Clubszene in West-Berlin: Das Leben nach dem Nachtleben
Techno gab es noch nicht, damals, in den 80ern, in West-Berlin. Aber Menschen, die es mit dem Ausgehen ernst meinten. Ihr Revier war Schöneberg, eine Clubszene, die verschwunden ist. Was machen die, die darin lebten, heute? Drei Frauen, drei Wege.
"Eine musste die Kontrolle behalten"
Später Abend im Hebbel am Ufer. Anne Wilke, Wirtin von Berlins seinerzeit einziger Punkkneipe, tanzt Hula-Hoop. Die Tanzfläche ist fast leer, was Anne Wilke ausnutzt für ihren raumgreifenden Tanz. Sie trägt eine rote Brille und ein weißes Strickkleid mit schwarzen Punkten. Zur Buchpremiere eines Bildbandes über das Berliner Nachtleben ist sie ins Hebbel-Theater gekommen. Als DJ ist dort Gudrun Gut gebucht, Gründungsmitglied der Einstürzenden Neubauten und damals Gast in Wilkes Kneipe Shizzo. Das Shizzo schloss 1980. Wilkes zweite Kneipe, die Berlin Bar in der Uhlandstraße, hielt sich bis 2000: 18 Jahre. Dort perfektionierte sie ihren Reifentanz. Ein kalter Frühlingstag. Für ein Interview hat Wilke, die nach Ende der Berlin Bar in die Nähe des S-Bahnhofs Charlottenburg zog, das Lenz am Stuttgarter Platz vorgeschlagen. Anne Wilke, 63, sitzt mit dunkelbraunem Webpelz und zur Brille passender roter Handtasche vor dem Lokal und zündet sich eine Zigarette an. Das Gespräch wird häufig unterbrochen, Bekannte kommen vorbei und begrüßen sie.
Frau Wilke, Sie betreiben eine Firma für Pyrotechnik. Was machen Sie da?
Ich veranstalte Feuerwerke. Mein Ex-Freund war begeisterter Feuerwerker, er steckte mich an. Seit 2007 bin ich selbst IHK-geprüfte Bühnenpyrotechnikerin. Dazu muss man theoretischen Unterricht machen über chemische Reaktionen, Haftungsfragen und Zündmechanismen.
Sie lebten als Wirtin fast dreißig Jahre lang nachts.
Das tue ich immer noch. Ich bin von Natur aus nachtaktiv. In meinen Bars ging es meist erst ab 6 Uhr richtig los. Ich kam oft erst mittags ins Bett.
Gehen Sie noch aus?
Dazu muss ich mich schon aufraffen. Doch wenn ich auf Geburtstage oder so gehe, bin immer noch die Letzte, die geht. Ich kann gar nicht anders. Zwischendurch helfe ich mit aufzuräumen, wohl eine Berufskrankheit. Ich mag es nicht, wenn Gäste in Privathaushalten die Bierflaschen stehen lassen. Oder wenn die Aschenbecher überquellen. Allerdings, im Shizzo habe ich schon mal, als sich ein Gast über den vollen Ascher beschwert hatte, den Inhalt unter den Tisch gekippt und gesagt: "Jetzt ist er wieder leer."
Angeblich servierten Sie dort die Getränke extra in Gläsern mit Sprüngen.
Das wäre mir zu gefährlich gewesen! Viele Gläser kamen gar nicht zum Abwasch zurück. Die Punks bescherten mir unglaublichen Glasbruch. Einer meiner Gäste, Johnny, hat sich später bei mir entschuldigt. Er meinte: "Anne, tut mir leid, wir dachten, die Gläser kriegst du von der Brauerei." Dabei musste man die damals schon teuer einkaufen.
Ärgerlich, Scherben zusammenzukehren, weil andere es cool finden, Gläser kaputt zu schlagen.
