Bundespresseball in Berlin: Das Antidepressivum der Berliner Eliten
Beim Bundespresseball lässt sich der Puls der Republik fühlen. Noch. Denn er puckert schwächer als sonst. Über eine Nacht in Zeiten der Krise.
Die Jugend tanzt in der S-Bahn. Sie braucht keinen Ballsaal. Ich fahre mit der S1 zum Bundespresseball. Zwischen Friedenau und Brandenburger Tor liefern sich die Bettler Aufmerksamkeitsgefechte, die Jugend dreht das Handy auf: „Ich park’ mein Herz bei dir heute Nacht, yeah. Oh Baby, gib mir mehr von deiner Fakelove!“ Die Jugend feiert cool die Simulation von Liebe, während sich die Republik noch fragt, ob Christian Lindner ein Falschmünzer, Verantwortungsflüchtling oder ein Superheld aus der Retorte ist. Wird die Jamaika-Desertion der FDP den Ball dominieren? Oder tanzt man sich den Frust aus Kopf und Knochen? Jammertal oder Tanztherapie? Wird nach vorne getanzt oder nach hinten getreten? Auf ins Getümmel.
Babylon Berlin
Der 66. Bundespresseball findet im Hotel Adlon statt. An die 2300 Gäste aus Politik, Medien, Wirtschaft und Gesellschaft treffen hier walzend aufeinander. Als Entspannungsmittelchen der Eliten gehört der Ball in die Hausapotheke der Bundesrepublik. Er war schon immer ein Antidepressivum in schwierigen Zeiten, eine Entspannungsübung für Rivalen und Erzrivalen, eine Kontaktbörse für Politik und Wirtschaft. Hier wird gedealt, fintiert, sondiert, getauscht, angebahnt, ausgelassen getanzt, beherzt getrunken.
Ist Berlin Weimar? Das Hotel wirft die Zeitmaschine an: Drei Lobby-Hostessen tragen blaue Pagenkostüme der zwanziger Jahre, zwei Ladies in Red, sie sind für die individuelle Gästebetreuung zuständig, ziehen die Blicke mit ihren fragilen flammend roten Fascinators auf sich, 14 goldglänzende Serviermädchen giggeln, machen Selfies und wirken wie die Tiller-Girls. Für einen Augenblick fühlt man sich wie in der Serie „Babylon Berlin“. Sehnt sich das Land nach Sündenvielfalt? Nach krimineller Ekstase?
Die Desillusionierung folgt auf dem Fuß: Das „Superweib“ Christine Neubauer betritt den stahlblauen Promiteppich. Klack, Klack, Klack schießen die Kameras. Man hört, wie sie über ihre Krankheit, Morbus Bechterew, referiert und wie sie sich mit Sport und Tanz gegen die Verknöcherung ihrer Wirbelsäule zur Wehr setzt. Überleben ist alles, auch hier. „Früher war mehr Lametta!“ sagt ein Kameramann.
Der Kommissar und das Model
Auf „Tatort“-Kommissare ist Verlass. Miroslav Nemec und Udo Wachtveitl sind gekommen. Wachtveitl sieht keine Staatskrise, vielmehr seien Gewissheiten in einem guten Sinne erschüttert worden. Eine „Volonté générale“ des Wahlvolkes kann er nicht ausmachen und Neuwahlen seien die „Ultima Ratio“. Im Übrigen sei er ja kein Politiker, er komme vom Theater und halte es daher mit Brecht: „Das Volk hat das Vertrauen der Regierung verscherzt. Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“
Kaum jemand kennt sie. Das Model trägt das eindrucksvollste Kleid des Abends, ein Leg-mir-bitte-die-Welt-zu-Füßen-Kleid, ein Kleid wie ein Schrei. Als sie schwanenhalsig, mit Nackentattoo, den roten Teppich betritt, sind die meisten Fotografen schon weg. Traurig gleitet sie durch die Gänge, mancher Herr tritt unachtsam auf ihre kühne Schleppe.
