Cuvrybrache in Kreuzberg: Berlins Favela
Am Anfang waren Leere und Müll, dann kamen Zelte, dann Buden aus Wellblech und Holz. Schon wird zweigeschossig gebaut. In Berlins erster Favela an der Kreuzberger Cuvrystraße wächst etwas, woran sich Europa noch gewöhnen muss.
Es ist eine vertrackte Sache mit dem Elend der anderen. Viele bemerken es nicht. Bis Rio de Janeiro, Mexico City, Katar oder Johannesburg muss niemand reisen, um nichts zu sehen. Berlin tut es auch. An der Kreuzung von Schlesischer Straße und Cuvrystraße in Kreuzberg befindet sich ein Ort, der „Cuvrybrache“ genannt wird oder einfach „Cuvry“. Er hat die Größe eines Fußballfeldes, wird zur Rückseite hin von fensterlosen Brandmauern begrenzt, zur Straße mit von Werbung beklebten Bauzäunen abgeschottet, bis auf drei kleine Durchlässe. Die vierte Grenze bildet auf etwa 50 Metern Länge die Spree. Ins Blickfeld rückt die Brache in den späten nuller Jahren mit dem Widerstand gegen das Stadtentwicklungsprojekt „Mediaspree“. Von den Bebauungsplänen des Spreeufers waren Freiflächen wie diese plötzlich bedroht. Und je mehr Grundstücke am Wasser an Investoren fielen, desto heftiger wurden die letzten Brachen, die in den Jahrzehnten zuvor niemanden sonderlich interessiert hatten, die einfach eben nur übrig geblieben waren von Weltkrieg und Stadtsanierung, verteidigt.
Die Cuvrybrache ist die erste Favela Deutschlands
Auch als das „BMW Guggenheim Lab“ im Jahr 2012 auf dem Areal Station machen wollte, um hier, in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Bars, Clubs und Cafés rund um den U-Bahnhof Schlesisches Tor, als Diskursplattform über die Stadt der Zukunft nachzudenken, wehrte sich die linke Szene dagegen. Seither ist die Brache ein Politikum, ein Anachronismus, und zugleich kann man an ihr ablesen, in welche Richtung sich Städte entwickeln können: Die Cuvry ist die erste Favela Deutschlands. Ein Elendsquartier. Informell. Geduldet. Wie überall auf der Welt anfangs spontan aus dem Boden gewachsen, im vergangenen Herbst noch eine kleine Hippie-Zeltstadt, heute ein Wellblechdorf und eine gesellschaftliche Tatsache. Aber Favela? Wenn darunter ein Wohngebiet zu verstehen ist, in dem Menschen der untersten Einkommensschicht ohne Wasser, Strom oder Akzeptanz durch die Mehrheitsgesellschaft leben, dann ist die Cuvry eine. Längst leben hier nicht mehr nur Wohlstandsflüchtlinge, sondern zum Beispiel auch einige jener bulgarischen Wanderarbeiter, die Ende 2013 unter politischem Druck aus der maroden Eisfabrik in der Köpenicker Straße, knappe zwei Kilometer spreeaufwärts, auszogen. „Stehen lassen. Eisfabrik“ gebietet ein Schild an ihrem langen, weißen Zelt.
„Ich habe Berlin noch dreckig erlebt“
Einer jungen Frau am Wasser klingt der Begriff Favela jedoch zu depressiv. Sie war durch eine der drei Pforten auf das Gelände geschlendert und lässt nun ihre Beine über der Spree baumeln. Die Cuvry sei etwas anderes, sagt sie. „Es wäre das Gleiche, würden hier nicht einige freiwillig wohnen, weil sie keinen Bock auf den ganzen Geld-Scheiß haben.“ „Ja“, sagt Sascha, „einige.“ Zigaretten werden gedreht, Bierflaschen geöffnet. Sascha, Cuvry-Urgestein und Idealist, gibt Feuer. Prost, auch ohne Mahlzeit. „Ich habe Berlin noch dreckig erlebt“, sagt er.
Dass ausgerechnet in Kreuzberg etwas Derartiges entstehen konnte, ist angesichts der Behutsamkeit, mit der hier traditionell auf sozialen Wildwuchs reagiert wird, wenig verwunderlich. Auch das Protestcamp am Oranienplatz zeigt erste Züge einer Ansiedlung. Die Zelte wurden zunächst durch Bretterwände verstärkt, nun stehen auch hier erste Hütten. Doch zwischen dem mit einer politischen Agenda sich rechtfertigenden Protestcamp und der Cuvry gibt es einen Unterschied: Am Oranienplatz harren die Flüchtlinge aus, damit sich in dem Land, in das sie geflohen sind, etwas ändert. Diese Mission ist schwierig. Doch das Bestreben von Cuvryianern wie Sascha ist, nun ja, utopisch: Sie sind dort, damit alles bleibt, wie es mal war.