Das gehörte dazu. Ich habe ja im Grunde eine bessere Jugendherberge betrieben. Um 17 Uhr, als wir aufmachten, kamen die 15- bis 17-Jährigen und bestellten Leitungswasser mit Zucker, Zitrone und Strohhalm. Das gab’s zum Nulltarif. Ich war sozusagen die Punk-Mutter. Einer musste ja alles ein bisschen unter Kontrolle haben, damit sich das Chaos unbeschadet entfalten konnte.
Ist es gut, als Wirtin etwas Mütterliches zu haben?
Schon. Ich bin die Älteste von fünf Schwestern. Das prägt. Ich war fürsorglich, hatte beispielsweise auf Iggy Pop immer ein Auge. Als ich einmal privat im alten Dschungel am Winterfeldtplatz war, bemerkte ich, dass Iggy nicht vom Telefonieren zurückkam. In Schöneberg lief damals jemand rum, der einen Vierkantschlüssel hatte, um Telefonzellen zu verriegeln. Der hatte Iggy eingeschlossen. Ich habe ihm erst mal eine Zigarette durch den Türschlitz geschoben. Iggy war Stammgast im Shizzo. Spät nachts kamen oft die DJs und Gäste aus dem SO36 und anderen Clubs zu mir nach Friedenau.
Punk und Friedenau, das klingt heute nach zwei Welten, genau wie Punk und Hula-Hoop.
Meine Gäste mit den bunten Haaren waren schon damals bei vielen Nachbarn nicht gerne gesehen. Auch deshalb wurde mein Pachtvertrag nach zwei Jahren nicht verlängert. Das Reifendrehen habe ich später im Harlekin in der Wartburgstraße gelernt, das heute Pinguin heißt. Das war im 50er-Jahre-Stil eingerichtet, da gabe es auch Hula-Hoop-Reifen. Wenn mich später in der Berlin Bar ein Song richtig packte, bin ich mit meinem Reifen auf die Theke gestiegen. Die Gäste in der ersten Reihe mussten die Köpfe einziehen.
Haben Sie als Wirtin gut verdient?
Aus dem Shizzo bin ich mit Schulden rausgegangen. In der Berlin Bar war nach fünf Jahren alles abgezahlt. Dann habe ich gut verdient. Doch ich war immer zu großzügig, habe zu viel harten Alkohol in die Longdrinks gemischt und zu viele Deckel zugelassen. Und ich habe meinen Gästen viel ausgegeben, aber das gehörte dazu. In einer Szenebar durfte man nicht knauserig sein.
Was bestimmte die Szene-Zugehörigkeit? Ein bestimmter Kleidungsstil?
Man kannte sich einfach. West-Berlin war überschaubar. Mein langjähriger Lebensgefährte war Teilhaber des Dschungels. Wenn dort Feierabend war, kamen manche der Gäste und des Personals auf einen Absacker zu mir. Noch heute kenne ich, wenn ich eine Bar besuche, oft einen Kellner oder den Wirt. Ich werde oft ein bisschen wie ein Ehrengast behandelt, das tut natürlich riesig gut.
Sie haben die Berlin Bar im Jahr 2000 geschlossen. Eine Enttäuschung?
Erst mal war ich einfach froh, dass ich morgens für meine Kinder selbst das Frühstück machen konnte. Mein Sohn war zehn, meine Tochter 14.
Hat Ihnen nichts gefehlt?
Doch. Ich musste ja nie ausgehen, um Freunde zu treffen. Sie kamen zu mir. Feste Verabredungen war ich kaum mehr gewohnt. Auf einmal saß ich zu Hause, und es kam keiner mehr. Logisch. War ja kein öffentlicher Ort mehr.
Wie ging es beruflich weiter? Sie sind Architektin.
Ich war zu lange raus aus dem Job. Erst mal musste ich zum Amtsarzt, der mich für die Gastronomie berufsunfähig schrieb. Ich hatte ständig Schmerzen im Arm. Vom Gläserpolieren. Was mir den Rest gab, war der Caipirinha. Dafür braucht man Crushed Ice. Ich hatte mir für 99 D-Mark eine Haushaltsmaschine gekauft, die man kurbeln musste. Meine Schwester hatte mich gewarnt: "Du machst dein Handgelenk kaputt." Mein damaliger Freund und ich haben dann unseren Betrieb für Pyrotechnik gegründet.
