Zu Besuch in der Markthalle 9 in Kreuzberg: Zwischen Buletten-Historikern und Bionade-Gentrifizierern
Mit "Berlinale goes Kiez" streckt sich das Filmfest bis in die Markthalle Neun in Kreuzberg. Das Essen ist Spitze - vor allem aber ist die Markthalle ein grandioses Kreuzberger Soziotop.
Heute, sagt Werner, geht alles über die Produkte. Die feinen Produkte, die man hier kaufen kann. Früher, sagt Werner, kam man auch in die Markthalle in Kreuzberg wegen der Sachen, die eben nicht da waren. „Wenn man etwas brauchte, ging man zum Herrn Heinrich, und der besorgte es einem bis zum nächsten Tag.“ Herr Heinrich ist nicht mehr, so wie die Friseurin Rosi und fast alle Stände aus dem letzten Jahrtausend. Nur Inge und Werner, die gibt es noch. Sie schmeißen den Stand in der Mitte der Halle. Filterkaffee. Bockwurst. Capri-Sonne. Diejenigen Besucher, die noch nicht so bio sind, halten sich hier eine Weile am Tresen in der neuen Gegenwart fest. Zu ihren Füßen die Tüten von Aldi.
Der Stand stellt sowohl durch sein Angebot, als auch durch die mäandernden Biografien der Betreiber Kontinuität zu den späten 80ern her. Gegen das grundsätzliche Frösteln an der neuen Zeit bestellen die Stammgäste einen Filterkaffee, der Gott sei Dank erst seit heute früh um acht auf der Platte steht. Für die meisten anderen ist hier seit der Neueröffnung 2011 eine Speerspitze des kulinarischen Berlins entstanden, regelmäßig durchpulst vom Kreuzberger Leben. Kik und Aldi sind noch in der Halle, aber freitags und samstags gibt es einen erlesenen Wochenmarkt, Donnerstags den „Street Food Thursday“. Täglich die Kantine, das Café und einen italienischen Bäcker. Vordergründig geht es um Lebensmittelversorgung, aber eigentlich, wie immer, um alles: Wem gehört die Welt? Und wie kann man sie retten? Das beantwortet natürlich jeder auf seine Weise.
Wem gehört die Markthalle 9? Wem gehört die Welt?
Da, nebenan, Torten von „Frau Zeller“. Keine künstlichen Aromen. „Vierte Generation“, flüstert Nikolaus Driessen ehrfürchtig. Biografie ist die Währung. Biografie schafft Glaubwürdigkeit. Sie unterscheidet den Möglichkeitsmenschen von dem, der sich entschieden hat. Driessen ist einer der drei Betreiber, und größte Bewunderung bringen sie zum Beispiel für Tobi und Anna auf, die sich entschieden haben, alle ihre Ersparnisse für einen Räucherofen aus den USA auf den Kopf zu hauen und in einen Originalimport aus Tennessee zu investieren, mit dem sie nun Schwein unerhört zart kriegen.
Die Markthalle ist deshalb natürlich vor allem eine kulinarische Entdeckung. Aber auch eine städtebaulich-soziale Verpflichtung. Die drei Betreiber glauben, dass sie mit ihrer Halle die Agora in die Stadt zurückbringen können. Dabei geht es um Begegnungen. Sie berauschen sich am analogen Aufeinandertreffen der Welten. Hier werden nicht nur Preise verhandelt, sondern auch Meinungen, Positionen, Rangfolgen. An Erntedank und Weihnachten hält der Pfarrer der benachbarten Gemeinde hier einen Gottesdienst. Sie suchen dieses osmotische Verhältnis zur Nachbarschaft.
Mischt sich in die Markthalle 9 "Gentrifizierungs-Odeur"?
Mischt sich in den Räucherduft von „Glut und Späne“, in den Geruch des 12 Stunden garenden Fleisches im importierten Räucherofen, mischt sich in alle diese Aromen nicht ein leichtes Gentrifizierungs-Odeur? Ist das hier ein Ufo des guten Geschmacks?
Wenn man ihre Haltung sehen wolle, solle man zum „Bauernfrühstück“ kommen, sagt Nikolaus Driessen. Weil Lebensmittel auch politisch sind. Einige Dutzend Bauern, die die Nacht durchgefahren waren mit ihren Traktoren, um später zur Bauerndemo vor das Kanzleramt zu fahren, konnte man also Ende Januar um acht Uhr euphorisiert in der Halle stehen sehen, die Demofahnen im Gepäck. Hier wurden sie zum Frühstück eingeladen. Bei solchen Sachen, sagt Driessen, sind die Anwohner dabei. Das sind die politischen Mittel, mit denen sie aufgewachsen sind. Die Kreuzberger, die mit ihren Hausbesetzungen die Altbauten retteten, haben nun die Möglichkeit, die Landwirtschaft zu retten.
Doch die Techniken, um die Welt zu verändern, haben sich längst selbst verändert. Die eine Generation glaube an Demonstrationen, Ausschüsse und Wählermacht, die nächste an Konsumentenmacht. Wenn Letztere nur über den „richtigen“ Konsum die Nachfrage generierten, würden sich auch die Strukturen entsprechend ändern. Die meisten wollen heute lieber Dinner statt Demo. Politik durch Produkte. Die anderen können nicht glauben, dass man Essen schon Engagement nennen kann. Möglich ist deshalb auch, dass sich die gleichen Nachbarn beschweren, wenn sie am Donnerstagabend keinen Parkplatz finden, weil in der Halle bis zehn Uhr abends der „Street Food Thursday“ – man muss wohl sagen: tobt.
