Kochen auf der Familienfarm "Lübars": Bewusste Ernährung von klein auf fördern
Woher stammen Lebensmittel? Wie bereitet man sie zu? Gerade in einkommensschwachen Familien sei das oft wenig Thema. Eine Stiftung will das ändern.
Gegenüber von weißen Wohnblocks des Märkischen Viertels im Norden Berlins führt ein kleiner Weg durch einen Torbogen zur Familienfarm Lübars – mitten ins Grüne. Auf dem Gelände der Familienfarm stehen alte landwirtschaftliche Geräte. Schilder weisen in verschiedene Richtungen unter anderem auf „Ziegen, Schweine, Enten, Gänse“ hin. Ein Junge fährt auf einem Spieltraktor umher. Hinter den Fachwerkgebäuden der Farm, gleich bei den Pferden, wächst Gemüse. Gelbe Blätter leuchten vor blauem Himmel. Auf der Familienfarm können Berliner Stadtkinder sich nicht nur austoben und Landluft schnuppern, sondern auch vieles lernen.
Die Kinder der Kita Mäusekiste sind an diesem Herbstvormittag in die Küche der Farm zu einem Kochkurs gekommen, um mit allen Sinnen zu erfahren, was man aus dem Gemüse auf dem Beet draußen machen kann. Aufmerksam schauen sie auf Kursleiterin Jennik Schmitz, die ein Bündel Schnittlauch hochhält. Sie leitet den Kurs. Die meisten Kinder wissen nicht, was Schnittlauch ist. Schmitz versucht es noch mal. „Und wisst ihr, wie das heißt?“, fragt sie. Diesmal wissen die Kinder Bescheid. „Salat“, rufen sie im Chor. Die Vier- und Fünfjährigen besuchen heute die fünfte von insgesamt zehn Koch-Einheiten des Kurses für Kitakinder. Kürbisbratlinge soll es heute geben – und Haferbrei zum Nachtisch.
„In vielen Familien wird nicht mehr frisch gekocht“
Viele der Kinder hier stammen aus einkommensschwachen Familien, erklärt Helene Böhm von der Wohnungsbaugesellschaft Gesobau. Die Gesobau finanziert die Kurse. Seit 2013 finden sie auf der Familienfarm Lübars statt. Böhm erklärt, dass die Wohnungsbaugesellschaft hier der größte Vermieter ist, von den rund 17.000 Wohnungen verwalte sie 15.000. „Viele Kinder wachsen in Familien auf, die nicht viel Geld haben“, sagt sie. Mit der Finanzierung des Programmes wollen sie dazu beitragen, dass Kinder aus verschiedenen Kitas im Märkischen Viertel lernen, wie man sich abwechslungsreich und gesund ernähren kann. „Armut hat ja viele Dimensionen.“ Mangelnde Gesundheit sei eine davon, fehlendes „soziales und kulturelles Kapital“ eine weitere.
„In vielen Familien wird nicht mehr frisch gekocht“, sagt Andrea Zerwes, die an diesem Tag auch dabei und wie Jennik Schmitz Mitarbeiterin der Sarah Wiener Stiftung ist, die den Kurs organisiert hat. Oft würden Fertigprodukte konsumiert. Das Wissen darüber, woher die Lebensmittel stammen und wie man sie zubereitet, gehe indes verloren. Das gelte nicht nur für benachteiligte Familien. Aber: „In sozial benachteiligten Familien ist das Thema ,ausgewogene Ernährung‘ im Alltag oft weniger präsent.“ Die Kochkurse sind eines von mehreren ähnlichen Projekten, die die Stiftung organisiert. Ein weiteres Projekt ist etwa die Initiative „Ich kann kochen“, bei welchem Erzieher und Lehrer als „Genussbotschafter“ ausgebildet werden – als Multiplikatoren, die in Schulen und Kitas für ausgewogene und gesunde Ernährung sorgen sollen. Bei dem Kochkurs auf der Farm gehe es nicht nur darum, aus den Kindern „verantwortungsvolle und genussvolle Esser“ zu machen, sondern auch darum, ihren Teamgeist durch das Kochen zu stärken.
