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Admiral Wilhelm Canaris, Mitglied der Kirchengemeinde Schlachtensee und von 1937 bis 1944 Nachrichtenchef im NS-Staat, 1943 in seinem Garten in Berlin-Zehlendorf.
© Familie Hoseit

Zehlendorf im Nationalsozialismus: Täter und Widerständler

Am 9. April 1945 wurde Wilhelm Canaris gemeinsam mit Dietrich Bonhoeffer im KZ Flossenbürg erhängt. Die Kirchengemeinde Schlachtensee versucht zu ergründen, wer ihr prominentes Mitglied wirklich war.

In Zehlendorf waren sie häufiger Nachbarn als anderswo in Berlin: die Spitzen des NS-Staates, Offizielle von SS, SD und Gestapo. Und die durch sie Verfolgten.

Zehlendorf, Dahlem, Schlachtensee waren Orte des Widerstands und der stillen Helfer und vor allem Helferinnen, aber sie waren eben auch Orte der linientreuen Nationalsozialisten oder der nationalsozialistischen Mitläufer. Und dann gab es auch noch diejenigen, die einerseits verantwortlich im Machtapparat des NS-Staates wirkten, gleichzeitig aber auch Retter in der Not waren – wie Admiral Wilhelm Canaris, Chef des deutschen Nachrichtendienstes.

Mit dem Pfarrer der Pauluskirche half er, Juden zu retten

In dieser Rolle war er eine wichtige Stütze eines mörderischen Systems. Er hat gewusst, dass die Nationalsozialisten Verbrecher waren. Dennoch hat er ihnen in führender Funktion gedient. Müssen wir ihn dafür schuldig sprechen? Das ist nicht die Intention dieses Textes, der versucht, den Menschen Wilhelm Canaris in seiner Widersprüchlichkeit, mit seinen dunklen und helleren Seiten, darzustellen.

Von 1937 bis 1944 lebte Canaris mit seiner Familie in Schlachtensee. Er war als gläubiger Christ Gemeindemitglied und in der Nachbarschaft gut bekannt. Wenn er mit seinem schweren schwarzen Mercedes von zu Hause in Zehlendorf zum Dienst abgeholt wurde, fuhr er durch die Betazeile (heute Waldsängerpfad) und grüßte vor allem die Mitglieder der Familie Wisten freundlich. Canaris wusste, dass Fritz Wisten, der Leiter des Theaters des jüdischen Kulturbundes, von der Gestapo nur deswegen geschont wurde, weil er in einer „privilegierten Mischehe“ lebte. Trotzdem sah sich die Familie dem nationalsozialistischen Terror ausgesetzt, so dass Canaris helfend eingreifen musste.

1935 Canaris mit seinem Schwager Max Hoseit, Ostseee
1935: Canaris mit seinem Schwager Max Hoseit an der Ostsee.
© Familie Hoseit

Den Vermittler spielte Pfarrer Heyden. Canaris Töchter waren mit denen von Fritz und Trude Wisten in eine Schule gegangen, solange das noch für Kinder von „Juden“ erlaubt war. Die Kinder gingen später auch gemeinsam zum Konfirmandenunterricht beim Pfarrer. Canaris hatte sich offensichtlich bewusst für den Pfarrer der Pauluskirche entschieden, weil er in ihm einen Gegner der Nazi-Ideologie und einen Vertrauten sah.

Eines Tages informierte Pfarrer Heyden in einem vertraulichen Gespräch eine der Töchter, dass sie sich jederzeit an die Familie Canaris wenden könne, wenn ihre Eltern Verfolgungen ausgesetzt seien. Wilhelm Canaris hatte den Pfarrer dazu autorisiert. Von dieser Hilfe musste die Tochter Gebrauch machen, erst, als ihr Vater und später ihre Mutter von der Gestapo verhaftet wurden. Die Familie Wisten hat die NS-Zeit in ihrem Haus im Waldsängerpfad überlebt, auch dank der Hilfe von Wilhelm Canaris, die Wistens haben darüber hinaus selbst verfolgten Juden einen Unterschlupf geboten. Im digitalen Stadtteil-Portal Tagesspiegel-Zehlendorf habe ich darüber berichtet.