Viele aus Ihrer Generation machten das Nachtleben zu ihrem Lebensraum. Irgendwann leben sie doch wieder am Tag. Wie erklären Sie sich das?
Die Menschen meiner Generation gehen noch weg, allerdings nicht mehr so lange. Einige vertragen nicht mehr so viel, haben ihre Gesundheit vielleicht ein bisschen geschädigt. Das Gute für mich ist: Feuerwerke finden nachts statt. Ich kann meinen Rhythmus beibehalten.
"Mit 40 dachte ich: Willst du ewig hier stehen?"
Todora Osikowski ist zu Besuch in ihrem alten Leben. Mit hellbeigen Wildlederschuhen steht sie im tiefen Sand, von dem sie versichert, dass sie ihn nicht hat ausschütten lassen. Hier in dem Ecklokal am Winterfeldtplatz, das sie früher einmal betrieb.
Todora Osikowski trinkt ein Glas Rosé im Slumberland. Eine Kneipe, die schon ewig zu existieren scheint. Doch auch das Slumberland hatte einen Vormieter, und das war der Dschungel, jenes legendäre Tanzlokal, das, nachdem es in die Nürnberger Straße umgezogen war, von David Bowie besucht und im vergangenen Jahr sogar besungen wurde: "Sitting in the Dschungel / On Nurnberger Strasse / A man lost in time near KaDeWe." Berlin und sein Nachtleben ist zur Attraktion für Menschen aus der ganzen Welt geworden, Bowie und sein Freund Iggy Pop, die Ende der 70er mehrere Jahre hier lebten, waren sozusagen Pioniere.
Jeden ersten Mittwoch im Monat findet im Slumberland ein "Veteranen-Treff" der alten Dschungel-Gänger statt. So nennt es eine regelmäßige Teilnehmerin. Eine Gruppe ergrauter Herren lehnt an der Bar, Todora Osikowski steht etwas abseits, die Arme vor der Brust verschränkt. Sie hat den Dschungel vor vierzig Jahren gegründet. Jetzt wohnt sie in Zürich. Eine elegante, zierliche Frau mit dunkelbraunem Pagenkopf und kariertem Burberry-Schal. Sie wirkt scheu, es scheint, dass Ehemaligen-Abende nicht ihre Sache sind. Doch sie spricht sehr offen: Sie sei heilfroh, dass der Dschungel pleitegegangen sei, auch wenn sie das ihr ganzes Geld gekostet habe. "Sonst wäre ich nie weggekommen aus Berlin. Die Vorstellung, dass ich noch immer jeden Tag denselben Weg von meiner Wohnung in die Nürnberger Straße laufen würde, finde ich beklemmend." Im Slumberland verabschiedet sie sich zu einer Zeit, zu der der Dschungel erst aufmachte: um zehn.
Urlaub mit Rio Reiser
Der Dschungel, der später an der Nürnberger Straße im denkmalgeschützten Tauentzien-Palast residierte, galt den meisten natürlich nicht als beklemmender, sondern als verheißungsvoller Ort. Die Band Ideal besang den Club bereits 1980: "Mal sehn, was im Dschungel läuft / Die Tanzfläche kocht, hier trifft sich die Scene / Ich fühl mich gut, ich steh auf Berlin". Für die von besonders strengen Türstehern Auserwählten entfaltete sich dort eine Gegenwelt zum Alltag. Ehemalige Gäste, die in einer Zeitschrift über den Dschungel befragt wurden, beschrieben ihn als "anderen Stern" oder "als Welt, die größer war".
Andererseits wird die Welt für diejenigen, die lange im Nachtleben arbeiten, klein. Todora Osikowski verbrachte fast zwanzig Jahre im Dschungel, also auf ungefähr zweihundert Quadratmetern. Osikowski weiß die Größe nicht mehr genau. Ein Wirt lebt in seinem Laden, Todora Osikowski stand meistens neben der Tür. "Diese Hand hier", sagt sie, "wen sie nicht schon alles begrüßt hat! Julian Schnabel, Versace. Doch davon bleibt nicht viel."