Fleischesser, Pelzmäntelträger - Wer so zum "Street Food Thursday" kommt
Unter den Besuchern viele Fleischesser, unironisch getragene Pelzmäntel und über viele Jahrzehnte erkennbar kostspielig gecremte Gesichter aus anderen Stadtteilen. An den Ständen ein Wettbewerb der Garzeiten: 12-16 Stunden das Fleisch im BBQ-Sandwich, 16 Stunden bei 85 Grad das Hirschfleisch, neun Stunden Nacken, Bauch und Rippe im Ofen des Franzosen. Auch das eine Veredelungstechnik, für die eigentlich weniger guten Fleischstücke. Hinter dem Bierstand liegt das Büro der Betreiber. Alle drei sitzen an riesigen Schreibtischen vor dem gewaltigen Tresor, der von Schlecker übrig blieb.
Zwei aus dem Trio kennen sich, seit sie 16 sind. Florian Niedermaier und Bernd Maier aus Augsburg, ein Kulturwissenschaftler und ein Physiotherapeut, haben schon immer von Markthallen geschwärmt. Denn egal, wo sie hinkamen, „in Bangkok, Vietnam, München, Florenz – der Markt war immer echt“. 2008 lasen sie in der Zeitung, dass die Halle in der Eisenbahnstraße verkauft werden sollte. „Wir waren noch naiv,“ sagt Bernd Maier. Sie sprachen beim grünen Bürgermeister Schulz vor: „Wir finden, dass Markthallen wie die Bundesbahn in die öffentliche Hand gehören.“ Aber der Liegenschaftsfond wollte verkaufen. Und so boten sie halt mit. Der Bezirk machte eine gute Figur, als er die Halle nicht einfach an den Meistbietenden abgab, sondern einen Konzeptwettbewerb mit Bürgerbeteiligung ausschrieb. Mit Büros und Wohnungen hatten die beiden nichts am Hut. „Aufgeweichte Mischkonzepte gibt es viele – wir wollen der beste Lebensmittelstandort Berlins werden.“
Die richtige städtische Mischung geht nur mit "Aldi"
Anfangs wollten sie so schnell wie möglich die Filialisten raus haben. Schlecker starb eines natürlichen Todes, der Nachfolger Drospa ging im vergangenen Herbst. Aber dann sehen sie, dass die städtische Mischung durch Aldi eigentlich erst verursacht wird. Dass so nicht nur die Foodies kommen, sondern echte Begegnungen stattfinden. „Das mussten wir auch erst lernen“, sagt Driessen, der Betriebswirt. „Ich habe früher auch nur bei Aldi eingekauft.“
Die Lebensmittelpolitiker waren ja Bernd Maier und Florian Niedermaier, die ehemaligen Besitzer der Meierei im Prenzlauer Berg. Driessen dagegen ist nun selbst das beste Beispiel für Erziehung durch ständigen Kontakt. Da fliegt die Tür auf. Ein Bregenzer steht drin. Alle zwei Wochen fährt er die Irrsinnsstrecke nach Österreich und karrt seinen Käse für den Marktverkauf heran. Der Bregenzer will auch nur seinesgleichen als Verkaufspersonal einstellen. Er fürchtet, sonst nicht glaubwürdig zu sein, wenn andere als Bregenzer den Bregenzer Käse über die Theke reichten. Biografie ist die Währung. Deshalb hat er alle Aushilfen eingeladen, seine Wiesen zu besichtigen, und die Kühe, aus deren Milch der Käse hergestellt wird. Er winkt zum Abschied, bevor er ins Auto steigt, und alle freuen sich daran, dass es zu allem immer eine Geschichte zu erzählen gibt. Der Bregenzer hat für sein Berliner Engagement nämlich einen Job bei der Sparkasse aufgegeben.
Jetzt ist es gleich halb zehn Uhr am Abend. 70 000 Liter Heizöl hat sie die Halle im letzten Jahr gekostet, „und es war trotzdem nicht warm“. Draußen brodelt noch immer der Thursday. Man öffnet die Bürotür zur Halle: Wie eine Wand steht da die dichte Partyatmosphäre. Feuchte Luft, aufgekratzte Stimmung. Es ist die Stimmung einer Küchenparty, nur, dass die Küche 2800 Quadratmeter hat und darin Dutzende Herde heizen.
Würde er jeden Tag so einen Umsatz machen wie am „Street Food Thursday“ mit seine Getränken, könne er gut existieren, hatte Werner gesagt. Und Inge hatte gesagt, dass sie sich etwas einfallen lassen müsse, um in der neuen Zeit mitzuhalten.
Und wo sind sie jetzt? Bei Inge und Werner baumelt donnerstags ein buntes Schild: „Berlin Beef Balls“. Zwei junge Typen wenden Fleischkugeln in einer Pfanne. Beef Balls? Verdammt, hießen die nicht gestern noch Buletten?
Dieser Artikel erscheint im Kreuzberg Blog, dem hyperlokalen Online-Magazin des Tagesspiegels.