Wilhelm Canaris ist aber ungleich vielschichtiger als diese Begebenheit andeutet. Seine Biographie ist ein Forschungsgegenstand, der mehr Fragen aufwirft als beantwortet werden können. Canaris wurde 1887 geboren und verbrachte seine Jugend im Umfeld des Bergbaus im Ruhrgebiet, wo sein Vater ein hoch angesehener Hüttendirektor war. Neben der Schule waren für ihn vor allem Sport, aber auch lange Besuche im Duisburger Binnenhafen prägend. Sein Fernweh und seine Abenteuerlust wurden so früh geweckt.

Canaris stand für eine neue Offiziersgeneration, den es nicht qua Tradition zum Heer zog. Er war ein wissenschaftlich und technisch gebildeter Abiturient großbürgerlicher Abstammung, den es zur modernsten Teilstreitkraft zog, nämlich zur Marine, in die er 1905 eintrat. Im Ersten Weltkrieg war er an Seegefechten etwa in Südamerika beteiligt, baute in Spanien ein deutsches Spionagezentrum gegen England auf und wurde schließlich zu einem der erfolgreichsten U-Boot-Kommandanten der Kaiserlichen Marine.

Er war verantwortlich für das Unternehmen Barbarossa

In der Weimarer Zeit rückte Canaris in den Mittelpunkt der Konterrevolution, denn er war nicht nur Beisitzer in den Verfahren gegen die Mörder von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, sondern spielte auch am Rande des Kapp-Lüttwitz-Putsches eine Rolle. Ebenfalls war Canaris fest in den militärisch-industriellen Komplex eingebunden als einer der führenden Marineoffiziere bei der eigentlich verbotenen Aufrüstung der Reichsmarine.

1943: Canaris privat mit seinem Pferd „Motte“
1943: Canaris privat mit seinem Pferd „Motte“
© Familie Hoseit

Im „Dritten Reich“ stieg Canaris schnell zum Chef des militärischen Geheimdienstes auf, den er 1935 übernahm. Hatte er das NS-System zu Anfang noch gutgeheißen, wurde er bald – um 1936 – zu einem der hochrangigsten Widersacher von Hitler und Himmler. Dennoch hat er den Ausbau des militärischen Nachrichtendiensts mit großer Tatkraft vorangetrieben. Er etablierte die „Abwehr“ als einen wichtigen Eckpfeiler des NS-Systems. So war er maßgeblich dafür verantwortlich, das Unternehmen Barbarossa gegen die Sowjetunion vorzubereiten.

Widerstand gegen und aktive Teilhabe am NS-System – wie passt das zusammen? Dieser Widerspruch spiegelt sich etwa in der Darstellung der Beziehung zu Reinhard Heydrich, dem Leiter des Reichssicherheitshauptamts und maßgeblichem Organisator des Holocausts, wider. War es eine Beziehung zwischen zwei „Machthabern“ oder eine persönliche Freundschaft? Heydrich hatte sich immerhin gleich um die Ecke von Canaris im Reifträgerweg ein Haus bauen lassen. Man kannte sich gut, besuchte sich privat, machte gemeinsam Hausmusik.

Wilhelm Canaris im Jahr 1937
Wilhelm Canaris im Jahr 1937
© Familie Hoseit

Und dennoch: Neue Quellen und Zeitzeugen-Aussagen beweisen, dass es eine persönliche Freundschaft nicht gegeben hat. Und so eng wie die beiden, wohnten in ganz Schlachtensee Täter, Opfer, Helfer, Mitläufer und andere nebeneinander. In einer aktuellen Broschüre: „Bekenntnisgemeinde und Nazirefugium - Schlachtensee 1933 - 1945“ ist dieses enge Nebeneinander auch von mir beschrieben worden. Canaris’ Widerstandstätigkeit ist seit jeher ein Thema, das kontrovers diskutiert wird. Die Meinungen gehen weit auseinander. Der Admiral sei – so behaupten die einen – das Herz und Hirn des militärischen Widerstands gegen Hitler gewesen. Andere Berichte stellen heraus, dass er lediglich über viele Dinge informiert gewesen war, jedoch selber nie aktiv Widerstand betrieben habe.

Dass er eine Vielzahl von Juden, auch und gerade aus Berlin, gerettet hat, ist bekannt. Dennoch wird nach wie vor behauptet, Canaris habe den Judenstern zur Kennzeichnung der Berliner Juden gefordert, obwohl dies nach neuesten Forschungsergebnissen zu widerlegen ist.
Die Charakterisierungen seiner Person sind so widersprüchlich wie sein ganzes Leben. Ernst von Weizsäcker stellt beispielsweise seinen „glockenklaren Charakter und das tief Ethische seiner Persönlichkeit“ heraus. Allen Dulles vom amerikanischen Geheimdienst beschreibt ihn als „Gentleman, Patriot und Visionär der Vereinigten Staaten von Europa“. Andere Beschreibungen fallen weniger positiv aus: Der Verteidiger von Wilhelm Keitel während des Nürnberger Prozesses sagt über Canaris, dass dieser dem „Bild eines überfeinerten, hochintelligenten Salonverschwörer“ entspräche.