Die Schere
Die Gastgeberin des Balls ist die Bundespressekonferenz, die Vereinigung der deutschen Parlamentskorrespondenten. Die etwa 900 Hauptstadtjournalisten nehmen die Politik fragend in die Mangel, wer als Politiker vor dieser „Meute“ nicht besteht, wird nicht weit kommen. Herausragende Journalisten zeichnet die Bundespressekonferenz mit einem Preis aus. In diesem Jahr geht er an Kristina Dunz, die als Kanzleramtskorrespondentin der Deutschen Presseagentur Donald Trump im März 2017 unbequeme Fragen stellte. Sie wollte wissen, warum dem Präsidenten Pressevielfalt so große Angst mache, da er so oft von Fake News spreche, aber selbst Dinge behaupte, die sich dann nicht belegen ließen.
Während der Vorsitzende der Bundespressekonferenz Gregor Mayntz die Preisträgerin lobt, schart das Publikum im Ballsaal ungeduldig mit den Füßen. Alle wollen tanzen. Erst als die Preisträgerin das Wort ergreift, steigt der Aufmerksamkeitspegel wieder. Sie weist mit eindringlichen Worten auf die Gefährdung des Qualitätsjournalismus hin. Man freut sich mit ihr und für sie, sie trifft den Ton.
Später resümiert sie: „Für mich hinterlässt ein so großer, festlicher Presseball auch das beunruhigende Gefühl einer großen Schere. Im Adlon ist alles schick und schön und man kann für ein paar Stunden feiern. Und doch wissen zumindest die Journalisten, dass die Branche große Probleme hat. Niemand würde darauf kommen, dass die Autoreparatur nichts kostet oder Lebensmittel umsonst sind. Aber Nachrichten bekommt man kostenlos im Internet.“
Bonjour Tristesse
21. 45 Uhr. Der erste Tanz gehört dem Bundespräsidenten und seiner Frau. Die Band stimmt an: „Que sera, sera“. Steinmeier, das tanzende Beruhigungsmittel: „Whatever will be, will be/The future’s not ours to see/Que sera, sera/What will be, will be.“
Es gibt die Rocker, die Disco-Könige und die ironischen Hüftschwenker. Männer jenseits der Sechzig zeigen erstaunliches Stehvermögen. Der Typus Rocker spielt Luftgitarre, statt des Smokings tritt er überwiegend im Anzug auf. Das Highlight ihres Abends: als die Coverband „Smoke on the water“ spielt. Die Disco-Könige, immer im Smoking, werfen den rechten Arm zur Decke wie einst Travolta, der Zeigefinger weist steil nach oben, mit der linken Hand bilden sie eine Faust und stoßen erdwärts. Die ironischen Hüftschwenker wackeln furchtsam, aber reflexive Überlegenheit andeutend mit dem Unterleib; sie lassen innerlich nicht los, wir tanzen verfassungskonform.
Tone, Steine, Scherben
Caren Miosga tanzt nicht. Nicht hier, nicht heute. Sie gehört der Generation der Tanzschul-Verweigerer an. Als die anderen Standardschritte übten, hörte sie Ton, Steine, Scherben. Und das letzte Mal getanzt habe sie Freestyle zu Stereo Mc’s: „Connected“. In diesem Jahr, findet sie, sei das Bedürfnis, auf dem Ball politischer zu reden, spürbar. Der Bundespräsident, mit dem sie an einem Tisch saß, habe durch die Umstände und sein Handeln große Autorität gewonnen. Die Dynamik der Ereignisse, habe er gesagt, sei auch für ihn überraschend gewesen.
Olaf Glaeseker, der frühere Sprecher des Bundespräsidenten Wulff, fällt beim Tanzen durch eine ausgefeilte Arm- und Handtechnik auf, er wechselt von Zeitlupe auf Zitteraal. Als schlügen die Hände die Luft schaumig, als quirlten sie die Zukunft rosig. Glaeseker tanzt zu Gloria Gaynor „I will survive“. Er soll jetzt als Cheflobbyist für den Burda Verlag die Fäden knüpfen.
Blumenregen
Björn Kroner-Salié gehört zu Fleurops jungen Wilden, die für Fleurop, den „Silberpartner“ des Bundespresseballs, das „Floral-Design“ des Abends entworfen haben. „Wir haben mehr als 6500 Stilblüten verarbeitet“. Die Blumenkompositionen strahlen kühle, gefährdete Anmut und Schönheit aus. Nichts ist von Dauer, flüstern die Blumen. Der Meisterflorist trägt den auffälligsten Anzug des Abends. Er ist von dem französischen Modehaus Lanvin, voller Blumenmuster. Im Vergleich zu anderen Berliner Festen sei das Partyvolk offener, beschwingter und lächelwilliger gewesen, sagt Kroner-Salié. Cem Özdemir, bestens gelaunt, habe an seinem Stand gleich zwei Blütenringe erworben.