Nächte können heftig sein auf der Cuvry
Ein Besuch nach Sonnenaufgang. Die Atmosphäre erinnert an verkaterte Vormittage auf Rockfestivals. Nur, dass hier die Band nie gespielt hat. Die chaotisch verstreuten Zelte, Wellblechhütten und windschiefen Verschläge spucken in der Früh die ersten Erwachten aus. Die irren umher, heben Flaschen auf, starren hinein, als würden sich darin Antworten finden. Wieder ist eine Nacht vergangen, und Nächte können heftig sein auf der Cuvry.
Von Konflikten und brennenden Zelten
Konflikte schaukeln sich hoch, Zelte brennen, und Punker jagen Osteuropäer, um sie wegen geklautem Wellblech totzuschlagen. Doch bis es so weit ist, werden noch einige Stunden vergehen. Im Moment stört nur ein heulender Elektrobohrer die Stille. Unmöglich zu sagen, aus welchem der etwa 50 Bretterverschläge. Dann tauchen zwei Männer auf und diskutieren, was mit einem Haufen von Klamotten zu tun ist, der so aussieht, als hätte sich ein Altkleidercontainer erbrochen. Sascha ist wieder da, das Cuvry-Original. Und sein Freund Lukas. Sie sehen so alterslos verwittert aus, wie nur Leute es tun, die immer draußen sind. Lukas trägt jamaikanische Dreadlocks und einen Bart, er ist für gewöhnlich für den Cuvry-Sound zuständig. Wenn er Gitarre spielt und sich deren Klang mit dem Autolärm vermengt. „Das ist doch alles Müll.“ Sascha fährt sich durch seinen Fünf-Tage-Bart, begutachtet mit stahlblauen Seemanns-Augen die klammen Fetzen. „Du bist ein Verschwender“, sagt Lukas und hebt einen staubigen Parka aus dem Knäuel, bückt sich nach Hemden, die vielleicht noch jemand gebrauchen könnte. „Die Cuvry ist ein Ort mit eigenen Regeln. Ich weiß nur nicht, wo die Utopie ist, hier oder draußen.“ Sascha hat viele solcher Sätze drauf, weswegen er gerne als Erklärer der Brache fungiert, die Versammlungen ihrer Bewohner kennen ansonsten keine gewählten Vertreter. Vor 20 Jahren ist Sascha aus Papenburg zugewandert, „aus Westdeutschland“. Genauer will er nicht werden. Er ist Industriekletterer, momentan hat er Arbeit, das war nicht immer so. Nun trägt er einen Kapuzenpulli, seine violettblauen Augenringe sehen nicht so aus, als würden sie je verschwinden. Aus dem Nichts kommt ein schwarzer Mischlingshund auf ihn zugerannt. „General Oberst Waju“, stellt er vor. „Natürlich passieren unschöne Dinge hier.“ Sascha schlendert über den Hauptpfad der Cuvry geradewegs zur Spree. „Da wurde mal ein Zelt angezündet und in der Hütte dort ist der selbst gefertigte Ofen explodiert. Ist aber keiner verletzt worden“, sagt er und deutet nach links und rechts auf Wellblechhütten, von denen eine aussieht, als hätte sie ihr eigenes Dach verschluckt.
„Wir sind eine Gemeinschaft ohne Gefängnis“
Ob irgendwas davon auch Konsequenzen gehabt hätte, quittiert er mit dem Satz: „Wir sind eine Gemeinschaft ohne Gefängnis.“ Weit über Sascha prangt ein zehn Meter großes Graffiti an der fensterlosen Hauswand, das den Touristen von der Oberbaumbrücke aus als Postkartenmotiv dient: Ein Krawattenträger mit je einer goldenen Uhr an den Handgelenken, eine mächtige Kette spannt sich dazwischen. Wer nach Geld jagt, werde von diesem versklavt und seiner Zeit beraubt, soll das wohl heißen. Nach Geld jagt auf der Cuvry niemand. Und wenn sie sich etwas gönnen, außer einem Schlückchen, ist es Zeit. Laut einer kürzlich vorgestellten Studie der Hans-Böckler-Stiftung sind die Vermögen in keinem anderen Euro-Land so ungleich verteilt wie in Deutschland. Auch der letzte Armutsbericht der Bundesregierung wies auf die wachsende Diskrepanz zwischen den Vermögenden und den Vergessenen hin. Relative Armut sei das, heißt es dann häufig, niemand müsse hierzulande darben. Und mit Zuständen wie in São Paulo sei das nun wirklich nicht zu vergleichen.
