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Nicolai Savaskan, Leiter des Gesundheitsamtes Neukölln, steht vor dem Amt.
© dpa

Corona-Pandemie in Neukölln: Bloße Rückkehr zum Routinebetrieb in den Gesundheitsämtern wäre fatal

Um in einem diversen Bezirk wie Neukölln eine Pandemie zu bekämpfen, braucht es mehr als einen Bundestopfdeckel - auch für die Zeit nach Corona. Ein Gastbeitrag.

Nicolai Savaskan leitet als Amtsarzt das Gesundheitsamt im Bezirk Neukölln. Christine Wagner ist Fachärztin für Allgemeinmedizin und leitet den Kommunikations- und Strategiestab im Gesundheitsamt.

Neukölln ist besonders. Nicht einmal das Adjektiv „divers“ schafft es zu beschreiben, wie dieser Berliner Bezirk wirklich tickt. Spätestens seit dem Brandbrief durch die Lehrer:innen der Rütli-Schule, mit dem sie 2006 einen Hilferuf verbreiteten, ist Neukölln bundesweit berüchtigt und bekannt geworden. Für seine Hipster, für seine Clans, für seine Parks und Parties, für seine SUVs, genauso wie für seine Bars und seine internationale Streetfoodkultur. Und seine Probleme.

Neukölln ist verdichtetes Leben und das Brennglas der Nation. Um in einem solchen Bezirk eine Pandemie erfolgreich zu bekämpfen, braucht es mehr als nur den einen Bundestopfdeckel.

Zielgruppenspezifisch und maßgeschneidert informieren 

Zu Anfang steht die Analyse. Wer ist betroffen, wo genau, wie alt sind die Betroffenen, wie viele sind erkrankt und wie viele haben sich wo angesteckt, mit wem leben sie zusammen, mit wem arbeiten sie, was machen sie in ihrer Freizeit, wo gehen ihre Kinder in die Kita oder Schule und wen treffen sie dort. All dies würde man in der Kontaktpersonennachverfolgung verorten. Das ist richtig, aber nicht ausschließlich. 

Das Gesundheitsamt Neukölln hat in der Pandemie eine Kommunikationsabteilung geschaffen. Eigentlich ohne dafür Personal und Budget zu haben, aber mit dem Wissen, dass die Pandemiearbeit allein mit Quarantänisierung nicht ausreicht, um den Neuköllnern gerecht zu werden. 

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Hier entstehen Projekte, die zielgerichtet besonders betroffene Gruppen betreffen. So haben wir „Parkrunden“ eingeführt. Hierzu gehen ein Arzt vom Gesundheitsamt und ein Streetworker, der eigentlich in aufsuchender Jugendarbeit im Bereich Suchtprävention vor Ort arbeitet, gemeinsam am späten Nachmittag durch die Parks und klären konkret die Fragen von Kindern und Jugendlichen an ihren Treffpunkten. 

Christine Wagner leitet die Kommunikation im Pandemiestab in Neukölln. 
Christine Wagner leitet die Kommunikation im Pandemiestab in Neukölln. 
© Daniel Cati

Da werden FFP2-Masken ausgegeben und es wird über den aktuellen Stand der Impfstoffe beraten, über sinnvolle Hygienemaßnahmen und was zurzeit in Berlin erlaubt ist und was nicht. In zwei Stunden können so bis zu 50 Kinder und Jugendliche im direkten Kontakt erreicht werden. 

Diese Kinder und Jugendlichen sind es, die im Bezirk mobil sind, sie treffen ihre Freunde, bewegen sich über öffentliche Verkehrsmittel. Und die Statistik verrät, dass es genau diese Altersgruppe ist, die momentan besonders von der Pandemie betroffen ist. 

Impfen geht nicht ohne Vertrauen und Informieren

Ein anderes Projekt zielt auf die Impfbereitschaft der Bevölkerung. Noch gibt es mehr Impfwillige als Impfstoff, da mag es seltsam anmuten, die Menschen zu einer größeren Impfbereitschaft zu motivieren. Aber schon sehr bald wird sich das ändern und wir werden mehr Impfdosen haben. Zum einen. 

Zum anderen wissen wir, dass, je schlechter der Bildungsgrad ist und je häufiger Transferleistungen bezogen werden, umso geringer die Impfbereitschaft ist. Dem können wir begegnen, indem wir bekannte kommunale Vertrauenspersonen zu Rate ziehen. In diesem Fall Neuköllner Haus:ärztinnen und Multiplikatoren verschiedener Communities. 

Das Gesundheitsamt hat einige von ihnen in ihrer Praxis besucht und gefilmt, sie zum Thema Impfungen befragt. Diese Filme werden auf kleine Sequenzen geschnitten, damit sie in den Shopping Malls im Bezirk gezeigt werden können. Eine digitale Form der direkten Ansprache.

