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Im Auge des Betrachters. Manche nehmen Flugreisen auf sich, um sich bei einem berühmten Tätowierer stechen zu lassen.
© picture alliance / dpa

Tätowierungen: Das geht unter die Haut

Zehn bis 20 Prozent aller Erwachsenen in Industrieländern tragen ein Tattoo. Doch was cool aussieht, ist nicht ungefährlich. Manche Farbstoffe können bakterielle Infektionen oder schwere Allergien auslösen. Dann hilft nur der Gang in die Notaufnahme.

Der Mann war das alte Tattoo auf seinem linken Unterarm leid. Jetzt war er 59 Jahre alt, die Tätowierung war eine Art „Jugendsünde“, die er inzwischen bereute. Er ließ die Stelle erneut tätowieren, um das leidige alte Bild abzudecken. Das war am Nachmittag. Am Abend desselben Tages fand er sich in der Notaufnahme des Helios-Klinikums Emil von Behring wieder. Der Rettungsdienst hatte ihn dort hingebracht.

Zuerst hatte sich sein Arm gerötet und war angeschwollen, dann griff beides, Rötung wie Schwellung, auf die linke Wange über. Als auch Lippen und Zunge anschwollen und er nach Atem ringen musste, wurde die Lage bedrohlich. Die Ärzte diagnostizierten eine „systemische Anaphylaxie Grad III“. „Ohne ärztliche Hilfe hätte das tödlich ausgehen können. Eine solche Anaphylaxie kann zum Schock oder zum Erstickungstod führen“, erläutert Sven Jungmann von der Lungenklinik Heckeshorn am Behring-Klinikum im Gespräch mit dem Tagesspiegel.

Der Mediziner hat den Fall jetzt seinen ärztlichen Kollegen im „Deutschen Ärzteblatt“ vorgestellt. Sein Patient bekam sofort ein Kortisonpräparat und Antihistaminika, eine bei schweren Allergien übliche Behandlung, die glücklicherweise rasch und gut wirkte. Der Mann hatte nach dem Stechen des Tattoos die schwerste Form einer Allergie erlitten.

Ein extremer Fall, gewiss. Bisher sei in der Fachliteratur nur einmal eine solche allergische Schwerstreaktion beschrieben worden, sagt Jungmann. Und dabei handelte es sich um eine Frau, die bekanntermaßen unter schweren Allergien litt. Ganz anders der Berliner Patient, in dessen Vorgeschichte es keine Allergien gab.

Trotz seiner Seltenheit ist dies ein Fall, der zu denken gibt. Zunächst, weil Jungmanns Patient sozusagen Glück im Unglück hatte. „Ich kenne auch Menschen, die Flugreisen auf sich nehmen, um sich bei einem berühmten Tätowierer ‚stechen‘ zu lassen oder es im Rahmen eines Urlaubs machen. Wenn dann so etwas im Flugzeug passiert, ist es schwierig, die richtige Therapie zu erhalten“, erklärt der Arzt.

Die Spitze des Eisbergs

Zweitens ist der Fall aber auch deshalb bedeutsam, weil der allergische Schock gewissermaßen nur die Spitze des Eisbergs darstellt. „Tätowieren muss als einzigartiges Szenario wahrgenommen werden, bei dem die Hautbarriere durchbrochen wird“, schreiben Jungmann und seine Kollegen. Zu Allergien kommt es dabei denn auch nicht gerade selten: Eine Online-Befragung der Universität Regensburg, die fast 4000 Tätowierte in deutschsprachigen Ländern erreicht hat und deren Ergebnisse 2010 in der Fachzeitschrift „Dermatology“ veröffentlicht wurden, zeigte: Zwei Drittel der Befragten litten direkt nach dem Tätowieren, einer von zehn auch vier Wochen danach noch unter Hautproblemen.