Für ein weiteres Treffen hat sie das am Winterfeldtplatz gelegene Café Miss Honeypenny vorgeschlagen. Auf dem Markt kauft sie ein, wenn sie in Berlin ist. Sie hat sich an die große Schaufensterscheibe gesetzt - mit Blick auf das Slumberland. Eine Freundin von ihr, erzählt sie, habe Anfang der 70er Jahre eine kurze Affäre mit dem damaligen Wirt der Eckkneipe gegenüber gehabt. Ein gelernter Kellner mit Halbwelt-Kontakten, der die beiden jungen Frauen eines Tages fragte: "Wollt ihr den Laden haben?" Die Freundin meinte: "Komm, lass uns zugreifen."
Ihre Freundin stieg nach zwei Jahren aus, vier Männer stiegen ein. Der Dschungel war ein Kollektiv. Seine Teilhaber verstanden sich als Linke. Todora Osikowski war eng mit Rio Reiser befreundet, dessen Band Ton Steine Scherben den Soundtrack zu den Protesten der Zeit geliefert hatte. Als Studentin war sie sogar einmal mit Reiser und dessen Eltern nach Kopenhagen gefahren. Reiser sang: "Ich will nicht werden, was mein Alter ist." Die Eltern Reiser, sagt Osikowski, seien "eigentlich ganz süß" gewesen.
Reich ist mit dem Dschungel keiner geworden
Todora Osikowski ist Berlinerin, in Schöneberg geboren. Ihr Stiefvater besaß einen Rennstall auf der Trabrennbahn Mariendorf. Dort traf sich, was sich eine Generation zuvor als Prominenz verstand. Rio Reiser legte im Dschungel auf, der Zeichner Marc Brandenburg stand an der Tür. Auch im Dschungel kam Berlins Prominenz zusammen, nur dass Szene-Größen in den 80ern etwa Ratten-Jenny hießen. Tatsächlich
besuchte Ratten-Jenny mit lebender Ratte regelmäßig den Dschungel, was Todora Osikowski nicht besonders gefiel. Sie schätzte bereits damals gutes Design. Blickfang im Dschungel war eine vom Scharoun-Schüler Chen Kuen Lee konzipierte Metalltreppe, die die begehrtesten Plätze bot. Lee starb vor ungefähr zehn Jahren verarmt in einer Sozialwohnung in einem Hochhaus im Märkischen Viertel, das er selbst gebaut hatte.
Reich ist mit dem Dschungel keiner geworden, auch wenn Trauben von Menschen vor seiner Tür Einlass begehrten. "Unsere Kellner hatten alle ein dickes Portemonnaie", sagt Osikowski. Und auf den internen Weihnachtsfeiern sei der Champagnerkeller leer getrunken worden. Aber sie bedauert ihre Großzügigkeit nicht: "Ach was. Unser Personal war klasse. Und mehr als essen kannste nicht."
Im Miss Honeypenny ist eine ehemalige Dschungel-Kellnerin hinzugekommen, sie ist mit Todora Osikowski befreundet. Eine schlanke Frau mit feuerroten Haaren und Jeansjacke, die länger in Indien war und sich mit Berlins neuerem Nachtleben entsprechend schlecht auskennt. Wie es im Berghain sei, sagt sie, würde sie schon interessieren. "Ich fand’s dort wunderbar", sagt Osikowski, die vor Jahren mal dort war. Das lange Warten in der Schlange erscheine ihr mühselig, erwidert die Freundin, vor allem wenn man am Ende womöglich gar nicht reinkomme. "Vielleicht sind wir denen zu alt." Beide Frauen lachen "Haben wir damals eigentlich Ältere in den Dschungel reingelassen?", fragt die Freundin. "Doch", antwortet Osikowski, "Mario Adorf ist immer reingekommen."