Der Ghostwriter
Er hat sich erschöpft am Rand der Tanzfläche niedergelassen, seine weißen Handschuhe sind nun schon etwas grau. Er ist heute Abend der einzige Mann, der Handschuhe trägt. „Auf dem Wiener Opernball sind Handschuhe Pflicht“, klärt er mich auf. Er sei ja ganz unbekannt, unbedeutend, er sei nur ein Ghostwriter, akademisches Ghostwriting seit 1988. Als treuem Stammgast des Adlon habe man ihm eine Restkarte offeriert. Er trägt eine goldene Uhr, goldene Ringe, das Handwerk nährt offensichtlich den Mann.
Nein, die falsche Doktorarbeit von Herrn Guttenberg habe er nicht betreut …. „Wollen Sie es nicht auch einmal als Ghostwriter versuchen?“ fragt er mich und steckt mir eine Karte zu. Neben uns hat sich jetzt der Gerade-noch-so SPD-Generalsekretär Hubertus Heil niedergehockt, für einen Moment sieht es aus, als wollte er nie wieder aufstehen. Liegen lernen? Seine Begleiterinnen scheinen ihm gut zuzureden. Die SPD hat sich die Seele blutig getanzt.
Bonjour Tristesse
Es ist spät geworden, langsam greift Erschöpfung um sich. Ein sehr erfolgreicher Kollege, der nicht genannt sein will, sagt: „Wollte man einen Roman über den Niedergang des Journalismus schreiben, wäre das der Ort, um den Bedeutungsverlust anschaulich auf den Punkt zu bringen. Man braucht uns nicht, nicht einmal mehr zum Geschäftemachen. Wir sind entbehrlich! Ich komme aus dem Pott! Steinkohle! Die Kohle stirbt, der Journalismus stirbt. So einfach ist das!“
Er klingt bitter und belustigt zugleich: „Wissen Sie, Gauck hätte doch den Ballsaal gerockt, der hätte sich an sich selbst und dem Moment berauscht, der hätte selbstbesoffen alle besoffen gemacht. Lachen, Frauen, große Worte, Rührung. Das war Gauck!“ Und Steinmeier? „Steinmeier ist jetzt ernste Gravität, der macht Geschichte.“ Und die FDP: „Ach, die FDP! Die hatte einfach Angst, vernichtet zu werden.“
Der Rücken der Nation
Aus dem Ballsaal weht „I just can’t get enough“ herüber: We walk together/We’re walking down the street/And I just can’t get enough/And I just can´t get enough.
Es ist nicht einfach, sich einen Weg durch die labyrinthischen Gänge zu bahnen. Es ist voll, aber der Fluss stockt auch deshalb, weil stets jemand die Gattin oder den Gatten, sich selbst, die Austernbar, die Champagnerstände oder eine Ansammlung von Partyleuten fotografiert.
Hier feiert die Smartphone-Fraktion. Der Bundespresseball ist wie jedes Live-Event betroffen vom weltgrößten Augenblicksschädling: dem Handy. Auf der Jagd nach Authentizität will jeder die Sekunde konservieren, die kostbar erscheint. Sogar beim Tanzen, hält mancher das Handy fest im Arm wie eine Geliebte. So fressen sich die Augenblicksentwerter durch den Ball. Alle sind hier, aber auch woanders.
Fundsätze
„Lindner hat sich davongestohlen!“ – „Dem Ball fehlt die Mitte.“ – „Was macht mein Steuerberater hier?“ – „Die Hälfte der Fracks ist geliehen.“ – „Wir können nicht so lange wählen, bis es passt.“ – „Erst hatten wir Mutti Merkel, jetzt haben wir den strengen Papa Steinmeier.“ – „Wer Neuwahlen will, begeht politischen Selbstmord.“ – „Die FDP hat sich wie das fünfte Rad am Wagen gefühlt.“ – „Wir sind Schönwetterdemokraten. Mal sehen, was der Winter bringt.“ – „Das Land steht vor ’ner schweren Lungenentzündung.“ – „Politiker sind die letzten Helden in einer postheroischen Zeit.“
Der Rücken
Ich stehe in der Bel Etage und sehe Ulrich Deppendorf, den früheren Leiter des ARD Hauptstadt-Studios mit seiner Frau Ursula. Endlich mal ein aufrichtiger Schnauzer und nicht so ein Hipster-Existenz-Gespinst. Ob wir uns einen Augenblick unterhalten könnten? Eine gewisse Erschöpfung nach den gescheiterten Jamaika-Sondierungen sei zu spüren, sagt er, es seien weniger Spitzenpolitiker da als sonst, eher zweite Reihe. Was die Einschätzung der Lage angeht, halte er es mit Wolfgang Schäuble „Das ist eine Bewährungsprobe, keine Staatskrise.“ Gerade lobt er den Bundespräsidenten, als der wie aufs Stichwort auftaucht.