Zurück zum Patienten aus der Notaufnahme: Als es ihm wieder besser ging, bat er den Tätowierer um Informationen zu den verwendeten Tinten. Wissenschaftler vom Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) erwarben die Farben beim Hersteller und analysierten sie mit mehreren Methoden auf 28 verschiedene Substanzen. Es fanden sich die Stoffe Nickel und Mangan sowie das Konservierungsmittel Formaldehyd, die alle als Auslöser seiner Beschwerden infrage kommen. Derzeit verlassen sich Kunden wie Tätowierer darauf, dass die in Deutschland gekauften Produkte sicher sind. „Die Tätowierer erhalten in der Regel die Tätowierungsfarben als fertig gemischte Suspensionen. Diese enthalten in der Hauptsache das farbgebende Pigment, allerdings auch eine Vielzahl weiterer Stoffe, denn es gibt für die Herstellung der Tätowierungsfarben keine international gültigen Standards, sie sind keine Medizinprodukte, Kosmetikprodukte oder Arzneimittel“, schreibt der Dermatologe Wolfgang Bäumler von der Universität Regensburg in einem Editorial im „Deutschen Ärzteblatt“.

Zwar gibt es in Deutschland seit 2009 eine Tätowiermittelverordnung mit einer Negativliste problematischer Substanzen. Das Bundesinstitut für Risikobewertung, das im Jahr 2013 eine große internationale Konferenz zur Sicherheit von Tätowiermitteln in Berlin veranstaltete, empfiehlt seit Jahren allerdings, es nicht bei dieser Negativliste zu belassen. Die Hersteller müssten umgekehrt Nachweise dafür liefern, dass die von ihnen verkauften Produkte unbedenklich seien. Kriterien dafür hat das Bundesinstitut schon im Jahr 2012 vorgeschlagen. Informationen zu den verwendeten Inhaltsstoffen finde man auf den Webseiten der Hersteller allerdings heute so gut wie nicht, kritisiert Sven Jungmann. „Auf der Seite eines Herstellers stand sogar eine Zeit lang, man verwende ‚eine geheime Formel‘.“

Kontaminierung durch Bakterien

Im Einzelfall haben sich klammheimlich auch Bakterien in solche Mischungen eingenistet. In der gleichen Ausgabe des „Deutschen Ärzteblatts“, in der Jungmann und seine Kollegen über den Patienten mit dem allergischen Schock berichten, findet sich eine zweite Studie, die diesen Verdacht stützt: Rolf Dieckmann und seine Kollegen haben die internationale Fachliteratur nach Berichten über Infektionen mit Bakterien nach Tätowierungen in den Jahren 1984 bis 2015 durchforstet. Wenn es glimpflich abgeht, werden solche – nicht meldepflichtigen – Infektionen nirgends aktenkundig. Die Autoren fanden Berichte über 67 schwerere Vorkommnisse, darunter auch lebensgefährliche Blutvergiftungen. Zu solchen bakteriellen Infektionen kann es natürlich auch kommen, wenn im Tattoo-Studio unhygienisch gearbeitet wird oder der Tätowierte danach nicht auf die Hygiene achtet. Die Wissenschaftler fanden in einer eigenen Untersuchung, die sie aufgrund dieser Ergebnisse anstellten, aber immerhin in zwei von 39 Tätowierfarben Kontaminierungen durch Bakterien. Teile dieser Tinten gelangen ins Blut und ins Lymphsystem: Schon länger ist bekannt, dass sich in der Nähe von Tätowierungen gefärbte Lymphknoten finden lassen. Mit der Farbe wandern auch die Mikroben ein.

Dass ein Patient kurz nach dem Tätowieren mit schwerer Atemnot in ein Berliner Krankenhaus kam, war bisher ein Einzelfall. Ein Nischenthema sind die gesundheitlichen Gefahren, die mit dem Stechen von Tattoos einhergehen, jedoch nicht: Zehn bis 20 Prozent der Erwachsenen in Industrieländern tragen Studien zufolge mindestens ein Tattoo. Im kommenden März werden sich Mediziner, Tätowierer und Hersteller von Tätowierungsfarben bei einem Kongress der European Society of Tattoo Pigment Research (ESTP) in Regensburg dem Thema widmen.

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