Heute sagen Gäste: "Hier habe ich meine Jugend verbracht"
Altern wie Adorf. Das ist ein seltenes Privileg. Todora Osikowski und ihre Freundin wirken alterslos mit ihren mädchenhaften Stimmen und Staturen. Doch echtes Nachtleben reizt sie nicht mehr. Sie erinnere sich an einen Abend im Dschungel, sagt Osikowski, um ihren vierzigsten Geburtstag herum muss das gewesen sein, da habe sie bereits gedacht: Willst du ewig hier stehen? "Die Aussicht fand ich grenzwertig."
Am 31. Mai 1993 musste der Dschungel schließen. Berlins Nachtleben war in die Ost-Bezirke gezogen. Die Teilhaber stiegen aus, Osikowski baute das Lokal zum Restaurant um. Aber auch dieses erlöste die mittlerweile immense Miete an der Nürnberger Straße nicht mehr. "Oft kamen Gäste rein und sagten: ,Hier habe ich meine Jugend verbracht.‘", sagt sie. "Wo die als Kids was durch die Nase gezogen haben, essen sie jetzt Schnitzel. Ich dachte: Nee! Das ist Nostalgie."
Es wirkt sympathisch, wie Osikowski den Dschungel nicht größer, sondern eher kleinredet. Die Rückkehr ins Tagleben sei ihr leicht gefallen, sagt sie. Dabei hatte sie zunächst einen Frühaufsteher-Job: Sie war Frühstücksdirektorin im Hotel "Brandenburger Hof". Später ging sie der Arbeit wegen in die Schweiz. Dort baute sie eine Dependance einer deutschen Casting-Agentur auf.
Das Einzige, was sie aus dem Dschungel noch besitzt, ist eine Tropenholz-Tischplatte in Rautenform und eine Kiste mit Fotos. Doch die Kiste öffnet sie nicht mehr. "Wenn ich darin krame, falle ich in die Vergangenheit hinein, das ist mir nicht angenehm. Ich lebe jetzt."
Todora Osikowski ist heute Rentnerin, 66. Morgen fährt sie zurück in die Schweiz. Zürich sei geselliger als Berlin, sagt sie, deshalb bleibt sie dort. "Ich bin in Zürich in einen fantastischen Freundeskreis eingebettet." Man lade sich gegenseitig zum Essen ein, verabrede sich auf einen Drink - am frühen Abend, "passend zum Lebensalter".
"Nette Leute treffe ich hier an der Tanke"
Im alten West-Berlin war Tabea Blumenschein das, was man heute It-Girl nennt: verlässlich anzutreffen auf den großen Vernissagen, Partys, Premieren der Stadt, umgeben von namhaften Bekannten, darunter die Schriftstellerin Patricia Highsmith und der Maler Martin Kippenberger, und ohne Scheu, sich zu exponieren. Zusammen mit ihrer damaligen Freundin outete sie sich auf dem Cover des "Stern" als lesbisch.
Blumenschein übte auch It-Girl-typische Berufe aus. Sie war Model, Modedesignerin, Sängerin, Fotografin, Kostümbildnerin, Zeichnerin, Regisseurin, Schauspielerin. In mehreren Filmen der Regisseurin Ulrike Ottinger spielt sie die Hauptrolle. Der Künstler Wolfgang Müller, der durch sein Buch "Subkultur Berlin" zum Geschichtsschreiber des Berliner Nachtlebens geworden ist, hat sie damals für seine Band Die tödliche Doris angeworben. Dabei hatte Blumenschein zuvor noch nie Musik gemacht. "Tabea war eine Erscheinung", sagt er. "Eine extreme Schönheit mit wahnsinniger Präsenz. Dabei sehr eigensinnig."
Seit der Wende taucht sie nirgends im Nachtleben mehr auf. Dabei ist Blumenschein - wie die Clubs auch - vom Westen in den Osten gezogen. Allerdings bis nach Marzahn, in die Allee der Kosmonauten. Dort bewohnt sie in einem noch unrenovierten Plattenbau eine Ein-Zimmer-Wohnung von fast klösterlicher Einfachheit. Ein Tisch, zwei Stühle und eine Matratze auf dem Boden. Auf dem Tisch steht Kuchen, den Tabea Blumenschein gekauft hat. Sie ist 61 Jahre alt. Eine kleine, freundliche Frau auf Zehn-Zentimeter-Absätzen, die mit leiser Stimme und süddeutschem Singsang spricht.
