Parlaments- und Präsidentschaftswahl: Berlins Türken haben die Wahl
Bis 19. Juni können Türken in Berlin wählen – Staatspräsident Erdogan oder fünf weitere Kandidaten. Dabei zeigt sich, wie tief gespalten die Gemeinschaft ist.
Safiye Gülsen verreist oft in die Türkei. „Die Türkei ist ganz anders, nicht so, wie hierzulande über sie gesprochen wird.“ Vom Ausnahmezustand bekommt die 52-jährige AKP-Wählerin nichts mit, sie versteht die Kritik aus Deutschland nicht. „Das Land hat sich rundum in eine positive Richtung entwickelt, der Verkehr, das Gesundheits- und Bildungswesen.“ Ihr Mann Hüseyin Gülsen (56) drängelt ein wenig. Vor seiner Abreise wollte er unbedingt noch seine beiden Stimmen abgeben, eine für das Amt des Präsidenten, die andere zur gleichzeitigen Parlamentswahl.
„Früher habe ich türkische Rentner in langen Schlangen vor der Geldausgabestelle sterben sehen. In Istanbul mussten Traktoren Wasser in Behältern heranschleppen, weil wieder mal das Wasser abgestellt war. Kranke mussten vor Krankenhäusern stundenlang warten.“ Erdogan habe sein Versprechen gehalten und bei alldem Abhilfe geschaffen. „Deswegen gebe ich ihm mit gutem Gewissen meine Stimme“, sagt Gülsen.
Im Vergleich zum Referendum vor einem Jahr geht es im Wahllokal am türkischen Generalkonsulat diesmal wesentlich ruhiger und vor allem entspannter zu. Seit Donnerstag können türkische Staatsbürger bis zum 19. Juni von neun Uhr morgens bis neun Uhr abends, auch an Wochenenden, abstimmen.
Kritiker sprechen von unfairen Wahlen
Um das Präsidialamt bei diesen richtungsweisenden vorgezogenen Doppelwahlen konkurrieren fünf Kandidaten gegen Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, darunter der Kandidat der größten Oppositionspartei CHP, Muharrem Ince. Für die HDP tritt deren inhaftierter Co-Vorsitzender Selahattin Demirtas an. Kritiker sprechen von unfairen Wahlen unter dem geltenden Ausnahmezustand.
Meral Aksener, die Präsidentschaftskandidatin der neu gegründeten national-konservativen, im Gegensatz zur AKP aber säkular ausgerichteten Iyi-Partei, gilt durchaus als aussichtsreich. Alle Gegenkandidaten versprechen, die parlamentarische Demokratie und Gewaltenteilung wieder einführen zu wollen.
Einzeln oder in Gruppen kommen Wähler aus dem Wahlgelände heraus, darunter eine Gruppe Frauen. Die Frauen gehen weiter, als sie auf Nachfrage etwas von einer deutschen Zeitung hören. Die AKP habe ihr ihre Freiheit gegeben, ruft wenig später eine andere Frau, während sie lächelnd die Straßenseite wechselt. Dabei zeigt sie auf ihr Kopftuch.
Kurz danach hält ein Minibus an, mehrere Menschen steigen aus. Es ist der Shuttleservice der AKP. Die Berliner Ableger der türkischen Parteien wollen ihre Wählerschaft mobilisieren. Die Wahlbeteiligung lag vergangenes Jahr unter den rund 140.000 Stimmberechtigten bei knapp 43 Prozent. Der Shuttleservice der CHP beispielsweise hält an fünf Stationen in der Stadt jeweils morgens, mittags und abends. Kranke und Senioren fährt die Partei auf Anfrage mit Taxis zum Wahllokal. Die HDP tut es ihr gleich.
Mit der AKP hätten die Menschen Freiheiten erlangt
Für Sedat Özel (47) gibt es weitere Gründe, Erdogan und seine islamisch-konservative Partei AKP zu wählen. „Früher interessierte sich kaum jemand für das Land. Heute sprechen alle über Erdogan und die Türkei. Warum? Mit der AKP ist die Türkei erstarkt. Seitdem greift uns der Westen an.“ Von Menschenrechtsverletzungen will Özel nichts wissen. Mit der AKP hätten die Menschen Freiheiten erlangt. „Früher konnte niemand sagen, ich bin Kurde, Alevit oder Linker.“
Fragt man Wähler anderer Parteien, taucht man in eine ganz andere Welt ein. Viele sind unzufrieden und spürbar nervös. Erdogans AKP habe keines ihrer Versprechen gehalten, meint der CHP-Wähler Avni Özkan (75). „Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich immer weiter, es gibt immer noch Korruption und Vetternwirtschaft im Land. Die Türkei ist völlig verschuldet, aber der Präsident lässt sich ein Palast bauen.“ Das Land sei gespalten, beobachtet Özkan. Mit einer neuen Regierung müsse der Hass in der Gesellschaft überwunden werden.
"Mit Demokratie hat das alles nichts mehr zu tun"
„Niemand glaubt mehr an die Justiz. Der Staatspräsident kann tun und lassen, was er will.“ Iclal Deniz (48) beispielsweise ist es leid, am Arbeitsplatz die abfälligen Bemerkungen deutscher Kollegen über Erdogan zu hören. Entgegensetzen kann sie der Kritik nicht viel. „Es ist Zeit für einen Politikwechsel. Mit Demokratie hat das alles nichts mehr zu tun. Die Türkei hat sich weiter vom Westen entfernt.“
Der Erklärung bedarf häufig, warum die Mehrzahl der Deutsch-Türken die AKP wählt. Das wird auch diesmal der Fall sein, so die Prognose der Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung (ZfTI) in Essen. „Die allermeisten Deutsch-Türken stammen ursprünglich aus ländlichen Gegenden und identifizieren sich mit konservativ-islamischen Werten, die die AKP vertritt“, glaubt Gülay Kizilocak vom ZfTI.
AKP-Wähler seien Erdogans Partei dankbar für den Wirtschaftsaufschwung. In Deutschland hätten sie über Generationen hinweg nicht das Gefühl gehabt, dass es hier auf sie ankomme. „Keiner hat sich wirklich um sie gekümmert. Diese Lücke hat die AKP-Regierung gefüllt, sogar mit einem eigenen Ministerium.“
Unter den Wählern der Opposition fällt eine Gruppe auf: gebildete Menschen zumeist jungen und mittleren Alters, die erst vor Kurzem aus der Türkei eingewandert sind. Eine aus dieser „Neuen Welle“ ist Mihri Minaz. Sie hofft, dass die HDP mindestens die Zehn-Prozent-Hürde erreicht. Tut die Partei das nicht, verliert sie die meisten ihrer Sitze im Parlament an die AKP. „Die HDP macht Politik für Minderheiten.“ Das findet die 31-Jährige gut.
Erhält Erdogan die absolute Mehrheit nicht, kommt es in der Türkei am 8. Juli zur Stichwahl. Berliner Türken müssten dann vom 30. Juni bis 4. Juli wieder zur Stimmabgabe gehen. Am 24. Juni wird nun erst einmal ausgezählt.
Hülya Gürler