Ein weiteres Projekt ist die mobile hausärztliche Beratungssprechstunde, die auf den Neuköllner Wochenmärkten zweimal pro Woche stattfindet und von einem interkulturellen Aufklärungsteam (IKAT) begleitet wird. Dieses Team spricht insgesamt 13 Fremdsprachen fließend. Damit decken sie einen Großteil der im Bezirk beheimateten Muttersprachler ab. 

Für diese Sprechstunde sitzt ein Arzt des Gesundheitsamtes in einem Anhänger und berät zum Thema Corona. Auch Abstriche können durchgeführt werden. Flankierend spricht das IKAT die Menschen auf der Straße an, lädt sie ein, an der Sprechstunde teilzunehmen. So können an einem Tag 70-80 Kurzberatungen stattfinden. 

Da geht es vor allem auch um den Abbau von falscher Zurückhaltung aufgrund von Sprachbarrieren sowie um die Vertrauensbildung in der Bevölkerung für das Gesundheitsamt. Mit dem gleichen Ziel bilden wir in Neukölln digitale Corona-Lotsen aus, also digital natives, die in sozialen Netzen unterwegs sind und ihre Reichweite mit Gesundheitskompetenz zu Corona ergänzen. 

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Der Bedarf nach zielgruppenspezifische Aufarbeitung von Gesundheitsinfos ist gestiegen. So haben sich die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (Stiko) zum Impfstoff von Astrazeneca mehrmals so widersprüchlich geändert, dass es ohne vertrauensbildende Aufklärung praktisch unmöglich ist, Menschen für diesen Impfstoff zu gewinnen. Und das gleiche Drama zeichnet sich gerade mit den Janssen-Cilag-Impfstoff von Johnson & Johnson ab. 

Bisher durften Menschen aller Altersgruppen von 18 Jahren an den Impfstoff erhalten. Nun kam die Vollbremse: Der Janssen-Cilag-Impfstoff von Johnson & Johnson darf nach den Empfehlungen der Stiko nur an Menschen ab 60 Jahren verimpft werden. 

So verschieden die Menschen in Neukölln sind, versuchen wir die verschiedenen Kanäle zu bespielen. Denn eines hat die Pandemie gezeigt: auf die Gesundheitsämter kann das deutsche Gesundheitssystem nicht verzichten. Es ist dabei entscheidend, dass die Gesundheitsämter in der Bevölkerung nicht mit einer Zeigefinger-Mentalität in Verbindung gebracht werden, sondern dass niedrigschwellig Beratung und Hilfe geleistet wird. 

Wampe, Fluppe und Sesselhocken: Long-COVID Syndrom der Gesundgebliebenen

Was nun an Energie in die Bekämpfung der Pandemie gesteckt wurde, muss kanalisiert werden, für einen sinnvollen und nachhaltigen Wirkungskreis nach der Pandemie. Durch den Pakt für den öffentlichen Gesundheitsdienst, in dem der Bund vier Milliarden Euro bereitstellt, müssen neue Stellen in den Gesundheitsämtern geschaffen werden, und zwar eben für Gesundheitskommunikation und Öffentlichkeitsarbeit. 

Es ist nun wichtig, kommunal diese Stärke zu nutzen und im Sinne des öffentlichen Gesundheitsschutzes gerade die Bereiche Prävention und Gesundheitsförderung stärker zu bedenken sowie den Aspekt Gesundheit in allen bezirklichen Ämtern zu verorten. Denn auch Wampe, Fluppe und Berliner Luft ist ein Long-COVID Syndrom der Gesundgebliebenen. 

Das sind nicht einfach Kollateralschäden, wenn Kinder von Übergewicht/Adipositas und Bewegungsmangel reihenweise betroffen sind. Das hat gesundheitliche Folgen für das ganze Land und das für viele Jahre. Und dabei sind die psychischen Folgen noch gar nicht abzuschätzen.

Es muss weiterhin öffentliche Aufgabe sein, die Bevölkerung dort, wo sie lebt und arbeitet, zu beraten, subsidiär und sektorenübergreifend zum ambulanten und stationären Gesundheitssektor seine Aufgaben wahrzunehmen. Themen, die international bereits Beachtung fanden, wie beispielsweise die Zuckersteuer oder das Abwassermonitoring von Gesundheitsmarkern in Kiezen, sollten auch in Deutschland als neue Bevölkerungsmedizin, als Medizin für die Bevölkerung Eingang finden. 

Auch hier ist die Beteiligung des öffentlichen Gesundheitsdienstes gefragt. Eine ausschließliche Rückkehr in den alten Routinebetrieb wäre fatal. Neukölln braucht mehr als bisher da war. So kann gesundheitliche Chancengleichheit und Gesundheitsschutz gelingen.

Nicolai Savaskan, Christine Wagner

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