen?
Davon, wie heute die Weichen gestellt werden, hängt ab, ob wir in ein paar Jahren kopfschüttelnd auf die Konflikte von heute schauen, auf den Kampf um jeden Baum, um jede Lücke, um jedes freie Feld – oder voller Wehmut, extrem verdichtet in allen Aspekten des städtischen Lebens. Die Chancen sind da. Das große Glück muss sich erst noch erweisen.