Folgen des Putin-Krieges unterschätzt: Bundeswehr schickt keine Hilfe für Berlin – Katastrophenfall noch nicht ausgerufen
Auch wegen der Verstärkung der Nato Response Force will die Bundeswehr zunächst keine Soldaten für Flüchtlingshilfe abstellen. Das trifft auch Berlin.
Als Vertreter des Berliner rot-grün-roten Senats am Donnerstag noch über ein Amtshilfeersuchen an die Bundeswehr sinniert haben, gab es am Nachmittag intern bereits eine Absage. Bei einer internen Videokonferenz mit Vertretern von mehreren Senatsverwaltungen und Hilfsorganisationen hat ein Vertreter des Landeskommandos Berlin der Bundeswehr bereits ein Stoppsignal gesendet.
Wie mehrere Teilnehmer der Konferenz dem Tagesspiegel berichteten, soll Oberstleutnant Sven Broszeit der Bitte Berlins, Soldaten für die Hilfe für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine abzustellen, eine klare Absage erteilt haben. Demnach behält sich Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) für Amtshilfeersuchen eine Entscheidung im Einzelfall vor. Derzeit würden jedoch keine Ersuchen etwa der Bundesländer bestätigt werden.
Begründet wird die Absage mit der aktuellen Lage, etwa mit der Verstärkung der Nato Response Force. Inzwischen geben Mitarbeiter von Senatsverwaltungen offen zu, dass die Folgen des Putin-Kriegs in der Ukraine zunächst unterschätzt worden sind. „Wir sind hinter Lage und kommen nicht vor die Lage“, sagte ein hochrangiger Beamter dem Tagesspiegel.
Noch scheut sich der Senat aber, den Ernstfall auszurufen. Ein Vertreter eines Bezirksamts hat nach Teilnehmerangaben bei der Konferenz gesagt: „Berlin würde die Hosen herunterlassen, wenn wir die Bundeswehr holen, ohne vorher auch nur ansatzweise die vorhandenen Ressourcen des Landes Berlin zu nutzen." Die Ressourcen seien auch in Berlin vorhanden, sie müssten nur organisiert werden.
Innenverwaltung will bisher keinen Großschadensfall ausrufen
Grund für die Kritik aus Bezirken wie auch aus der höheren Ebene der Sozialverwaltung ist die Weigerung der von Iris Spranger (SPD) geführten Innenverwaltung, einen sogenannten Großschadensfall oder einen Katastrophenfall auszurufen. Damit könnten über den Katastrophenschutz Unterkünfte für Flüchtlinge konfisziert werden. Zudem könnten Mitarbeiter und Firmen leichter als Helfer herangezogen werden.
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Arbeitgeber wären verpflichtet, die Ehrenamtler, beispielsweise von Deutschem Roten Kreuz und Technischem Hilfswerk, freizustellen. Es würden klare Führungsstrukturen bis in die Bezirke hinein eingesetzt werden. Personal aus den Verwaltungen könnte einfacher direkt für die Flüchtlingshilfe abgestellt werden. Notwendige Materialen, wie etwa Zelte, Betten und mobile Toiletten, könnten einfacher beschafft werden - trotz der Ausgabenbeschränkungen durch die aktuell vorläufige Haushaltsführung.
Auch die zahlreichen freiwilligen Helfer könnten besser vom Land erfasst und koordiniert werden. Zugleich würde der Druck auf andere Bundesländer wachsen, Kriegsflüchtlinge aus dem Drehkreuz Berlin aufzunehmen.
Giffey will Katastrophenfall noch nicht ausrufen
Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) hatte dem Tagesspiegel schon am Donnerstag gesagt, dass sie in Berlin noch keinen Katastrophenfall - der im Fachjargon Großschadensfall genannt wird - ausrufen will. „Noch sind wir nicht an dem Punkt eines Katastrophenfalls. Wenn es gelingt, in föderaler Solidarität und mit Unterstützung des Bundes eine Verteilung der Geflüchteten hinzubekommen, brauchen wir dieses Instrument nicht“, sagte Giffey.
Intern wird noch anders spekuliert, warum sich die Senatskanzlei der Regierenden Bürgermeisterin und die Innenverwaltung weigern, den Großschadensfall auszurufen. In anderen Senatsverwaltungen und in Bezirksämtern hieß es, dass dann die Innenverwaltung die Führung übernehmen müsste – und damit Innensenatorin Iris Spranger (SPD) politisch verantwortlich wäre.
Bezirksämter fordern längst die Ausrufung des Katastrophenfalls
Auf Arbeitsebene fordern Senatsverwaltungen und Bezirksämter längst die Ausrufung eines Katastrophen- oder Großschadensfalls. Es fehle bislang eine klare Führung. Zwar soll die Belegung von Turnhallen vorerst vermieden werden, doch die Bezirke sind längst angefragt worden, ob sie die Vorschrift – ein Bett pro tausend Einwohner vorzuhalten – einhalten können.
Noch in der Nacht zu Freitag sind in der ersten Halle der Messe Berlin Betten aufgestellt werden. Geplant ist, dass weitere Hallen in den nächsten Tagen für Flüchtlinge hergerichtet werden. Am Wochenende könnte der alte Flughafen Tegel folgen, wie es aus Senatskreisen hieß. Interne Berechnungen des Senats gehen inzwischen davon aus, dass eine mittlere einstellige Millionenzahl an Kriegsflüchtlingen nach Deutschland kommen könnte.