Einer der vielen, die auf der Cuvry leben, weil sie nicht wissen, wohin sie sonst sollten, ist Philmon. Er ist 24 Jahre alt, stammt aus Sierra Leone, kippt sein Pilsator-Bier hinunter. „Früher habe ich nicht getrunken“, sagt er. „Jetzt bin ich ein Säufer.“ Mit seiner Basecap, auf der „Doggy“ steht, seinen weiten Hosen und seiner legeren Art könnte Philmon in Hip-Hop-Videos auftreten. Das macht er nicht, wie er ohnehin meistens nichts macht. „I am confused“, sagt er, „ich bin verwirrt.“ Philmon zeigt seine Bretterbude, an der eine Tafel hängt: „My life with Jesus.“ Religiös sei er früher auch noch nicht gewesen. „Ich brauche einen Job“, sagt er, dann wieder: „Ich bin verwirrt.“ Woher seine Konfusion rührt, ist nicht recht zu erkennen, vermutlich liegen die Gründe in seiner Geschichte verborgen. Schon in Libyen hat Philmon nach einem Job gesucht, dann brach das Regime zusammen, Schwarzafrikaner gerieten zu Tausenden zwischen die Fronten. „Gaddafis Leute wollten uns weghaben. Wir bekamen ein Boot und wurden aufs Meer geschickt.“
Auf der Brache wird die Topografie von Müllhügeln bestimmt
Viele Flüchtlinge seien unterwegs ertrunken, er habe sich auf die italienische Insel Lampedusa gerettet. Philmon ist als Flüchtling anerkannt, dennoch droht ihm die Ausweisung. Im Görlitzer Park wurde er beim Dealen erwischt. Nun sammelt er Flaschen oder schnorrt. „Es ist beschissen zu betteln, wenn du gesund bist. Ich würde alles machen. Ich bin verwirrt.“ Auf der Brache wird die Topografie von Müllhügeln bestimmt. Die bestehen aus Einkaufswagen, aus zerfransten Nordmanntannen, eingetretenen Türen, zerknautschten Chipstüten und einem Schild, auf dem „Berliner Mauerweg“ steht. Seit einigen Wochen ist der Müll zur Straße hinausgewachsen, er liegt jetzt auch auf dem Bürgersteig. Die meisten Nachbarn erzählen, dass sie nichts gegen die Cuvry haben, einige sehen sie gar als Speerspitze im Kampf des Kiezes gegen die Aufwerter. „Die Cuvry soll bleiben. Obwohl das ständig rund geht nachts“, erklärt eine Kellnerin aus einem benachbarten Café.
"Eine Räumung wäre eine sehr hilflose Geste"
Der Stadtsoziologe Andrej Holm von der Humboldt-Universität, mit seinem „Gentrification Blog“ wissenschaftlicher Begleiter des sozialen Wandels in der Hauptstadt, spricht als Ursache für die Entstehung der Cuvry von einer „zunehmend polarisierten Einkommensstruktur“. Da staatliche Wohlfahrtseffekte immer ungleicher verteilt würden, sei Deutschland zu einer „sozial gespaltenen Gesellschaft“ geworden. „Wir müssen erst einmal akzeptieren, dass es so etwas wie die Cuvrybrache gibt. Eine Räumung wäre eine sehr hilflose Geste.“
Die erste zweigeschossige Hütte ist bereits entstanden. Unweit davon sitzen am späten Nachmittag ein Dutzend Cuvryianer um eine Tonne, in der es brennt. Eine Wodka-Flasche macht die Runde. Junge Polen halten sich an den Schultern fest. Einer schreit: „Du willst Report?“ In der Tonne wird Feuer nachgelegt, die Polen legen auch nach, der eine versucht es noch einmal: „Du, du willst Report?“ Die Cuvryianer beschließen, am Abend auf eine Anti-Nazi-Demo zu gehen. Prost. Der Pole wankt und tritt beinahe in einen riesigen rostigen Nagel. Er ruft: „Kurva!“ Und abermals „willst du Report?“ Nun gut, bitte, fangen wir mit dem Naheliegendsten an. Woher er stamme? „Breslau“. Er spuckt durch eine Zahnlücke aus. Seit wann er auf der Cuvry sei? Mit glasigen Augen schaut der Mann ins Nichts, schüttelt sich. „Ich habe erzählt schon genug.“ Er steht auf und geht. Je später es wird, desto wirrer werden auf der Cuvry Menschen und Ansichten.
