Martin Delius und Wilmersdorf: Berlin, nun sei doch mal erwachsen!
Martin Delius ist Fraktionsvorsitzender der Piraten im Abgeordnetenhaus und er sagt: "Ich bin angekommen – im Parteiensystem und in Wilmersdorf. Die wilden Jahre sind vorbei." Ein Bekenntnis.
Nach Berlin – so sagen viele – zieht man ja nur, um wieder zu gehen. Das Selbstwertgefühl dieser Stadt bemisst sich oft daran, die nicht Eingeborenen so lange zu gängeln und zu schubsen, bis sie von selbst aufgeben und die Stadt wieder verlassen. Berlin ist krass. Wer hier nicht überlebt, muss sich keine Vorwürfe machen, denn alles hier ist darauf ausgerichtet, unerfüllbare Ansprüche an jede und jeden zu stellen. Unerfüllbar, weil die Stadt, die noch hier Lebenden und die metropolitanische Gesellschaft ihren Ansprüchen selbst nicht gerecht werden. Die Berliner Überheblichkeit ist sprichwörtlich, und das bekommen alle zu spüren, immer, überall. Wirklich überall? Nein.
Es gibt es, das andere Berlin. Das Berlin, in dem wir ein Zuhause finden können, wenn die wilden Jahre vorbei sind und das Sich-beweisen-müssen nichts mehr mit Lifestyle, sondern mit Leben zu tun hat. Es gibt die Kieze, die Bezirke, die Gegenden, die die Gentrifizierung längst hinter sich haben – oder nie erleben. Es gibt die Gegenden, in denen Menschen leben, denen es wirklich egal ist, wie hip oder in ihr Kiez ist und was andere über ihn denken. So eine Gegend ist Wilmersdorf. Hier kommt man an und bleibt gern.
Ich bin angekommen. Nach zehn Jahren in der Stadt. Nach fünf Jahren in der Politik. Und in meinem Leben. Ich besitze – noch – ein Auto. Ich bin stolzer Familienvater. Ich mache etwas aus meinem Leben. Ich bin typisch Berlin, als vom Lande Zugezogener mit einem gebrochenen Lebenslauf. Ich bin typisch Berlin ohne vorgezeichneten Karriereweg und mit dem Drang, auch Anfang dreißig noch nach meinem Platz in der Gesellschaft suchen und um ihn kämpfen zu müssen.
Ich bin aber auch über Sozialwohnungen, links-studentische Wohngemeinschaften und unsanierte schimmlige Altbauten sesshaft geworden in Berlin. Nicht mit Eigentum – das wäre unberlinerisch –, aber zur Miete in einer schönen Wohnung am S-Bahn-Ring. In Wilmersdorf. Ich trage nicht nur Verantwortung für mich und mein Leben, sondern berufsbedingt für das von Millionen und meine kleine Familie. Auch das ist Berlin.
Nicht das zum Erbrechen quirlende Leben Kreuzköllns
Das Berlin, das mein Zuhause geworden ist, das ich wohl nie mehr verlassen werde, ist nicht der letzte Flecken sogenannter alternativer Wohnkultur in Friedrichshain oder das bis zum Erbrechen quirlende Leben Kreuzköllns. Mein Zuhause ist auch nicht das überfüllte und oft bräsig erscheinende Prenzlauer Berg geworden, in dem jeder Cafébesuch wie ein Gang zum Laufsteg anmutet oder, ironisch gemeint, zum Schafott.
Überhaupt bin ich in einem Berlin und in einer politischen Gesellschaft angekommen, die nicht ironisch daherkommt, die Probleme als die großen Aufgaben annimmt, die sie sind und sich nicht hinter Symbolen, Namen oder einem Lifestyle versteckt, der schon nach Monaten überlebt ist und nur ein kläglicher Ersatz für den eigenen Platz in der Welt sein kann. Ich bin erwachsen geworden, und ich habe das Gefühl: Meine Stadt ist es auch – sie weiß es nur noch nicht.
Im Jahr 2011 habe ich mit der Piratenpartei in Berlin einen Wahlkampf gemacht, den man am ehesten als „visionär dagegen“ bezeichnen kann. Wir waren gegen alles, wussten alles besser – und was wir für Konzepte hielten, sah bei näherer Betrachtung eher aus wie die feuchten Träume eines Abiturienten mit Hauptfach Politik. „Lange ist es her“, geht mir durch den Kopf. Es ist aber nicht lange her, als wir dachten: „Opposition und Koalition sind doch überkommene Strukturen.“
Sich selbst genug und innovativ
Ich bin angekommen im Politikbetrieb, aber er hat mich nicht verschluckt. Jetzt bin ich Fraktionsvorsitzender einer Fraktion, die sich anschickt, in der Bilanz dieser Legislatur die einzige Oppositionsfraktion zu werden. Jetzt sitze ich in diesem Spiel und begreife, dass nicht die Rituale das Problem sind, sondern mit welchem Selbstverständnis sie ausgefüllt werden. Berlin braucht Opposition und Koalition, in der Stadt und im Parlament. Doch wenn es darauf hinausläuft, dass entweder alles so bleiben soll, wie es ist oder kein Stein mehr auf dem anderen bleiben darf, kann es nur schiefgehen.
Ich bin jetzt 31. Und ich habe noch viel vor. Das kann ich aber allein und brauche nicht die Bestätigung von außen. Ich bin mit mir im Reinen, kann aus meinen Fehlern lernen und verzweifle nicht mehr an ihnen. Ich wünschte, ich könnte das auch so von meiner Stadt sagen. Mein Berlin ist sich selbst genug und innovativ, kreativ und erfolgreich – ohne eine Marke zu sein. Mein Berlin ist noch nicht überall in dieser Stadt angekommen. Unser Berlin muss noch erwachsen werden, ohne sich darauf etwas einzubilden. Damit all jene, die hierherkommen, auch hier ankommen können.
Martin Delius