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Die fröhlichen Sieben. Stella, Asnakech, Mutter Heike, Missy, Alicia, Nele und Vater Cord (v.l.) gehören zu dem Jürgens-Haushalt, in dem immer etwas los ist.
© DAVIDS/Sven Darmer

Großfamilie aus Berlin-Zehlendorf: Family-Building für Fortgeschrittene

Fünf Kinder: zwei leibliche, zwei adoptierte, eins in Pflege. Wie das geht? Toll – jedenfalls bei den Jürgens’, einer ganz besonderen Familie.

Oft kommt die Frage hierzulande nicht vor, die Heike Jürgens vor knapp zwei Jahren erst nur sich selbst und dann auch ihrem Mann stellte. Sie lautete: „Was ist schöner als vier Kinder?“ Und die Antwort, die sie gleich hinterherschob, war: „Fünf!“

Also kam noch Nele*. Sie kam wieder anders. Als Pflegekind.

Die Zweijährige rennt an einem Märznachmittag hin und her im großen Wohnzimmer der Zehlendorfer Jürgens-Wohnung, vom Sofa, gegen das sie sich wirft, zum Vater, auf den sie sich stürzt, und wieder zurück. Lachend, mit wackelnden Armen, unermüdlich. Neben dem Vater sitzt zwischen Puppen und Spielzeug Asnakech, 6, adoptiert 2011 aus Äthiopien, ebenfalls auf dem Sofa bei Heike Jürgens sitzt Missy, 16, adoptiert 2002 aus Haiti, und schaut in ihr Smartphone, und ans Sideboard haben sich die beiden Großen gelehnt, die leiblichen: Stella, 20, und Alicia, 25.

Fünf Töchter, die auf drei unterschiedlichen Wegen in die Familie gelangt sind. Wie beeinflusst das die Beziehungen? Erzeugen vererbte Gene größere Nähe? Ist Familie überhaupt eine definierte Beziehung?

Die Jürgens’ sind so bunt zusammengewürfelt, dass sie darauf Antworten haben müssten, könnte man denken – und stellt dann schnell fest, dass es dort diese Fragen gar nicht gibt.

Mit Mitte 20 wollte Heike Jürgens als erstes ein Kind adoptieren

Was Familie ist? „Alle meine Schwestern!“, jubelt Asnakech und hüpft herum, sodass Nele das Hin-und-her-Rennen einstellt und sie anstarrt. „Und Mama!“ Hüpf. „Und Papa!“ Hüpf, hüpf. Sie wird ermahnt, dass sie nicht so herumhüpfen soll. Familie als ein Gefühl, so schildert es Heike Jürgens. Ein großes, großzügiges, ein gebendes Gefühl.

So kam sie überhaupt zur Idee mit mehreren Kindern. Sie und ihr Bruder hätten einmal in ein Schullandheim gemusst, wie es in den 70er Jahren noch üblich war, wo das Aufsichtspersonal mit liebloser Strenge regiert habe. Zur Schlafkontrolle mit Taschenlampen in die Augen leuchten und solcherlei. Sie habe viel geweint, andere Kinder auch, und da sei der Gedanke gekommen, der nie wieder ging: So behandelt man Kinder nicht. Man soll Kindern das Leben schön machen.

Als sie dann mit Mitte 20 an Kinder dachte, dachte sie deshalb zunächst an Adoption. Aber auf dem Amt, wo sie vorstellig wurde, hörte sie: „Kriegen Sie doch erst mal selber welche!“ Also kam Alicia. Fünf Jahre hat es gedauert, bis das zweite Kind kam. Die Zeit habe sie gebraucht, um mit der Verantwortung umgehen zu lernen, die ein Kind bedeutet. Und um ein Gefühl dafür zu entwickeln, ob sie als Eltern ihre Sache gut machen.

Fünf Jahre sind für gleichberechtigte Geschwisterbeziehungen ein langer Abstand, aber Heike Jürgens ist überzeugt, dass das alles einfacher gemacht habe. Für sie als Eltern. Und auch den Umgang der Kinder untereinander habe die Distanz positiv beeinflusst, weil einige Konkurrenzen und Eifersüchteleien gar nicht mehr aufkamen. Bis auf einmal. Denn als Missy kam, war Stella ihren Platz als Jüngste los. Da war jetzt dieses ernste Kleinkind mit den süßen Knopfaugen, das nie ein Reiskorn neben den Teller fallen ließ, weil es wusste, was Hunger ist, in das sich alle sofort verliebten, das nun alle Aufmerksamkeit hatte, die zuvor Stellas gewesen war. So sei es ihr jedenfalls vorgekommen, sagt die 20-Jährige heute. So reflektiert dachte sie damals natürlich nicht, sondern opponierte – so extrem, dass die Eltern zur Erziehungsberatung gingen, wo man sie aber wegschickte: Das würde sich von allein geben.

Nur einen Bruder oder eine Schwester? Wie langweilig im Vergleich!

Ob es ein Fehler war, Missy zu holen, haben sie sich nicht gefragt. Wozu auch? Missy war ja da. Und ein schlechtes Gewissen gegenüber dem eigenen Kind? Missy war doch nun auch ihr Kind, sagt Heike Jürgens. Und diese Eifersucht könne es bei leiblichen Geschwistern auch geben. Solle man etwa nachgeben?

Heike Jürgens ist gelernte Sozialpädagogin, inzwischen 49 Jahre alt, rastabelockt, bunt bejeanst, total energiegeladen und mit viel Berufserfahrung. Vielleicht trägt auch das zur gelungenen Familie bei, dieses hundert- und tausendmal abgefragte Wissen um Beziehungskonflikte und wie sie zu lösen sind.