Frau Blumenschein, warum sind Sie hierher nach Marzahn gezogen?
Das war in irgendeinem wilden Wahn. Zuvor wohnte ich an der Hauptstraße in Schöneberg, dort war meine Tür eingetreten worden. Genauso wie die Tür des Nachbarn unter mir, der seine Wohnung anschließend mit einem Fahrradschloss verriegelte. Ich fühlte mich unsicher. Ich dachte mir, in Marzahn sind keine Puffs wie an der Potsdamer Straße, da ist es ruhig, und ich kann mich erholen. Ich habe mich dann schon gewundert, dass ich in eine solche Einsamkeit geraten bin unter so vielen Menschen. Die Leute hier sind nicht sehr ausgehfreudig, weil es so wenige Lokale gibt.
Ihrer Wohnung gegenüber liegt das Sojus-Kino ...
... das ist aber schon lange zu. Ich fahre manchmal nach Mitte, ins Cinestar. "Django Unchained" habe ich dort gesehen.
Wann haben Sie aufgehört, abends auszugehen?
Bereits als ich nach der Wende nach Adlershof gezogen bin. Alles stand dort leer. Nach einer Disko konnte man lange suchen. Einmal bin ich in einem Weinlokal neben einer riesigen Tankstelle gelandet. Darin saßen 60-jährige Ostler, und der Wirt schrie: "Na, Frau Blumenschein, wo sind denn deine Punker? Hast du die nicht dabei?" Ich antwortete: "Schon lange nicht mehr." Ich habe damals an der Rudower Chaussee unter bosnischen Flüchtlingen gewohnt. Als Künstler kommt man viel rum.
Sie stammen aus der Nähe des Bodensees. Was verschlug Sie nach Berlin?
Ulrike Ottinger und ich haben hier unseren Film "Laokoon und Söhne" fertiggeschnitten und gleich den nächsten angefangen: "Die Betörung der blauen Matrosen" mit Valeska Gert. Das war 1973. Ich mietete mir eine Wohnung in der Erdmannstraße in Schöneberg.
Schöneberg war das Zentrum des Nachtlebens Ihrer Generation.
Sieben Mark kostete damals ein Taxi vor mir zum Metropol, der ersten Laser-Disko. Ich bin immer Taxi gefahren, weil ich hohe Absätze trug. Man kann nachts nicht durch die Gegend stöckeln. Da kam schon ein Haufen Geld zusammen.
Dennoch mussten Sie damals nicht nebenher jobben. Sie waren als Künstlerin kommerziell durchaus erfolgreich.
Ja (lacht schallend). Ich habe Zeichnungen oder Klamotten partiell verkauft. Die Auftritte mit der Tödlichen Doris brachten kaum was. Manchmal bekamen wir pro Person nur 50 Mark.
Gingen Sie damals jeden Tag aus?
Nein. Dazu hatte ich weder Nerven noch Geld. Ich erinnere mich, wie ich damals die Kostüme für eine Brecht-Inszenierung entwarf. Ich saß den ganzen Tag allein am Schreibtisch und wollte abends unter Menschen. Also bin ich in den Dschungel gefahren. Da waren viele Menschen.
Es liest sich immer so, als hätten Sie einen besonders großen Freundeskreis.
Gehabt, ja. Manche trifft man wieder. Viele leben leider nicht mehr. Martin Kippenbergers Schwester hatte mich vor zwei Jahren zur Vernissage der großen Kippenberger-Ausstellung in den Hamburger Bahnhof eingeladen. Das hat mich sehr gefreut. Ich bin aber nicht hingegangen. Ich finde es immer so traurig, wenn jemand gestorben ist.
Das Nachtleben ist ungesund. Haben Sie mal bereut, so viel ausgegangen zu sein?
Nie. Ich würde mit 80 noch in die Disko gehen. Im Moment mache ich es nicht.