Der Kochkurs soll auch das Selbstbewusstsein stärken
Auf dem Tisch liegen Brettchen, Schüsseln und Messer. Bevor es losgeht, heißt es erst mal Händewaschen. Dann übernehmen die Kinder verschiedene Aufgaben. Luka runzelt die Stirn und riecht an der Zwiebel, die vor ihm liegt. „Die Kinder sollen mit allen Sinnen kochen“, betont Zerwes von der Sarah Wiener Stiftung. Beim Schneiden der Zwiebel schlägt sich Luka wacker, erntet dafür von den anderen Kindern Respekt. „Ich will die Zwiebel nicht schneiden, da tränen die Augen“, sagt ein anderer Junge. Ein Mädchen zupft zaghaft den Salat. Bei dem Kurs gehe es auch darum, das Selbstbewusstsein der Kinder zu stärken, erklärt Zerwes. Viele Eltern würden die Kinder nicht schneiden lassen oder ihnen nicht zutrauen, sich an den Herd zu stellen. In den Kursen gehe es indes darum, den Kindern „die Angst davor zu nehmen, dass Kochen etwas total Schwieriges ist“. Eltern rät sie, „Kinder beim Kochen einzubeziehen und ihnen Verantwortung zu übertragen“.
Die Kinder rennen zwischendurch nach draußen, um nachzusehen, wo der Kürbis auf dem Hof wächst. Dort blüht es, riecht es nach Lavendel, der auch hier steht, neben anderen Blumen. „Da ist der Kürbis“, ruft eines der Kinder und deutet auf Kürbisse, die in dem Gemüsebeet gerade reifen. Die anderen Kinder kommen und bestaunen die orangen Blüten. Zerwes plädiert dafür, auch zu Hause saisonal zu essen, den Kindern einen Bezug dazu zu vermitteln, woher die Produkte kommen und woraus sie bestehen.
Beim Kochen sollten Eltern ihre Kinder einfach mal fragen: „Wo kommt das her?“ Ihnen auch Gemüse zeigen, das anders aussieht, als sie es gewohnt sind, eine andere Farbe hat, wie etwa unreife Tomaten. Außerdem sollte man Kinder beim Kochen „mal hier riechen, mal da schmecken lassen“, rät Zerwes den Eltern.
Schon früh für Nachhaltigkeit sensibilisieren
Die Erzieherin Neriman Kocak erklärt, die größte Wissenslücke seien Kenntnisse darüber, wie das Gemüse wächst. „Bei Stadtkindern merkt man das schon“, sagt sie. Ebenso herrsche über die Herkunft von Eiern und Milch bei den Kindern oft Unwissen. Auch die Tiere können die Kinder auf der Farm kennenlernen. „Letzte Woche haben wir Pizza gemacht“, erzählt Kursleiterin Schmitz. Sie habe zuvor die Zutaten auf den Tisch gestellt und keines der Kinder habe erraten können, was daraus werden soll. Die Produkte, die in dem Kochkurs verwendet werden, kämen von dem Hof selbst oder würden regional eingekauft. „Sie können auch den Unterschied schmecken zwischen der Gurke, die regional gewachsen ist, und der, die einmal um die Welt geflogen ist“, sagt Zerwes. Außerdem sollen sie schon früh für Nachhaltigkeit sensibilisiert werden. Natürlich könne der Kurs nur ein erster Anfang sein.
Die Kinder tragen Kochschürzen und -mützen, wie große Köche. Um an den Herd zu kommen, stellen sich die kleinen Köche auf Hocker. Sie sollen auch spielerisch die Freude am Kochen entdecken, sagt Jennik Schmitz. Von der Küchenzeile her ertönt der Mixer. Ein Junge wiegt sich rhythmisch zu dem Sound nach rechts und links, „coole Musik“. Man merkt, dass das Kochen den Kindern Spaß macht. Manchmal würden die Kinder sagen: „Nee, das ist so grün und gesund, das esse ich nicht.“ Dann erzählt Schmitz eine Geschichte, sagt etwa „das ist ein grüner Zauber“ und macht das Gemüse für die Kinder so interessant. Wenn sie dann doch probieren, sei der Bann oft gebrochen, vielen schmecke es doch.
