Sterben in Deutschland: Zehlendorf diskutiert: Reden wir über die Ängste!
Viele alte Menschen wollen möglichst unauffällig sterben, niemandem zur Last fallen. Um Fragen rund um das Sterben zu diskutieren, lud die „Abteilung Krumme Lanke“ der SPD in das Klubhaus von Hertha 03 Zehlendorf. Für 90 Ernstminuten. Wir haben zugehört.
Es ist voll und stickig. Schon Minuten vor Beginn der Veranstaltung im großen Saal des Klubhauses von Hertha 03 Zehlendorf. Gutbürgerliches Zehlendorfer Klientel hat sich eingefunden, einige sichtbar fremdelnd, weil schon der Ort der Veranstaltung möglicherweise überrascht. Es werden Brezeln und Wasser gereicht. Einige nippen noch rasch am Bier. Im Hintergrund scheppern die Gläser. Die Inhaber der Sportsbar „Golden Goal“ bieten also nicht nur die Räumlichkeiten für Feiern oder gemeinsam Fußball gucken an, sondern haben rasch den großen Saal vorbereitet, damit möglichst viele Menschen über ein Thema reden, welches immer mehr in den öffentlichen Diskurs Einzug hält.
Schätzungsweise über 100 Menschen, darunter zahlreiche Genossinnen und Genossen der SPD, insbesondere aus der „Fraktion 60 plus“ wollen mit den Bundestagsabgeordneten Ute Finckh-Krämerund, Eva Högl sowie der Geschäftsführerin der Diakonie-Station Steglitz und Theologischer Vorstand des Landesausschusses für Innere Mission, Friederike Pfaff-Gronau, zu Fragen am Lebensende diskutieren. In der Einladung heißt es: "Am Lebensende stehen wir vor grundsätzlichen Fragen; wie das Sterben gestaltet und begleitet werden kann. Ob und in welcher Form Sterbehilfe geleistet werden darf, wird in Deutschland zurzeit emotional und kontrovers diskutiert."
Im Deutschen Bundestag soll Anfang 2015 über eine gesetzliche Regelung der Suizidbeihilfe beraten werden. Nun sollen die Bürgerinnen und Bürger gehört werden, was Eva Högl wiederholt in ihrem Eingangsstatement artikuliert. Wesentlicher ist, wo und wie sie sich positioniert. So sei es eben nicht Aufgabe der Regierung, ein neues Gesetz zu erlassen, sondern die des Parlaments des Bundestages, eine gesetzliche Neuregelung auf den Weg zu bringen. Dafür wolle man sich Zeit lassen. Deutlich wird eine gewisse verengte Perspektive auf die Gesamtfragestellung, da Sie ausschließlich die Aufgaben der Palliativmedizin in den Vordergrund rücken und die Ärzteschaft bei so herausfordernden Entscheidungen am Lebensende „stärken“ will.
Der Medizin kommt also in diesem gesellschaftlichen Kontext eine Sonderrolle zu. Sie hat längst Kultstatus. Sie übernimmt heute neben der lebenslangen Begleitung eine besondere Rolle am Anfang und am Ende des Lebens. Högl fährt fort und betont das unveräußerliche persönliche Recht, seinem eigenen Leben ein Ende zu setzen als Grundlage für einen straffreien Suizid, was später in der Aussprache zarten Widerspruch auslöst, als ein Richter a.D. darauf hinweist, dass es doch wohl eher kein kriminelles Unrecht sei, Suizid zu begehen. Den Weg in den selbst gewählten Tod wird man niemandem verbieten können oder wollen. Aber es muss der Gefahr begegnet werden, gerade weiter an der Verstaatlichung und Verdienstleistung des Suizids zu arbeiten.
Wird Sterben zum Geschäftszweig?
Friederike Pfaff-Gronau macht deutlich, dass es in der Gesellschaft kaum Berührungsängste gebe, wenn es um das Thema Lebensende und Sterben gehe. Einige Zuhörende schauen sich in diesem Moment eher erstaunt an. Sterben in Deutschland, aber wie nun? Die meisten Menschen sterben nicht mehr im Kreis ihrer Familie, sondern in Krankenhäusern und Altenheimen. Aber wer hat überhaupt Anspruch auf palliative Versorgung? Wer wird durch wen zum Palliativpatienten? Wie sind die gesetzlichen und finanziellen Regelungen ausbuchstabiert?
Viele der Diskutanten aus dem Publikum machen deutlich, dass sie unauffälliges Ableben bevorzugen und nur niemanden zur Last fallen wollen. Das Beispiel Gunter Sachs dient einigen als Vorbild. Das Leben und das Lebensende werden in Konsequenz zur selbst zu bewältigenden „Aufgabe“ gemacht. Es geht um ein Projekt, das in eigener Regie erfolgreich absolviert werden muss. Deutlich wird, wie viel Unwissenheit es gibt zu diesem Thema. Ein Arzt hätte beispielsweise gerne die Knackpunkte eine Patientenverfügung genannt. Andere sehen sich völlig allein gelassen. Eine Frau teilt dem Publikum ihre Ängste sehr deutlich mit: Werden Sterben und Tod gegenwärtig und - das hätte es ja noch nie gegeben - zum Projekt von Experten, zum Marketingmodell von Klinik- und Pflegeheimketten? Wird Sterben zum Geschäftszweig und übertönt diese Sterbegeschäftigkeit die Möglichkeit des „eigenen Todes“, fragt Sie sinngemäß zum Schluss?
Weitere wünschen den Politikern eine gute Hand bei einer Problematik, die in Gesetzen und Verordnungen gar nicht abzubilden sei. Sinnbildlich dafür auch die vielen Fragen und am Ende kaum Antworten, nicht zuletzt auch deshalb, weil das Bedürfnis nach Co-Referaten ausgeprägt ist und durch die Moderatorin zu spät eingegriffen wird. Viele Menschen kommen nicht mehr in dieser Runde zu Wort. Nach gut 90 Minuten ist (fast) Schluss. Eine Frau wirft noch ein, dass wohl keiner von uns gesund ins Grab springen wird. Nebenan läuft bereits Fußball. Ein Anfang ist gemacht. Die Thema und die Debatten darum brauchen viel mehr Öffentlichkeit als bisher.
Der Autor ist Experte auf dem Gebiet Demenz, Pflege und Alternde Gesellschaft. Er lebt mit seiner Familie in Zehlendorf. Der Text erscheint auf dem Zehlendorf Blog, dem Online-Magazin des Tagesspiegels.
Christian Petzold