Eltern nehmen Kinder von Berliner Schule: Boykott nach Gewalt am Herder-Gymnasium
Etliche Fünftklässler wurden am Freitag nicht in die Schule geschickt. Am Montag ist ein Krisengespräch mit Elternvertretern und Schulaufsicht geplant.
- Susanne Vieth-Entus
- Sylvia Vogt
- Muhamad Abdi
WAS IST AM HERDER-GYMNASIUM LOS?
In einer fünften Klasse am Herder-Gymnasium soll es nach Angaben von Eltern seit Schuljahresbeginn mehrere Gewaltvorfälle gegeben haben. Ein Schüler habe mehrere Kinder attackiert, auch von einem sexuellen Übergriff wurde berichtet. Die Eltern kritisieren, dass die Schule zu wenig unternehme, um die Kinder zu schützen. Am Freitag haben rund 20 Eltern der Schulleitung ein Schreiben überreicht. „Wir haben uns entschlossen, unsere Kinder nicht mehr in Ihre Schule zu schicken. Wir sehen uns zu dieser Maßnahme gezwungen, um dadurch weiteren Schaden an unseren Kindern zu verhindern“, steht in dem Brief, der dem Tagesspiegel vorliegt. „Mit diesem Schreiben fordern wir Sie erneut auf, sofortige, wirksame und nachhaltige Maßnahmen zu treffen, um unseren Kindern einen gewaltfreien Schulbesuch zu ermöglichen.“ Nach Angaben von Elternvertreter Eddy Höfler haben danach fast alle Eltern ihre Kinder mit nach Hause genommen.
Das Herder-Gymnasium ist spezialisiert auf die mathematisch-naturwissenschaftliche Förderung und darf daher schon mit Klasse 5 beginnen. Es hat erst kürzlich wieder zwei wichtige Auszeichnungen bekommen - in Physik und in Schach.
WAS SAGEN DIE SCHULGREMIEN?
Die Gesamtelternvertretung (GEV) distanziert sich: „Das Vorgehen der Eltern, sich an die Presse zu wenden, unterstützen wir nicht“, sagt Julia Waetzmann vom GEV-Vorstand. Die Aktion sei ihrer Kenntnis nach nicht mit allen Eltern der Klasse abgesprochen worden. Auch die Vorfälle stellten sich „in der Wahrnehmung einiger Eltern der Klasse durchaus anders dar“. Der Schülersprecher des Herder-Gymnasiums meldete sich beim Tagesspiegel. Er könne die Vorfälle selbst zwar nicht kommentieren, kritisierte aber die „einseitige Darstellung.“
Dem Tagesspiegel liegen Schreiben vor, mit denen sich Eltern schon im Januar und Februar an die Schule und die Schulaufsicht gewandt haben. In diesen werden Gewaltvorfälle geschildert und um Hilfe gebeten. Die Senatsbildungsverwaltung nahm Stellung: „Die Schule bemüht sich seit den Herbstferien um ein gewaltfreies Klima in der Klasse. Schulpsychologen und eine Gewaltpräventionsbeauftragte wurden eingeschaltet und arbeiten mit der Klasse.“ Zudem habe die Schule „Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen“ angewendet. Am Montag gibt es ein Gespräch mit Schulpsychologen, Eltern und der Schulaufsicht. Die Schulleitung hat den Eltern einen Brief geschrieben, darin erinnert sie an die Schulpflicht und versichert, dass alle Gewaltvorfälle aufgearbeitet werden.
GIBT ES VERGLEICHBARE FÄLLE?