Wir schütteln uns die Hände, ich vollziehe ganz und gar unfreiwillig einen staatsapplaudierenden Diener mit dem Kopf und senke ihn auch vor Frau Büdenbender mit der freundlichsten Demut. Unvermutet finde ich mich im Zentrum des Geschehens wieder. Im Zentrum und unversehens am Rand. Ich klebe an Steinmeiers Rücken. Die Leibwächter haben eine Art Kreis um uns gebildet. Alle Blicke zielen jetzt auf den ersten Mann im Staate. Ich werde unsichtbar, ein Appendix mit Notizblock, ein Ohr, das nichts hört, denn Steinmeier schirmt mit seinem breiten Rücken jeden Lauschangriff ab. Nur das Wort „verrückt“ taucht einmal auf.
Streit unter Kollegen
„Is doch dekadent hier!“
„Und warum trägst du dann Smoking?“
„Dienstlich! Außerdem von einem Kollegen geliehen.“
„Man siehts!“
„Bitte?“
„Es spannt!“
„Wenn ich ehrlich bin … diese Veranstaltung ist doch aus der Zeit gefallen!“
„Die Republik macht sich locker, amüsiert sich, kommt ins Gespräch, zeigt sich selbstbewusst.“
„Für mich wirkt das bieder zugleich protzig. Und was heißt schon Republik? Das is ’ne Blase!“
„Du bist ein lustfeindlicher Protestant.“
„Und du ein festangestellter Katholik mit integriertem Zapfhahn.“
„Rituale sind wichtig.“
„Mich erinnert das an Helmut Dietls ,Kir Royal’ und diesen Fabrikanten Haffenloher, der Baby Schimmerlos kaufen will: ‚Ich scheiß dich zu mit meinem Geld.’“
„Komm, lass uns was trinken gehen, sonst bekomm ich schlechte Laune.“
Der Graf
Ist das Mainhardt Graf von Nayhauß? Ein kleiner, zerbrechlich wirkender Mann geht durch die Lobby. Er erinnert mich an den romantischen Schriftsteller und Kammergerichtsrat E.T.A. Hoffmann, er wirkt, als habe er eine lange, lange Reise durch schneeverwehte Tannenwälder hinter sich gebracht, der legendäre Chronist der Bonner Republik, Jahrgang 1926. Seit 1981 erschien seine gefürchtete Kolumne „Bonn vertraulich“ in der „Bild“-Zeitung. „Ich will den Ball nicht kritisieren, weil ich weiß, wie viel Mühe es gekostet haben muss, ihn zu organisieren. Er ist ein bisschen groß geworden und sehr laut. Überall war Musik oder der Bundespräsident schaute vorbei. Aber mir hat’s dennoch gefallen.“
War Jamaika das Thema des Abends? „Ach, wissen sie, hier und da mag Jamaika in den Gesprächen vorgekommen sein, aber in meinem Alter, da geht es doch meistens um das Wiedersehen mit Freunden.“ Und früher? In Bonn? Wie war der Bundespresseball in der Bonner Republik? „Da fallen mir zwei Dinge ein. Nach Mitternacht sang Friedrich Nowottny von der ARD mit dem Bundespräsidenten Scheel Arien mit einem Sektkübel als Mikrophon und Horst Ehmke, der Kanzleramtsminister, bewarf die heimgehenden Ballgäste mit Schneebällen. So war Bonn!“
Links und frei
„Die Entscheidungen sind nicht beim Ball gefallen.“ Katja Kipping amüsiert sich. Sie zieht mit ihrer Parteifreundin Caren Lay durch die Nacht. Sie wirken so vertraut wie die königlichen Schwestern in Johann Gottfried Schadows Prinzessinnengruppe, die im Treppenhaus des Adlon steht. „Ich saß mit Wolfgang Kubicki und seiner Frau Annette Marberth-Kubicki an einem Tisch. Wie sie bei den Sondierungsgesprächen auf seinen Hemdenwunsch reagiert hat, zeigt mir, dass sie die Coolere in der Beziehung ist.“