Warum nicht?
Ich habe immer ein bisschen Angst, abends aus Marzahn rauszufahren. Man braucht über eine Stunde, um wieder zurückzukommen. Es gibt hier auch kriminelle Leute. Nachts muss man mit vielem rechnen. Ich gehe jetzt mehr in Cafés in Einkaufszentren: im Quartier 206 an der Friedrichstraße oder im East Gate an der Frankfurter Allee. Ich habe angefangen, abends wieder Bilder zu malen. Man muss sich ja beschäftigen. Manchmal kann ich eins meiner Bilder auch an Freunde verkaufen.
Was faszinierte Sie am Nachtleben: der große Auftritt?
Die Clubs waren eine Bühne. Im Dschungel wurde durchaus durchdiskutiert, was man so anhatte. Mich faszinierte, wie durch Stilisierung verschiedene Images entstehen. Mal trug ich eine Tolle, mal hatte ich die Haare zurückgegelt. Ich war ja kein Star, der immer denselben Typ darstellt. Im Gegenteil. Im letzten Film, bei dem ich mit Ulrike Ottinger zusammenarbeitete, spielte Veruschka von Lehndorff die Hauptrolle. Mittags traf ich sie im Büro: mit Mittelscheitel, ganz Model. Als ich später ans Set kam, hatte Veruschka ein Bärtchen und sah aus wie ein Mann aus der Zigarettenreklame. Ich musste so lachen.
Kennen Sie das Gefühl, etwas zu verpassen, weil sie nicht mehr ausgehen?
Erst hat es mich schon Nerven gekostet, um elf ins Bett zu gehen. Ich habe mich dran gewöhnt. Manchmal werde ich abends immer noch nervös und will raus, und das geht dann schlecht. Hier an der Tanke gibt es ein paar nette Leute, die nachts auch da sind. Man kennt sich. Ob linksradikal oder rechtsradikal - das ist hier alles gar nicht so radikal, weil die Leute aufeinander angewiesen sind.
Pflegen Sie noch Kontakte in die lesbische Szene Berlins?
Nee. Vergangene Woche bin ich am Pour Elle vorbeigegangen. Da dachte ich: Wer weiß, ob man da noch mal hinfährt. Obwohl ich manche Lesben ganz cool finde: Frauen, die so groß und männlich sind. Mit Kurzhaarfrisuren, Blousonjacken. Die gefallen mir schon. Doch am liebsten bin ich zuletzt ins Goya gegangen, da mischten sich die Szenen.
Waren Sie mal im Berghain?
Ja, zusammen mit einem Freund. Da sind diese ganzen tätowierten Männer auf der Tanzfläche, es gibt dort eine Art Darkroom. In die Ecke, hieß es, sollte ich nicht rein. Das ging mir auf die Nerven: Dass ich dies tun und dies lassen sollte.
Tanzen Sie noch so passioniert wie früher?
Weniger. Ich habe so eine Stents-Operation gehabt. Seitdem kann ich mich nicht mehr so drehen und wenden wie früher. Ich soll auch nicht mehr rauchen, trinken, keinen Kuchen und keinen Zucker essen.
Und, halten Sie sich dran?
Letzte Woche habe ich zwei Whiskey getrunken. Man kann nicht ganz abstinent werden. Gut, vielleicht kann man das schon, aber dann muss man seine Ruhe haben und nicht im Plattenbau wohnen, wo die Leute trinken, wie es ihnen passt.
Machen Sie tagsüber Spaziergänge? Marzahn ist umgeben von Grün.
Ein bisschen. Heute war ich bei Kaiser’s einkaufen. Ich bin weiter zu Rewe, und dann dachte ich, jetzt reicht es mit dem Spazierengehen. Viele hier gehen "durch die Gärten", wie sie sagen. Sie meinen die Gärten der Welt in Marzahn. Da sind so japanische Pavillons drin. Ich fühle mich noch nicht alt genug, dass ich einen Stock nehme und mir sage, ich spaziere jetzt mal durch die Gärten.