"Wir sind halt ein kleines gallisches Dorf"
Aussteiger und Obdachlose, Illegale und solche, denen alles egal ist. Sie verlangen nach Revolution oder einem Bier. „Wer hat noch Kleingeld?“ Zum Glück ist Sascha da, der sagt: „Manchmal geht es hier etwas durcheinander. Wir sind halt ein kleines gallisches Dorf.“ Ob sie auch einen Zaubertrank haben? Den bräuchten sie wohl, um es auf Dauer mit Artur Süsskind aufzunehmen, dem Investor aus München und Besitzer des Grundstücks. „Den interessieren wir nicht, für den sind wir Feinde“, sagt Sascha und winkt ab.
Dabei hat Süsskind das Gespräch mit dem Kiez gesucht, über jene Wohnblocks, die er auf der Cuvry errichten lassen möchte. Im Juni 2013 hatte er in ein Zirkuszelt am Görlitzer Park geladen und allen Interessierten seine Vision von den „Cuvry-Höfen“ dargelegt. Der Uferstreifen soll für alle frei bleiben, auf sechs Etagen sollen 250 Wohnungen entstehen, zehn Prozent davon im niedrigpreisigen Segment. Doch auch dieses soziale Zehntel nutzte dem Investor nichts, er wurde von Cuvryianern und deren Sympathisanten aus dem Zelt gebrüllt. „Wir wollen eure Scheiße nicht“, riefen sie damals und: „Free Cuvry!“ Später wird Daniel Mamrud, Sprecher von Süsskinds Firma Nieto, süffisant-diplomatisch erklären, dass „im Rahmen der Veranstaltung bei den teilweise stark alkoholisierten Bürgern wenig Bereitschaft zum Dialog“ bestanden habe. Ein erneuter Austausch sei nicht geplant.
Die Planungshoheit liegt beim Senat
Bereits Ende der 90er Jahre hat der Senat die Planungshoheit für das Grundstück an sich gezogen, da es gesamtstädtische Bedeutung habe. Nun verhandelt Süsskind – trotz vorhandener Baugenehmigung – mit dem Senat erneut, was und wann genau er auf der Cuvry bauen lassen möchte. „Wegen laufender Gespräche werden keine Vertragsdetails preisgegeben“, erklärt Mamrud. Ziel sei es, einen Konsens herzustellen. „Ich finde unseren Entwurf eigentlich ganz schön“, sagt Mamrud mit müder Stimme.
Das erste permanente Zelt auf der Cuvry gebaut zu haben reklamiert für sich ein Mann, der Flieger genannt werden möchte. Flieger ist um die 50, hat die Statur eines Wikingers und lange grauweiße Haare. Von seinem Hals hängt eine Kette mit dem fingerlangen Zahn eines Wildschweins. „Auf der Cuvry ist negative Energie. Die Besoffenen fackeln sich da gegenseitig ab.“
Flieger spricht, während er die Halteseile seines geräumigen Indianerzeltes überprüft. Das hat er zwei Kilometer spreeaufwärts aufgestellt. Weil ihm die Brache zu viel wurde, hat er hier, im Schatten der inzwischen zugemauerten Eisfabrik an der Köpenicker Straße eine neue Zeltstadt gegründet. TeePee heißt sie und ist in vieler Hinsicht der Gegenentwurf zur chaotischen Cuvry. Mit Pflastersteinen abgegrenzte Gehwege, eine Gemeinschaftsküche mit Strom, sogar eine ausgewiesene Pinkelecke hat dieses ebenfalls illegale Zeltdörfchen. „Ich habe weder die Cuvry noch TeePee aus Protest gegen Aufwertung begonnen“, erzählt Flieger, „wir sind sozial, nicht politisch.“ Er selbst stammt „von der Nordsee“, hat unter Hafenkränen und in Großlagern gearbeitet. „Ich heiße die Welt willkommen, hier waren sogar Besucher aus Nordkorea.“ Flieger sagt häufig „ich“, fühlt sich als Gründervater und Ältester, als Chef. Die sehr viel jüngeren Aussteiger um ihn herum stört es nicht. Einer von ihnen ist Oliver aus London. Mit Nachdruck fegt er den Platz vor seinem Tipi. „In England gibt es solche Freiräume nicht mehr“, erklärt er. Auf der Insel habe er „in einem Büro gearbeitet, Anzug und so“, irgendwann hätte er genug gehabt. „Ich bin nicht besonders glücklich mit der modernen Gesellschaft“, erklärt Oliver, stellt den Besen zur Seite und wischt sich mit dem Ärmel seines Wollpullovers Schweiß von der Stirn. Die Cuvry und ihre Bewohner kennt Oliver natürlich, gegenseitige Besuche seien üblich. Auch im TeePee-Dörfchen sei es zunächst schwer gewesen, „furchtbar und kalt“ war der Anfang. „Hier hockten spanische und deutsche Punks, die sich gegenseitig misstrauten“, erzählt Oliver. Im Sommer 2013 sei es dann aufwärts gegangen. Er zeigt auf die einzige Großkonstruktion im Dörfchen: eine überdachte Bühne, auf der bei gutem Wetter Konzerte stattfinden. „Im Sommer zeigen wir auch Filme und nehmen Gäste mit eigenen Zelten auf“, sagt Oliver.