Nein, sie habe in diesem Jahr mit keinem Herren von der CSU getanzt, eher sei so ein individuelles Freitanzen angesagt gewesen. Ihr Fazit? „Man sollte sich nicht von steifen Anzügen täuschen lassen, unter diesen Anzügen schlägt nicht selten ein Tänzerherz und ich habe viele Männer ausgelassen tanzen gesehen. Das fand ich erfreulich.“
23.22 Uhr, Foyer, „Rock me Amadeus“
Letzte Zuckungen
Um 24.00 Uhr wird – das ist so Tradition – Currywurst serviert. Es bildet sich eine lange Schlange. Der Andrang ist bei Weitem größer als zuvor am Austernstand. Vor Jahren, sagt ein boshaft lächelnder Kollege, habe sich ein Alpha-Journalist in die Austernpracht erbrochen. Ein Mann lässt sich gleich zwei Portionen Wurst auf die Pappe schaufeln. In der Lobby singt das Trio: „I got a hangover! I’ve been drinking to much for sure.“
Blickt man vom ersten Stock auf die Lobby, erlebt man kurz nach Mitternacht den Höhepunkt der Ausgelassenheit. „I’m loving angels instead.“ Vintage Vegas rockt das Haus mit mehrstimmigem Gesang, drei Soul-Männer singen Coverversionen, generationsübergreifende Mainstreamhits. Besser wird es nicht. „Seid ihr gut drauf, Party People?“ Die Menge heult, hüpft und grölt mit. Im Hintergrund strahlt der Mercedes Stern wie ein kaltes böses imperatives Auge. In diesem Zeichen sollt ihr leben, lieben, fahren, sterben.
Tänzchen auf dem Vulkänchen
Auf den Tanzflächen setzt die große Lockerung ein. Immer mehr Damen lassen ihre High Heels am Rand stehen und tanzen besockt oder barfuß, manche Herren lassen die losen Ende ihrer nun geöffneten Fliege lässig hängen. Dennoch: Vom Exzess sind wir Lichtjahre entfernt, das ist allenfalls kontrollierter Kontrollverlust. Nur einmal landet eine berserkerhaft rockende Dame auf dem Po, doch das passiert jeden Abend in der Disco auf dem Dorf. Wer Angst hatte, dieser Ball würde ein dekadenter Tanz auf dem Vulkan wird enttäuscht, es ist allenfalls ein Tänzchen auf dem Vulkänchen.
Niemand schreit Krise, niemand macht Alarm, alle geben sich betont gelassen, die Verfassung, der Steinmeier, die Merkel werden es schon richten. Es ist einfach nur ein schönes Fest, vielleicht ist das das Beunruhigende. Die Republik zittert nicht, nicht hier, der Champagner ist das Viagra der optimistischen Auguren.
Lebte George Grosz noch, der kalt und unerbittlich zupackende Gesellschaftschronist der Weimarer Republik, es fiele ihm sicherlich schwer, die Fratzen der Gesellschaft zeichnend zu entlarven. Vielleicht entdeckte er den Typus des denkfaulen Demokraten, vielleicht spürte er eine milde Depression im Gehirn der Republik, vielleicht sähe er lauter verwöhnte Kinder, die ihr Glück zu selbstverständlich nähmen. Vielleicht, vielleicht.
Der Oktopus
Dirk Kurbjuweit vom „Spiegel“ ist schon auf dem Weg zur Garderobe. Er scheint in melancholischer Stimmung zu sein. Er nimmt sich jedoch Zeit für ein Gespräch, er ist kein Aufmerksamkeitsjäger, seine Augen bleiben beim Gesprächspartner. Als der Ball noch im Interconti stattfand, sei die Stimmung hedonistischer gewesen, hier im Adlon sei doch alles kontrollierter, unübersichtlicher. „Fast jedes Gespräch endet mit einem kleinen Kater.“ Viele Kollegen klagen. Die Geschäfte laufen nicht mehr so gut. Was, frage ich, ist die Geschichte dieses Abends? Er denkt lange nach.
