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Die Eingangshalle des Kammergerichtes Berlin.
© Tim Brakemeier/dpa

Berlin-Schöneberg: Das Berliner Kammergericht wird 550 Jahre alt

Ein neues Buch zeichnet die bewegte Geschichte des ältesten Deutschen Gerichtes anschaulich nach. Heute wird es vorgestellt.

Ja, das waren noch Zeiten, als der Kammergerichtspräsident eine 16-Zimmer-Wohnung im Gerichtsgebäude bewohnte, feudal mit Speisesaal, oder als der König es vermochte, die Richter des Kammergerichts für ein Jahr in den Kerker zu werfen, weil ihm ihr Urteil nicht gefiel.

Daran gemessen, ist es heute geradezu langweilig. Vom Kammergericht hört man selten etwas, es ist eine gut geölte Rechtsprechungsmaschine, die allenfalls mal vor Überlastung schnauft, und der aktuelle Gerichtspräsident Bernd Pickel ist auch keiner, der laut und machtbewusst auftritt, mutig voranschreitet oder gar mit der Faust auf den Tisch haut und einfordert, was seinem Gericht fehlt.

Das älteste noch tätige deutsche Gericht

Dabei führt er ein Haus, dessen Standing und Nimbus beachtlich sind. Kein anderes Oberlandesgericht in Deutschland heißt Kammergericht, mit diesem Namen („kamergericht“) wird es 1468 erstmals urkundlich erwähnt. Im Jahr 2013 feierte man den 100. Jahrestag des Umzugs in den heutigen Gerichtssitz am Kleistpark; nun aber ist ein noch viel größeres Jubiläum zu begehen: das 550-jährige Bestehen des Kammergerichts, welches damit das älteste noch tätige deutsche Gericht ist.

In der Epoche der Aufklärung war es ein in ganz Europa gefeiertes Symbol der Rechtsstaatlichkeit. Später stand es für das Gegenteil: Weil die Räumlichkeiten im Volksgerichtshof nicht groß genug waren, wurde der Plenarsaal des Kammergerichts genutzt, um über die Attentäter des 20. Juli 1944 zu richten. Der berüchtigte Vorsitzende des Volksgerichtshofs, Roland Freisler, verkündete hier etwa 70 Todesurteile.

Das Buch „Das Kammergericht in Berlin“, das nun erscheint, fasst die Geschichte anschaulich zusammen; Verfasser ist Michael Bienert, Autor zahlreicher Berlin-Bücher und mittlerweile ein richtiger Stadtchronist. Wer nun denkt, dass dies ein Werk ist, das vornehmlich Juristen interessiert, irrt. Denn das Gericht ist kein geschlossener Organismus, der mit der Außenwelt nichts zu tun hat, im Gegenteil. Die gesamte Zeitgeschichte schlug sich in Verfahren nieder und tut es immer noch.

Heute sind es Fragen wie: Dürfen Eltern in das Facebook-Konto ihrer verstorbenen Tochter schauen? (Nein.) Darf man seinen Sohn Djehad nennen? (Ja.) Wie bestraft man einen 27-jährigen, der Al-Qaida unterstützt und sich entschließt, am gewaltsamen Djihad teilzunehmen? (In diesem Fall mit neun Jahren Haft.) Darf im Fall der Trennung ein Elternteil dem anderen verbieten, mit den Kindern in den Urlaub zu fahren? (Nein.)

Früher waren es Fälle wie: Darf der Dorfpastor Johann Heinrich Schulz („Zopfschulze“) im Amt bleiben, obwohl er sich von der lutherischen Lehre losgesagt hat? (Ja, das war 1792.) Ist Turnvater Friedrich Ludwig Jahn ein Staatsfeind, der die Jugend aufwiegelt? (Nein, befand sein Richter E. T. A. Hoffmann 1820.) War der Dichter Fritz Reuter ein gewalttätiger Umstürzler, der zum Tode verurteilt gehört? (Ja, ein Fehlurteil, es wurde nicht vollstreckt, sondern auf 30 Jahre Haft reduziert; nach sieben Jahren wurde Reuter amnestiert und kam frei. Am Tag seiner Verurteilung, dem 4. August 1836, fällte das Gericht 39 Todesurteile gegen Burschenschafter.)

Wegen des Schwarzen Todes ins Ruppiner Schloss ausgewichen

Dann die Prozesse gegen Linksterroristen, der Mord am Kammergerichtspräsidenten Günter von Drenkmann 1974, zu dessen Trauerfeier 20.000 Menschen vor das Rathaus Schöneberg kamen, das damalige West-Berliner Rathaus. Eine ähnliche Menschenmenge wäre heute undenkbar, der Kammergerichtspräsident ist längst nicht mehr so exponiert, dass Terroristen ihn als Opfer aussuchen würden.

Das Gericht ist mehrfach umgezogen, auch dies folgte den Ereignissen. Als in Berlin 1598 die Pest grassierte, tagte das Gericht im Ruppiner Schloss. Als kaiserliche Truppen im Jahr 1631 Berlin zu belagern drohten, tagte es im Rathaus von Bernau. Dort wo heute die neu errichtete Südfassade des Stadtschlosses steht, saß bis 1655 das Kammergericht in einem Anbau des Schlosses.

Es zog dann in das zum Schloss gehörende Altangebäude, aus dem es 1698 ausziehen musste, um „Platz zu machen für die Prunksucht des ersten preußischen Königs“, wie Bienert schreibt. 1735 zog das Gericht ins Collegienhaus an der Lindenstraße, heute besser bekannt als Altbau des Jüdischen Museums. Der zentrale Festakt für das Jubiläum des Gerichts findet ebendort statt, im Jüdischen Museum am 9. Juni.

Die Richter des Kammergerichts haben des Öfteren Standfestigkeit bewiesen, auch in dem eingangs erwähnten Verfahren, für das drei von ihnen in Festungshaft landeten. Friedrich der Große hatte nämlich zwar dekretiert, dass alle, ob Prinz, Bauer oder Bettler, vor dem Gesetz gleich sein sollen, und angekündigt, er werde niemals in Verfahren eingreifen, doch als die Schadensersatzklage des Müllers Christian Arnold, dessen Mühle man das Wasser genommen hatte, gegen den Wunsch des Königs abgewiesen wurde, griff dieser doch ein und kerkerte die Richter ein.

Auf Umwegen leistete er der Justiz damit dennoch einen Dienst. Die Bürger stellten Kerzen in die Fenster, um dem König zu zeigen, dass sie auf seiner Seite (und damit der des armen Müllers) sind, die Kammergerichtsräte jedoch legten hier die Grundlage für das Ideal des gewissenhaften preußischen Juristen, der lieber ins Gefängnis geht, als sich dem Willen des Königs zu unterwerfen und dafür das Recht zu beugen. Sie saßen in der Zitadelle Spandau ein und stellten keine Gnadengesuche, bis Friedrich Wilhelm II. sie rehabilitierte.

Das Gericht ist gewachsen. Derzeit kümmern sich dort 144 Richter um mehr als 8600 Eingänge jährlich. Im Jahr 1880 gab es 58 Richter, die sich mit 1878 Eingängen befassten. Im Jahr 1900 waren es dann schon 88 Richter für gut 9500 Sachen. Der Gerichtsbezirk war damals viel größer als heute: Er umfasste Berlin, Potsdam und die gesamte Mark Brandenburg – fast 4,5 Millionen Menschen.
Das Buch wird am Donnerstag um 18 Uhr im Plenarsaal des Gerichts an der Elßholzstraße 30-33 vorgestellt.

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