"Wir gehen die Sinti und Roma klatschen", sagt der mit dem Spaten
Neue Bewohner dagegen dürfen nicht kommen – TeePee ist bereits voll. Es ist eine internationale Gemeinschaft, die hier lebt, viele junge Männer aus dem Baltikum, junge Frauen aus Spanien. Sie alle erzählen, dass sie als Aussteiger mitten in einer Großstadt nur in Berlin so leben könnten. In ihren Heimatländern seien die guten Zeiten vorbei. Die einzige deutsche Bewohnerin heißt Anouk, ist 22 Jahre alt und von Köln nach Berlin gezogen, um zu studieren. Dieses Projekt ruht gerade. „Ins TeePee kam ich als Besucherin. Dann bin ich geblieben. Meine Wohnung ist gekündigt“, erzählt sie mit gewinnendem Lächeln. Duschen könne man im Obdachlosenheim oder in Missionen, wenn das Essen nicht reicht, gebe es die Tafeln, wer Geld brauche, sammele eben Flaschen. Anouk erzählt das, wie andere Menschen von ihrem neuen Haus im Grünen erzählen. Dabei wissen auch die TeePee-Bewohner, dass ihr Lebensentwurf nur funktioniert, weil es die von ihnen abgelehnte Mehrheitsgesellschaft gibt, in der Menschen Pfandflaschen leer trinken, Brötchen spenden und Steuern zahlen.
TeePee funktioniert auch deshalb viel besser als die Cuvry, weil das Dörfchen überschaubarer ist. Die Bewohner kennen sich gut, sind eine Gemeinschaft mit einer kulturellen Agenda. Auch die drei Bulgaren, die im vergangenen Jahr aus der Eisfabrik hierher übersiedelten, scheinen es besser getroffen zu haben als die anderen von dort Vertriebenen, die auf der Cuvry gelandet sind. „Ja ja, ist alles gut“, sagt einer von ihnen, ein stämmiger Mann mit blondiertem Haar. Vielleicht profitiert die TeePee-Gemeinschaft auch schlichtweg davon, auf öffentlichem Grund zu liegen und nicht von Räumung bedroht zu sein. Oder davon, dass das Zeltdorf zwar direkt an der Spree, aber in einem toten Winkel hinter der Eisfabrik liegt. „Wohl besser“, sagt Flieger, „dass wir hier etwas versteckt sind.“
„Es soll kein schlechter Eindruck von der Cuvry entstehen“
Währenddessen wird die Cuvry vom toten politischen Winkel geschützt, den Bezirk, Senat und Investor geschaffen haben, damit niemand für die Lage der Menschen dort verantwortlich gemacht wird. Für das, was geschieht, wenn es dunkel wird auf der Cuvry. Der Sitzkreis um die brennende Tonne hat sich wieder eingefunden. Es sind nicht dieselben Menschen wie zuvor, es ist auch nicht der gleiche Tag, doch die Tage gleichen sich auf der Cuvry. Die Bulgaren sind, wie immer, nicht darunter. Sie sind, wie meistens, arbeiten.