1936: Canaris mit seiner Nichte Barbara Hoseit.
1936: Canaris mit seiner Nichte Barbara Hoseit.
© Familie Hoseit

Admiral Wilhelm Canaris ist am 23. Juli 1944, drei Tage nach dem Attentat von Claus Schenk Graf von Stauffenberg, verhaftet worden und hat die Freiheit nie wieder erlangt. Am 9. April 1945 wurde er noch auf ausdrücklichen Befehl Hitlers im Konzentrationslager Flossenbürg unter anderem mit Dietrich Bonhoeffer erhängt. Wie gehen wir mit einer solchen, sicher nicht einfach zu bewertenden Persönlichkeit um? Wie bewerten wir Canaris Lebensleistung, und wie sehen wir ihn als Gemeindemitglied?

Mit seiner Ermordung fand ein sehr deutsches Leben sein Ende

Diesen und anderen Fragen wollen wir an dem Gemeindeabend an diesem Sonnabend, dem 71. Todestag von Admiral Canaris, mit Hilfe eines Vortrags des Historikers Heiko Suhr nachgehen. Suhr wird in seinen Ausführungen die Themen Nachrichtendienst und Widerstand, die bisher stets getrennt analysiert worden sind, erstmals zusammenführen. Zugleich wollen wir die Frage besprechen, ob es eine Möglichkeit für ein angemessenes Gedenken im Waldsängerpfad gibt.

Canaris’ schwierige Verflechtung von persönlichem Verhalten in der Familie, der öffentlichen Rolle im NS-Staat und seine Verbindung zur Nachbarschaft und zur Gemeinde macht seine Person so ambivalent. Ein Held ist er gewiss nicht, aber seine Biographie ist doch eine zutiefst menschliche – und sehr deutsche: mit allen Irrtümern, Fehlern und Brüchen und einem grausamen Tod. Im Erfolg wie im Scheitern spiegelt sich ein halbes Jahrhundert bewegtester deutscher Geschichte.

1944, Canaris mit seiner Frau Erika auf Burg Lauenstein, wo er in „Ehrenhaft“ gehalten wurde.
1944, Canaris mit seiner Frau Erika auf Burg Lauenstein, wo er in „Ehrenhaft“ gehalten wurde.
© Familie Hoseit

Die Urgroßnichte von Wilhelm Canaris, Frau Dr. Isabel Traenckner-Probst, gab mit ihrer Mutter und ihrem Onkel den Anstoß, der zu dieser Abendveranstaltung führte. Sie werden am Samstag in der Johanneskirche in Schlachtensee auch anwesend sein. In dem Nachlass ihrer Großmutter fand Isabel Traenckner-Probst übrigens noch die folgende Notiz: „O. W. hat mir selber gesagt: ‚Wir werden von Verbrechern regiert'“. „O.W.“ stand für „Onkel Wilhelm“, das war Admiral Canaris für die Familie. Die Mutter von Frau Traenckner-Probst wurde sein Patenkind. Sie hat ihrer Tochter folgende Begebenheit berichtet, die auch einiges aussagt über die Einstellung von Canaris zu den Nazis: „Ich erinnere mich, dass mein älterer Bruder die vierte Klasse übersprungen hatte und für ein Internat der Napola, das war die Nationalpolitische Lehranstalt zur Heranbildung des Führernachwuchses, ausgewählt wurde. Onkel Wilhelm riet meinen Eltern dringend davon ab, ihn dorthin zu geben und sorgte dafür, dass er in ein anderes Gymnasium kam.“

Der Autor hat für diesen Beitrag auch Texte von Heiko Suhr und Isabel Traenckner-Probst einfließen lassen. Andacht und Gemeindeabend am Samstag, 9. April 2016, in der Kirchengemeinde Schlachtensee: Johanneskirche, Matterhornstraße 35, ab 18.15 Uhr, den Vortrag hält um 19 Uhr der Historiker Heiko Suhr.

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Dirk Jordan

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