Der Vorgang ist kein Einzelfall. Sehr ähnliche Schilderungen gab es im vergangenen Jahr aus einer anderen Schule in einem Nachbarbezirk. Auch dort berichteten Eltern, dass ein Junge andere Kinder vergleichbar drangsalierte. Dort hieß es, dass die Eltern keinerlei Einsicht zeigten. Letztlich seien sogar Mitschüler von Klassenreisen abgemeldet worden aus Angst vor den Übergriffen des Schülers. Es war davon die Rede, dass die Erziehungsberechtigte immer wieder ihre Anwälte ins Feld geführt habe, um ihren Sohn an der damaligen Schule lassen zu können. Letztlich wurde die Schule den Jungen nur los, indem sie den Vertrag kündigte – es handelte sich um eine private Schule.
WIE IST DIE LAGE ANDERNORTS?
„Mir haben Eltern von mehreren Schulen in Charlottenburg-Wilmersdorf von Gewaltvorfällen berichtet, die ohne sichtbare Konsequenzen geblieben sind“, sagt der FDP-Abgeordnete Marcel Luthe. Er weiß unter anderem von Vorfällen an einem Wilmersdorfer Gymnasium, wo mehrere Kinder in einer sechsten Klasse von einem Mitschüler attackiert worden seien. „Statt Maßnahmen gegen den Störenfried sollte dann sogar gegen die ganze Klasse eine Kollektivstrafe verhängt und die Opfer gemeinsam mit dem Täter bestraft werden“, empört sich der FDP-Rechtspolitiker. Eltern würden oft nicht informiert, wenn ihre Kinder Opfer einer Gewalttat werden. Das Schulgesetz sehe das aber vor. Luthes Ansicht nach liege das Problem bei Schulleitern und Schulaufsicht. „Die Fälle werden oft totgeschwiegen, weil man um den Ruf der Schule besorgt ist.“
Carsten Stahl, der an Schulen Anti-Mobbing-Kurse anbietet, sieht das ähnlich: „Die Verantwortlichen schauen zu oft weg und verharmlosen die Vorfälle.“ Mobbing sei ein riesiges, deutschlandweites Problem. „Es hilft nur Aufklärung und Prävention. Man muss sofort in die Klassen, und mit den Kindern auf Augenhöhe klären, was los ist.“
WAS SAGT DIE GEWALTSTATISTIK?
Bei Gewaltvorfällen gibt es eine eindeutig steigende Tendenz – sowohl bei Tätlichkeiten, Beleidigungen und Drohungen als auch bei schweren körperlichen Übergriffen. Auch die Zahl der sexuellen Übergriffe steigt: Während im Schuljahr 2010/11 insgesamt rund 50 Fälle gemeldet wurden, waren es im ersten Halbjahr 2016/17 bereits 45. Gymnasien melden kaum Gewaltvorkommnisse. So nennt die Statistik für das erste Halbjahr nur drei Fälle für alle Gymnasien in Charlottenburg-Wilmersdorf, aber 47 Fälle an Grundschulen und 43 an Sekundarschulen im selben Bezirk. In den anderen Regionen ist die Relation ähnlich.
Angesichts der insgesamt steigenden Zahl von Gewaltvorfällen hatte der Senat hatte bereits in der vergangenen Legislaturperiode ein Präventionsprogramm aufgelegt.
WAS KANN EINE SCHULE TUN?
Schulen können nur über einen langwierigen Verwaltungsakt versuchen, den Schüler an eine andere öffentliche Schule verweisen zu lassen. Das Ganze muss von Schulgremien empfohlen und mehrschrittig durchgezogen werden, bevor die Schulaufsicht den Verweis anordnen kann – wobei sie auf die Anwälte der Erziehungsberichtigten gefasst sein muss, was bedeutet, dass alle Vorwürfe akribisch festzuhalten sind. Sofern eine Schule versucht, selbst mit dem Schüler zurecht zu kommen, kann sie sich bei Schulpsychologen Hilfe holen. Aber kann man Eltern nicht zwingen, ihr Kind dort vorzustellen. Zudem sind Schulpsychologen knapp. Ansonsten könnten auch Sonderpädagogen oder Sozialarbeiter dazu beitragen, die Lage zu entschärfen, allerdings gibt es an den meisten Gymnasien keine.