Wo genau, weiß keiner. Ein Mann in Lederkluft erzählt aufgeregt die Geschichte eines Fotografen, der in Syrien brutale Fotos geschossen habe, Kinderleichen und so, dass keiner sie habe drucken wollen. „Diese Medien!“ Sein Nachbar nickt. Die anderen etwa fünfzehn Umhersitzenden haben nicht zugehört. Joints kreisen. Lukas mit seinen Dreads zupft die Gitarre. Eine betrunkene Frau schwankt in die Runde, spuckt Schimpfwörter aus einem zahnlosen Mund. Ihre Freunde beruhigen sie. „Es soll kein schlechter Eindruck von der Cuvry entstehen“, sagt Lukas. Sascha ist auch wieder da, immer hat er eine Idee, was man noch tun, wen man noch treffen könnte. Es geht in eine Gasse, zwischen Spanplatten hindurch zu einer Frau mit kurz geschorenem Haar. Sie heißt Lolita und stammt „von überallher“, wie sie sagt. Lolita lädt in ihre Holzhütte mit Hochbett. Bequem ist es darin, in den Ecken brennen Kerzen, eine alte Bassbox dient als Tisch.
Die Männer sehen aus wie Punks, wie wütende Punks
„Die Hütte hat viel Arbeit gemacht, weil Freunde, die mir geholfen haben, alle schwul sind, die musste ich anleiten“, sagt sie. Da hätten es andere leichter, erklärt Lolita, zum Beispiel ihre Nachbarin, der habe Sascha ja geholfen weil er auf sie steht. Sascha gönnt sich ein Bier und widerspricht nicht. Lolita sucht zwischen Farben und Stofffetzen irgendetwas. „Mist“, sagt sie und spannt ihre feinen und harten Gesichtszüge. „Wir brauchen einen Elektrozaun. Ich dachte, die klauen nicht mehr von mir, aber sie tun es immer noch. Und es tut immer noch weh.“
Später in der Nacht, einer anderen Nacht nach einem anderen Tag, tauchen an einem offenen Lagerfeuer drei Gestalten auf. Einer von ihnen hält eine Eisenstange in seinen Händen, ein zweiter eine Stahlkette und der größte von ihnen einen Spaten. Die Männer sehen aus wie Punks, wie wütende Punks. Sie fragen, ob man zwei Jungs gesehen habe. Jungs? So Jungs eben. „Wir gehen die Sinti und Roma klatschen“, sagt der mit dem Spaten. „Die haben unser Blech geklaut, so Blechplatten.“ Er schwingt seinen Spaten durch die Luft. Da werden Schreie laut.
Ein Mann rennt vorbei und wirbelt Erde auf, ein anderer kommt und bleibt vor den drei Bewaffneten stehen. „Wir gehen die jetzt suchen“, erklären sie ihm. Der Mann nickt, logisch, doch er wirkt nüchterner als seine Gefährten und scheint plötzlich zu erkennen, dass ein Unglück bevorsteht. „Was ist mit Gandhi?“, fragt er. Der mit dem Spaten ist verdutzt, er hebt seine Waffe in die Höhe und demonstriert in der Luft, dass sie von zwei Seiten zu gebrauchen ist: zuschlagen mit dem Spatenblatt, zustechen mit dem abgebrochenen Stiel. „Nein, Mann, ich meine, Gandhi hat gesagt: Es gibt keinen Weg zum Frieden, denn ...“ Der Eisenstangenmann unterbricht ihn, brüllt: „Genau, keinen Frieden!“ „Nein, Mann, lass mich ausreden. Gandhi hat gesagt: Es gibt keinen Weg zum Frieden, denn Frieden ist der Weg!“ Da holt der mit der Eisenstange Pfefferspray aus seiner Lederjacke und hält es Gandhi vors Gesicht. Der weicht zurück.
Dann machen sie los, die drei Bewaffneten und für kurze Zeit scheint es, als sei all das nicht passiert, als sei die Szene ebenso surreal und unmöglich wie eine Favela mitten in Berlin. Wieder hallen von irgendwoher Schreie, Schatten huschen vorbei, Minuten vergehen. Dann hält in der Cuvrystraße vor einer der drei Pforten ein Polizeiwagen, hinter ihm biegt ein zweiter ein und dann noch einer. Sechs Polizisten steigen aus. Hinter ihnen ducken sich zwei schmächtige Roma-Jungs. Sie alle bleiben lange vor der Pforte stehen, hinein geht niemand. Langsam legt sich die Nacht über die Cuvry. Schon bald geht die Sonne auf und erleuchtet einen neuen Tag, einen Tag danach.
Dieser Artikel ist auf den Mehr-Berlin-Seiten des Tagesspiegels erschienen.
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