Verleihung des Franz-Bobzien-Preises 2020: „Da war nicht einfach wieder alles gut“
Die Gedenkfeier zur Befreiung des KZ Sachsenhausen musste ausfallen. Trotzdem macht die Entscheidung zum Bobzien-Preis Hoffnung für die Erinnerungsarbeit.
Der Anlass für die Preisverleihung war besonders: Es ging um den 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Sachsenhausen in Oranienburg. Alles war vorbereitet, Überlebende und ihre Angehörigen sollten kommen und der von der Stadt und der Gedenkstätte vergebene Franz-Bobzien-Preis zum sechsten Mal überreicht werden.
Doch dann kam das Coronavirus. Die Feiern wurden abgesagt, in eigens aufgezeichneten und im Fernsehen ausgestrahlten Reden wurde an die Verbrechen der Nationalsozialisten erinnert. Videobotschaften von Überlebenden sind bei einem „Virtuellen 75. Jahrestag“ in den sozialen Medien zu sehen.
Trotz der Absage der Gedenkfeiern sollen die Gewinner des Bobzien-Preises, – dessen Schirmherr Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) ist und der vom Tagesspiegel als Medienpartner unterstützt wird – gewürdigt werden. Es wird ein kleiner Rahmen sein, Abstandsregeln werden einzuhalten sein. Ein Termin steht noch nicht fest.
Der erste Preis, der mit einer Prämie von 3000 Euro verbunden ist, geht an einen Verein aus Berlin für ein Projekt in Brandenburg. Er steht gerade in diesem Gedenkjahr 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs für einen neuen Ansatz in der Erinnerungsarbeit, beim Wachhalten des Gedenkens an die Gräueltaten der Nazis.
Dieses Gedenken ist im Umbruch. Schon vor den Gedenkfeiern war klar, dass es für die wenigen noch lebenden Zeitzeugen ein letztes Mal sein könnte, das letzte große Zusammentreffen an diesem Ort des Schreckens. Es sind nicht nur die 75 Jahre, die den besonderen Jahrestag ausmachen. Es ist auch das Wissen um das Verschwinden jener, die von den Verbrechen der Nazis berichten können, deren Leben Mahnung ist.
Nationalsozialismus aufarbeiten und mit der Gegenwart verknüpfen
Deshalb würdigen die Stadt und die Gedenkstätte seit 2010 alle zwei Jahre Projekte in Brandenburg und Berlin, die in besonderem Maße zu Demokratie, Toleranz und Vielfalt beitragen – vor allem dann, wenn es gelingt, die Aufarbeitung des Nationalsozialismus und seiner Folgen in Deutschland mit der Gegenwart zu verknüpfen.
Die Gegenwart des Gewinnerprojekts – das sind Fünf- und Sechstklässler in der Gemeinde Löwenberger Land, wenige Kilometer nördlich von Oranienburg. Kinder aus dem Ortsteil Grüneberg, denen kaum bewusst war, dass auch in ihrem Ort eines der unzähligen Außenlager existierte, in denen Menschen zwangsarbeiten mussten und gequält wurden.
Das Thema Nationalsozialismus war – wegen ihres Alters – in der Schule noch kein Thema. Der Berliner Verein Schlaglicht hat in seinem Modellprojekt in Grüneberg gezeigt, dass Kinder in diesem Alter sehr wohl in der Lage sind, sich mit diesem Thema zu befassen und sich dazu eine Meinung zu bilden. In diesem Fall geht es um jüdisches Leben im Dritten Reich.
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Inzwischen liefen ähnliche Projektwochen auch in Berlin, Bad Freienwalde und Luckau. Der Ansatz des Vereins: Die Kinder spüren anhand gesicherter Biografien dem Leben jüdischer Kinder nach. „Keine Schule, kein Haustier, kein … – Alltag jüdischer Kinder im Nationalsozialismus“, heißt das Projekt.
Die Schüler vergleichen ihr Leben mit dem jüdischer Kinder. Das, was für sie selbstverständlich ist, wurde den jüdischen Kindern von den Nationalsozialisten verwehrt. In dem Projekt entwickeln die Kinder einen eigenen Zugang. Nicht den vorgegebenen, von den Erwachsenen geprägten Blick, wie Johannes Kreye vom Verein Schlaglicht berichtet.