Ihre Mutter sei sehr kommunikativ, konstatieren auch Alicia und Stella. Da sei nichts unausgesprochen geblieben – gern auch am Telefon, denn Alicia studiert inzwischen in Hessen – da sei für jeden bis heute immer genug Zeit für jede Sorge. Das habe sicher viel geholfen beim Family-Building.

Und irgendwie auch die Sicht der anderen, seien es unbeteiligte Passanten, die dem bunten Trupp hinterherschauten, oder die Freundinnen und Schulkameraden, die in der Regel ein bisschen neidisch waren auf den Jürgens-Haushalt, in dem immer was los war, die selbst keine Geschwister hatten, oder nur einen Bruder, eine Schwester, wie langweilig im Vergleich! „Höchstens mal drei Kinder“ habe es bei den anderen gegeben, und das waren dann meist auch schon Patchworkfamilien. Dass man nie allein ist und war, das gefällt den beiden älteren Mädchen an ihrer Familie. Und dass ihre Eltern meist die lässigsten von allen waren, natürlich auch.

Wie sie das hinbekommen hat? Fünf Kinder und so viel gute Laune? „Nichts verlangen, was man nicht selbst vorlebt“, sagt Heike Jürgens. Dann sei Erziehung eigentlich ganz einfach. Sie lacht auf und schüttelt den Kopf. Naja, so einfach auch wieder nicht. Als nach Alicia, Stella und Missy 2011 Asnakech vor ihr stand, da habe sie doch mal kurz geschnauft, dann aber zu sich gesagt: „So, dich erziehen wir jetzt auch noch.“

Die Mädchen aus Mittelamerika und Afrika machen ihre Welt größer

Asnakech habe sich anfangs sehr an Missy gehalten, erzählt die Mutter, wahrscheinlich wegen derselben dunklen Hautfarbe. Und bis heute pflegt die 16-Jährige einen recht mütterlichen Umgang mit der quirligen Sechsjährigen, die im Kindergarten gerade lernen soll, nicht immer das letzte Wort zu haben.

Missy dagegen ist viel ruhiger, nachdenklicher. Familie sei für sie Zusammengehörigkeitsgefühl, sagt sie. Dann überlegt sie lange, bevor sie nickt. „Ein besseres Wort fällt mir nicht ein“, sagt sie. Manchmal überlege sie, was wohl aus ihr geworden wäre, wenn sie noch in Haiti leben würde. Wo sie dann heute stünde. „Und dann bin ich so dankbar“, sagt sie. Macht das einen Unterschied zwischen den Kindern? Dass die adoptierten dankbarer sind als die anderen?

Sie bestreiten das. Die leiblichen sind umgekehrt auch dankbar, dafür, dass die Mädchen aus Mittelamerika und Afrika zu ihnen gehören und ihre Welt größer machen. Stella sagt, sie merke das jetzt in der Flüchtlingskrise. Wie andere Berührungsängste gegenüber Menschen zeigen, die anders aussehen, was sie nicht kennt. Sie schaue durch die Farbe durch. Und das ist es dann wohl: Hindurchschauen durch das Sichtbare. Eine Familie ist nicht unbedingt, wer sich ähnlich sieht. Geht es um Gene, oder geht es nicht vielmehr um Beziehungen? Eine Familie kann genauso sein, wer für zwei Kinder Alben mit Babyfotos angelegt hat, für zwei andere Adoptionsbroschüren aufhebt und mit dem fünften Kind regelmäßig dessen leibliche Eltern trifft.

VOM STAAT KOMMT NICHT MEHR SO VIEL HILFE

IN ZAHLEN

Nur sechs Prozent aller Familien haben fünf und mehr Kinder, das sind in ganz Deutschland gerade mal 76:000. Als „kinderreich“ gilt eine Familie, wenn sie drei und mehr Kinder hat.

Das gilt hierzulande – je nachdem, ob man die volljährigen Kinder noch mitzählt oder nicht – für 1,2 Millionen oder 900:000 Familien. Zu wenig, findet der „Verband der kinderreichen Familien“ (VKRF). Steigend ist laut Statistischem Bundesamt die Zahl der Einkindfamilien.

IM VEREIN

Den „VKRF“ hat Elisabeth Müller – sechs Kinder – gegründet. Sie findet, dass „diese Lebensform“ mehr Zustimmung verdient hätte. Der Verband, in dem 20:000 Eltern organisiert sind, beklagt auf politischer Ebene, dass viele finanzielle Unterstützungen für Mehrkinderfamilien vom Baukindergeld bis zum Würmeling-Ausweis in den vergangenen Jahren zurückgefahren wurden. Auf Vereinsebene wird versucht, das durch Beratung auszugleichen.

IM LEBEN

Das Leben mit Kindern sei „vor allem Freude“, heißt es beim VKRF. In kinderreichen Haushalten sei immer etwas los, und viele Streitereien regelten die Kinder auch untereinander – ohne die Eltern.

Weder Verband noch Statistik machen einen Unterschied zwischen Patchwork- und Regulärfamilien, zwischen adoptierten und leiblichen Kindern. ari

Mehr Infos unter www.kinderreichefamilien.de

PFLEGEELTERN

Berlin sucht immer neue Pflegefamilien für Kinder, die aus unterschiedlichen Gründen nicht bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen können. Informationen findet man unter www.pflegekinder-berlin.de.

Derzeit werden insbesondere Pflegeeltern mit Migrationshintergrund gesucht.

Der Text erscheint auf Tagesspiegel-Zehlendorf. Folgen Sie der Redaktion auch auf Twitter.

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