„Vor einigen Wochen war ich in London. Total langweiliger Abend, langweiliges Treffen, wirklich tödlich langweilig. Der Mann, mit dem ich sprach, wirkte wie die Verkörperung der Langeweile. Und dann erzählt der mir einen Traum, den er immer wieder träumt, von einem Oktopus, der an seiner Wand auftaucht. Und jedes Mal versucht er diesen Oktopus zu fangen, mit einem gefalteten Blatt Papier, wie man eine Fliege oder Spinne an der Wand fängt. Aber das gelingt ihm nicht, niemals. Und dann träumt er wieder und wieder vom Oktopus. Das ist doch verrückt. Plötzlich war dieser kahlköpfige Mann überhaupt nicht mehr langweilig für mich. Was für eine irre Geschichte. Und so eine Geschichte hab’ ich heute Abend auch erlebt!“
Ich sehe ihn erwartungsvoll an. „Aber ich hab’ sie vergessen. Einfach vergessen.“ Kurbjuweit blickt aufrichtig bekümmert, ratlos, und ich verwerfe den Gedanken, er wolle mich auf den Arm nehmen. Ob er auch mal von Angela Merkel träume? „Nein, nein“, sagt er rasch, „die gehe ich analytisch an, nicht emotional. Hab nie von Merkel geträumt.“
Der Veteran
Sie sind, mit Verlaub, ein Grünohrhase, oder? Das erste Mal da? Haben sie Politikerinnen erwartet, die sich die teuren Frisuren zerraufen, weil es jetzt doch nichts wird mit dem Ministersalär? Rempeleien auf der Tanzfläche? Das ist das Klassentreffen der classe politique. Hier wird mit zugenähten Lippen getanzt. „Unter drei“ heißt hier wirklich „Unter drei“, alle halten dicht. Erdbeben? Welches Erdbeben? Wir Älteren haben erlebt, wie 1989 die Mauer gefallen ist, weil jemand bei einer Pressekonferenz den Überblick verloren hat, wir haben Aufstieg und Fall des Testosteronbombers Gerhard Schröder verfolgt und wir haben zwölf Jahre die kühle Effizienz Angela Merkels hin- und hergewendet, meinen Sie, jetzt könnte uns Christian Lindner schockieren?
Der Jamaika-Knall hat uns und dem Ball gut getan und uns aus der Selbstbetrachtungsfalle geholt. Ich habe Jahre erlebt, da ging es nur um den Niedergang des Journalismus, 2015 hat man sich fast ausschließlich darüber unterhalten, ob Frauke Petry mittanzen durfte, und 2016 ging es um den Aufstieg der AfD. Ich erlebe hier heute mehr fröhliche als besorgte, mehr nachdenkliche als hysterische Gespräche.
Mit der Einschätzung der gegenwärtigen Lage bin ich als langjähriger Beobachter vorsichtig. Erleben wir eine Posse? Einen echten Umbruch der Parteienlandschaft? Das Ende der Ära Merkel? Ist sie morgen Phönix aus der Asche? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass sich die Umschlagsgeschwindigkeit von News dramatisch verändert hat und die, die diese Nachrichten sichten, deuten und analysieren, werden immer weniger.
Die Gesellschaft der Singularitäten
Das Adlon ist ein seltsamer Ort, heute und alle Tage. Nostalgie-Orgie in Beton. Fake-History, Retro-Klotz. Das Fest findet auf zwei Stockwerken statt. Der Ball hat zwei Herzkammern. In der Lobby (die heute Mercedes-Benz-Lounge heißen muss) wird ausgelassener getanzt, eine Art Disco. Im Ballsaal geht es gezügelter zu, Standardtänze, später freies Zappeln. Man verläuft sich oft. Das Handy dient vielen als Kompass und Navi. „Ohne mein Handy wäre ich verloren gewesen“, stöhnt einer. Überall tun sich kleine Zimmer auf. Esszimmer, Kaminzimmer, Bibliothek, Spielbank, Lindenzimmer, Bundeszimmer, Palaissaal, Bel Etage, kleiner Wintergarten, Raucherlounge. Irgendwo wird, mit freundlicher Unterstützung der Tabakindustrie, von einer jungen Frau ein Tabakheizsystem angepriesen. „Riechen Sie etwas? Das ist geruchsneutral. Das können sie auch im Bett einsetzen.“
Flaniert man durch die endlosen Gänge, verliert man leicht die Orientierung, überall ploppen kleine Bühnen auf, die Gäste wirken wie Schauspieler am Set eines Films, der von früher erzählen will und doch am Hier und Heute klebt. Den Gesichtern fehlt die Dramaspur, die Physiognomien bezeugen „Wir sind drin“. Da und dort tropft Ennui aus den Augen, von den Stirnen, aus den Mündern. The dancing dead. Leben wir noch? Lebten wir je? Es wirkt wie eine „Gesellschaft von Singularitäten“, jeder will was Besonderes sein und darstellen, doch darin wirken alle gleich und normal, der Smoking ist die bieder-brave Exzellenz-Garderobe.