„Weißt du, was das ist?“, fragt Erzieherin Kocak, als sie die Kürbisbratlinge formt. „Fleischbällchen“, rät der fünfjährige Erik. Kürbis kenne er nur von Halloween, habe er aber noch nie gegessen. Heute wolle er vielleicht mal probieren. Eigentlich scheut er sich. „Sieht aus wie Kotze“, sagt er. Alle lachen.
„In jungen Jahren wird der Geschmack und das Essverhalten ausgebildet“
Bereite man das Essen selbst zu, habe man dazu einen ganz anderen Bezug, sagt Andrea Zerwes. „Wenn sie es selbst gemacht haben, probieren sie es auch eher.“ Eine Geschmacksschulung sei von klein auf wichtig. „In jungen Jahren wird der Geschmack und das Essverhalten ausgebildet“, sagt sie. „Die Kinder sollen lernen, selbstbewusst über ihre Ernährung zu bestimmen und eigene Souveränität und Kontrolle zu entwickeln, weil sie wissen, was ihnen guttut“, erklärt sie.
Die vierjährige Melina steht am Herd und hält den Topf, die fünfjährige Arda rührt. Es wird Ketchup, aus Tomatenmark, den es zu den Bratlingen geben soll. Dazu kommen Äpfel und Zwiebeln. Verfeinert wird der Ketchup dann – für verschiedene Sorten – mit Honig, Curry und Zimt. Sie wollen den Ketchup „mal mit weniger Zucker machen“, sagt Jennika Schmitz, die den Kurs betreut. „Mir schmeckt Apfel am besten“, ruft eines der Kinder dazwischen.
Dass sich einige der Kinder nicht gesund ernähren, das verrate ein Blick in deren Brotboxen, sagt Erzieherin Neriman Kocak. „Darin ist wirklich nur Süßes.“ Sie listet auf: Waffeln, süße Hörnchen und Brötchen mit Nutella. „Wir haben beim Elternabend darüber geredet, was Eltern ihren Kindern in die Brotbox geben.“ Außerdem hätten sie über die Zeit viele Verpackungen von Lebensmitteln gesammelt, die die Kinder mitbekommen hatten, und in der Kita an eine Wäscheleine gehängt – um zu zeigen, wie viel Müll die Kinder produzieren. Oft werde das Essen auch in der Brotbox noch mal in Alufolie oder Plastik eingepackt. Durch das Projekt komme man auf neue Ideen. In der Kita würden sie Kinder auch ermutigen, ihr Essen mit anderen zu tauschen: Wenn einer lieber einen Apfel möge, könne er es mit einem anderen Kind etwa gegen eine Gurke tauschen.
Auch die Eltern profitieren von dem Kurs
Auch die Eltern profitieren von dem Kochkurs. Viele fragten schon nach den Rezepten, erzählt Kocak. Am Ende des Kurses bekommen die Kinder sie mit. Sie werden so zu Experten, die ihr Wissen weitergeben können. Auf das Zertifikat, dass sie am Ende des Kurses bekommen, seien sie besonders stolz. Auch jetzt schon will Erik sein neues Wissen teilen. Er hat die Vanilleschote für den Nachtisch in der Hand, streckt seine Hand aus und fragt: „Willst du auch mal riechen?“
An der Küchenzeile wird der Haferbrei schon warm. „Immer schön rühren, damit es nicht anbrennt.“ Wenn Jennik Schmitz später den Tisch zum Essen deckt, legt sie bunte Blätter dazu, die die Kinder gesammelt haben. Passend zum Herbst und zur Erntedankzeit.