Nach dem Brexit: Briten wollen Berliner werden
Viele britische Berliner empfinden den Brexit als Desaster und beantragen einen deutschen Pass. Fünf von ihnen sprechen über ihre Pläne nach dem Referendum.
Die Berliner Behörden haben in den vergangenen Wochen einen starken Anstieg der Einbürgerungsanträge von Briten verzeichnet. Eine Beamtin aus Kreuzberg erzählt, dass in den ersten Tagen nach dem Brexit-Referendum vom 23. Juni ungefähr 20 Briten pro Sprechstunde zu ihr gekommen seien. Die Einbürgerung ist aber nur für die Briten möglich, die schon mindestens sechs bis acht Jahre in Deutschland gelebt haben. Wer noch warten muss, wird womöglich auch die Option der doppelten Staatsangehörigkeit verlieren. Fünf Berliner Briten erzählen.
Europäer aus Leidenschaft
Wahlberliner Rob Davies hofft, dass sich seine Heimat noch zusammenreißt. „Ich warte das Ergebnis dieses ganzen Shitstorms ab, bevor ich meine Entscheidungen treffe,“ so der 36-Jährige Brite. „Es macht mich wütend zu wissen, dass mich mein Land einfach im Stich lässt.“ Da Davies schon für die erforderliche Zeit in Deutschland wohnte, hätte der freie Marketingberater Anspruch auf deutsche Staatsbürgerschaft.
Darauf würde er sich nur berufen, wenn er in Folge des Brexits das Recht verlöre, in der EU zu leben. Die Bewegungsfreiheit nutzte Davies, als er 2008 auf der Suche nach Arbeit nach Berlin kam: „Ich habe einfach meine Sachen in einen Koffer geworfen und einen Billigflug gebucht. Ich hatte gar keine Ahnung von Deutschland, die Kultur war fremd, die Sprache konnte ich damals nicht.“ Der Sprung ins Blaue habe er niemals bereut, weil sein Umzug ihm so viele Gelegenheiten eröffnet habe. Er sei gerade deshalb überzeugter Europäer. „Wenn ich mich zwischen meiner britischen Staatsbürgerschaft und dem Europäersein entscheiden müsste, wähle ich Europa.“
In die Stadt verliebt
Liz Gray nervt es, dass das Erasmus-Programm in England oft als bürgerlicher Luxus gesehen wird. „Ich komme aus der Arbeiterklasse. Ich wäre ohne Erasmus nie nach Deutschland gekommen.“ Die Tochter jamaikanischer Migranten, Gray wuchs in der alten Industriestadt Birmingham auf.
2009 zog sie nach Berlin, in die sie sich während eines Erasmus-Jahrs verliebt hatte. „Mittlerweile fühle ich mich in Berlin viel tiefer verwurzelt als auf der Insel,“ sagt die 33-Jährige, die gerne künftig ihr Kinder hier großziehen würde. Hier spüre sie ein größeres Gemeinschaftsgefühl als in England. Schon vor dem Brexit wollte Gray Deutsche werden. Mit dem Amt hat sie schon gesprochen, die Einbürgerungstest-App hat sie auf ihrem Handy installiert. Die Germanistin sollte die Sprach- und Wissensteste leicht bestehen. Ganz entspannt sieht sie das aber nicht. Schließlich setze sie „alles auf die Karte, Deutsche zu werden“.
Schottland im Herzen
Mit einer überwältigenden Mehrheit stimmte Schottland für den Verbleib in der EU. Als sie das erfuhr, war die in Berlin lebende Schottin Rachel Clarke hin und hergerissen. Einerseits war sie entsetzt, dass Schottland gegen seinen Willen aus der EU gezogen wird. Anderseits war sie überglücklich, weil das Resultat neuen Schwung für ein unabhängiges Schottland bringen könnte. „Brexit sehe ich als etwas sehr Negatives, aber das Potenzial eines unabhängigen Schottlands innerhalb der EU wäre eine unglaublich positive Entwicklung“, sagt die Theaterproduzentin, die seit 15 Jahren in Berlin wohnt. Trotz der Unsicherheit zögert Clarke, die Deutsche zu werden: „Wegen des Holocausts fand ich es immer schwierig, mich völlig mit dem deutschen Volk zu identifizieren. Wenn alles gut geht, würde ich lieber einen schottischen europäischen Pass abwarten.“
Kein Weg zurück
Nach vier Jahren in Berlin hat sich Alison Phillips für eine Ausbildung als Krankenschwester entschieden. Dann kam der Brexit. Die Waliserin habe früher damit geliebäugelt, zurück in die Heimat zu gehen. „Jetzt will ich nicht mehr zurück. Das Brexit hat mich abgeschreckt.“ Die 29-Jährige kommt von Anglesey, einer Insel an der walisischen Nordküste, auf der die Mehrheit für den Austritt gestimmt hat. Phillips ist aber keine große EU-Kritikerin. Vor allem seitdem sie nach Berlin gekommen sei, fühle sie sich eher europäisch als britisch. „Vor kurzem war ich im Europa-Center am Brandenburger Tor,“ sagt sie.
„Ich saß da im Modell des EU-Parlaments, und es machte mich so traurig, dass mein Land keine Europa-Abgeordnete haben wird.“ Die Nationalität zu wechseln wäre für Phillips eine Option. Als Tochter eines Halbiren könnte sie sich sofort um einen irischen Pass bewerben, aber lieber würde Phillips Deutsche: „Ich habe nie in Irland gewohnt, es wäre wie ein Betrug, Irin zu werden.“ Einen deutschen Pass fände sie passender, den bekäme sie aber erst in zwei Jahren.
Das Vertrauen verloren
Eigentlich wollte Jack McNeill 2017 zurück nach England, um seine Doktorarbeit in Komposition zu machen. Seit dem Brexit weiß er nicht mehr, ob er das kann. In der Musikwissenschaft sind viele britische Promotionsvorhaben von der EU finanziert. Auch wenn es mit dem Geld noch funktioniert, würde McNeill noch zögern: „Es ist ein großartiges Studium, aber ich will einfach nicht mehr in England wohnen.“
Der 22-Jährige ist erst vor zehn Monaten nach Berlin gekommen. Er wollte nur ein paar Monaten bleiben, seine Musik machen, und dann ein neues Abenteuer suchen: „Aber ich fühle mich hier jeden Tag wohler, mein Deutsch wird immer besser. Es wäre schade, das alles wegzuwerfen.“ McNeill ist im linksliberalen Nord-London aufgewachsen. Der Brexit hat ihn schockiert: „Erst das Referendum hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass ich in einer Luftblase gewohnt habe. Jetzt habe ich ein Gefühl von ‘wir gegen die‘ –London gegen das ländliche England.“ Sorgen hat er, dass die EU es schwierig für ihre britischen Einwohner macht. Der deutschen Regierung vertraue er viel mehr als der britischen, fair und tolerant zu sein. Jetzt überlegt er, ob er seine Doktorarbeit in Berlin verfolgen kann. Dann könnte er europäisch bleiben. Auch, wenn das heißt: Deutsch werden.