Es ist eine emotionale Sicht, die ihrem Alter entspricht und unverstellt ist. Bildung bedeutet dabei nicht nur Vermittlung von Wissen, sondern auch von Empathie. Sie lernen: Was den jüdischen Kindern angetan wurde, möchte niemand. Es war falsch und ungerecht. Und vor allem: Sie stellen Fragen, die sich Erwachsene teils nicht mehr trauen.
Für die Kinder ist es ein Ansatz, das Leid der anderen nachzuempfinden
Für Erwachsene, die viel wissen über das Dritte Reich, über die Shoa, mag das harmlos klingen. Für die Kinder ist es ein Ansatz, das Leid der anderen nachzuempfinden.
Die Jury ließ sich von diesem Ansatz aus vielerlei Hinsicht überzeugen. Auch die symbolische Einbettung in die Feiern im 75. Jahr nach der Zerschlagung des Nationalsozialismus trug dazu bei. Der Bobzien-Preis hat in der Hauptstadtregion seit seiner ersten Vergabe deutlich an Renommee gewonnen, 28 Bewerber aus Berlin und Brandenburg – Einzelpersonen, Vereine, Schulen – reichten ihre Projekte ein: Ausstellungen, Konzerte, Filme, Bücher, Theater.
Und alle zeigen, dass die Suche nach den Spuren der eigenen Vergangenheit, nach Antworten für heute nicht vorbei ist, ebenso wie der Versuch, den Opfern der Nazis eine Stimme zu geben.
Warum der Verein Schlaglicht mit seinem Projekt überzeugte
Was die Jury bei dem Projekt des Vereins Schlaglicht überzeugt hat, ist aber nicht nur, wie die Kindern sich das Thema aneignen. Auch die Lehrer werden herausgefordert – und die Kinder tragen ihre Gedanken in ihre Familien, reden darüber unbefangener, freier. Die Erwachsenen müssen sich dazu verhalten. Gerade in Orten wie Oranienburg und seinem Umland mit der Präsenz der Gedenkstätte Sachsenhausen ist die Rede vom Schlussstrich nicht selten – „irgendwann muss doch mal gut sein“.
Aber das ist es nicht. Johannes Kreye erzählt von einem Jungen, der an dem Projekt in Löwenberg teilgenommen hat. Der fragte: „Aber als 1945 der Weltkrieg vorbei war, da war doch für die jüdischen Menschen nicht einfach alles wieder gut, oder?“ Auch deshalb gibt es den Bobzien-Preis.
Oranienburg hat sich lange schwer getan mit seiner Geschichte. Im März 1933 hatte die SA im Stadtzentrum das erste Konzentrationslager errichtet. Von 1936 an baute die SS am Stadtrand das Konzentrationslager Sachsenhausen auf. Es diente als Modell- und Schulungslager vor den Toren der Reichshauptstadt, 200 .000 Menschen waren dort inhaftiert, Zehntausende kamen ums Leben.
Daneben befand sich ab 1938 die SS-Verwaltungs- und Führungszentrale für sämtliche Konzentrationslager – kurz: die Inspektion der Konzentrationslager.
Auch die zweit- und drittplatzierten Projekte, die mit einem Sachpreis bedacht werden, befassen sich mit der Vergangenheit und richten dabei den Blick in die Zukunft. Der Verein „Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus“ hat in einem Modellprojekt mit Willkommensklassen – also mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen – die deutsche Geschichte und den Judenhass aufgearbeitet.
Die Teilnehmer leisten später selbst Aufklärungsarbeit unter Flüchtlingen, helfen bei der Integration. Der dritte Platz geht an ein Projekt von Fans des Fußball-Bundesligisten Hertha BSC. Fans, Mitarbeiter und Nachwuchsspieler erforschen seit 2015 die Geschichte ihres Vereins und die Schicksale jüdischer Mitglieder im Dritten Reich.
In der Jury vertreten sind der Zentralrat der Juden in Deutschland, der Deutsche Gewerkschaftsbund, das Sachsenhausen-Komitee, Bündnisse gegen Rechtsextremismus und die Berliner Landesstelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung, aber auch Verwandte von Franz Bobzien, dessen Name der Preis trägt.
Der Lehrer und Sozialist wurde im Untergrund aktiv, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen. Wegen seines Widerstands war er ab 1938 im Konzentrationslager Sachsenhausen in Oranienburg inhaftiert und half dort jugendlichen Mitgefangenen. Als er zur Bombenräumung nach Berlin geschickt wurde, starb er am 28. März 1941 im Alter von 35 Jahren bei einer Explosion.
Der Autor hat als Mitglied der Jury über den Preisträger mitentschieden.
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