Jeder kreist um sich selbst, ein Kosmos von Ego-Athleten. Wo ist die Gemeinschaft? Der Star des Abends ist zweifelsohne der Bundespräsident, er ist das wandelnde Gravitationszentrum und doch reiht er sich ein ins Normalitätsbild. Er beansprucht keine Glamour-Existenz, er ist so grau und streng wie der Bundesadler, die Würde des Amtes trägt er nicht wie eine Monstranz vor sich her, dabei gelingt Steinmeier ein besonderer Zaubertrick: Er ist allgegenwärtig und doch unsichtbar, er ist wie immer und doch ganz anders, ihn schreibt Geschichte, Geschichte schreibt er und doch bekommt man ihn erzählend kaum zu fassen.
Letzte Zuckungen
Die Coverband stellt den Betrieb ein.
„Zugabe, Zugabe“-Rufe.
Auf ein Letztes:
04.07 Uhr, „Highway to hell“
04.13 Uhr, die Live-Band hört endgültig auf zu spielen. Stars vom Band
04.14 Uhr, Stones „I can't get no satisfaction!“
04.30 Uhr, Oasis, „Wonderwall“
04.55 Uhr, Helene Fischer, „Atemlos“
Don't think about the rest
5.15 Uhr, Ballsaal: „Life is life“ von Opus.
When we all get the power/
we all give the best/
every minute of an hour/
don’t think about the rest
Jeder geht für sich allein
Je später die Stunde, desto seltsamer die Raumerfahrung. Ich hatte das Hotel um 16.45 Uhr betreten und bekam die Garderobennummer 001. Um 2.45 Uhr zieht die Garderobe in den kleinen Wintergarten um. Nach und nach schließen die Räume, die Raucher werden aus der Lounge gebeten, ein Raum nach dem anderen wird geschlossen. Der vielfältige Möglichkeitsraum ist plötzlich ein Schrumpfpalast, die letzten Gäste wirken wie gerupfte Nachtträumer. Eben noch ertrank man in Gesichtern, plötzlich erscheinen alle gesichtslos. Eben noch dachte man, hier beginnt ein Roman, jetzt zerfließt alles zu Impressionspfützen, dünnhäutigen Sätzen. Der Ball stirbt.
Nur noch der Ballsaal leistet Widerstand, doch sein Herz schlägt bedrohlich schwach. Drei Paare tanzen bis zur Erschöpfung, als gelte es, ein Preisgeld abzuholen, das vor dem sozialen Absturz rettet. Der DJ lässt den unerbittlichsten aller Rausschmeißer um exakt 5.30 Uhr ablaufen: Frank Sinatra „New York, New York“. Der Barman serviert einen letzten Drink auf dem Parkett. „I wanna wake up in a city, that doesn’t sleep.“ Geschirrwagen fahren klappernd durch die Gänge, Techniker bauen die Musikanlage ab.
Die Maschinerie serviert auch die zähesten Gäste geräuschlos ab. Es bleibt nur der Hinterausgang zur Behrenstraße. Es regnet in Strömen. Jeder geht für sich allein. Ein Pfandflaschensammler bückt sich. Der M 85 kommt drei Minuten zu spät. Die Füße brennen. Das Holocaust-Mahnmal im Regen, es glänzt.
Der Autor ist politischer Dokumentarfilmer und Schriftsteller. Für seinen Film „Angela Merkel – die Unerwartete“ interviewte er zahlreiche Weggefährten der Kanzlerin.