Ungleiche Verteilung von Quereinsteigern: Berlins Lehrermangel bleibt sozial entmischt
Rund 10.000 Lehrkräfte könnte Berlin seit 2014 verloren haben, schätzt der Gesamtpersonalrat. Die Folgen sind überall spürbar, aber nicht überall gleich.
Die jahrelangen Bemühungen, Quereinsteiger gleichmäßiger über die Bezirke zu verteilen, waren bisher weitgehend erfolglos. In Brennpunktbezirken wie Mitte oder Neukölln sind noch immer zwei- bis dreimal mehr Lehrkräfte im Einsatz, die erst noch parallel ausgebildet werden müssen, als etwa in Steglitz-Zehlendorf oder Treptow-Köpenick. Dies ergab eine aktuelle AfD-Anfrage im Abgeordnetenhaus.
Demnach befanden sich im vergangenen Schuljahr knapp 2300 neue Quereinsteigende in der Qualifizierung, davon rund 120 in Steglitz-Zehlendorf, aber 270 in Mitte, obwohl Mitte weniger Schulen hat als der Bezirk im Südwesten.
Über die Hälfte muss berufsbegleitend noch ein oder zwei Fächer nachstudieren, bevor sie mit dem eigentlichen Vorbereitungsdienst, dem Referendariat, überhaupt beginnen können. Sie stehen also vor der Klasse, während sie ihre Fächer – vor allem Deutsch und Mathematik – erstmal studieren müssen.
Keine Antwort erhielt die AfD auf die Frage, wie viele der Nachwuchskräfte die berufsbegleitende Ausbildung abbrechen: Das werde „nicht statistisch erfasst“, teilte Bildungsstaatssekretärin Beate Stoffers (SPD) mit. Wer durchhalte, könne aber mit einer Verbeamtung rechnen, sofern Berlin zur Verbeamtung von Lehrkräften zurückkehrt, erläutert Stoffers.
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Dies gilt auch in anderen Bundesländern, weshalb Berlin sich laufend von fertig ausbildeten Quereinsteigenden verabschieden muss: Sie wandern – wie auch regulär ausgebildete Lehrkräfte – stetig ab, um sich andernorts verbeamten zu lassen. Insgesamt könnte Berlin seit 2014 rund 10.000 Nachwuchskräfte und Lehrer:innen verloren haben, rechnete der Vizevorsitzende des Gesamtpersonalrats, Dieter Haase, am Sonntag vor.
2014 war das Jahr, als erstmals fast alle Fächer zu Mangelfächer erklärt worden waren. Seitdem haben rund 7000 Quereinsteiger in Berlin den Schuldienst angetreten: Die genaue Summe beziffert – anders als etwa NRW – nicht.*
Zu drei Zeitpunkten wandern Lehrkräfte ab
Haases Rechnung ist nachvollziehbar: Zum einen sind da die rund 700 Lehrkräfte, die pro Jahr kündigen. Dann gibt es die Verluste bei den Lehramtsstudierenden, von denen viele nach dem ersten Staatsexamen gehen. Zum Dritten verliert Berlin laut Haase jährlich etwa ein Drittel seiner rund 1000 fertig ausgebildeten Referendare. Alle drei Bereiche auf acht Jahre hochgerechnet ergeben die von ihm genannten mehr als 10.000 Abgewanderten, die zum größten Teil durch Quer- und Seiteneinsteigende ersetzt werden mussten.
Zwar hat Berlin nie erhoben, wie viele Lehrkräfte ausdrücklich gingen, weil sie nicht verbeamtet wurden. Aber selbst die ursprüngliche Verbeamtungsgegnerin Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD), die früher von einer Abwanderung nichts wissen wollte, hat vor knapp drei Jahren aufgehört, diesen Zusammenhang kleinzureden und stattdessen angefangen, mit Hinweis auf die Abwanderungen für die Rückkehr zur Verbeamtung zu werben.
Das Schuljahr beginnt, plötzlich sind Stellen frei
Es könnte tatsächlich nach den Wahlen – je nach Koalition – wieder zur Verbeamtung kommen, weil außer Linke und FDP alle etablierten Parteien dafür werben. Aber bis dahin ist mit weiteren Verlusten zu rechnen – etwa von Lehrkräften, die bald zu alt für eine Verbeamtung sind. Noch unmittelbar vor dem Schuljahresbeginn vermeldeten auch in diesem August wieder entsetzte Schulleitungen den Verlust bereits fest eingeplanter Kräfte.
„Zwei sind nach Brandenburg gegangen und einer nach Bayern“, berichtete etwa Volker Lehmann vom Diesterweg-Gymnasium in Gesundbrunnen. Ein herber Rückschlag in den Mangelfächern wie Physik und Chemie.
Da an Lehmanns Schule auch noch zwei Erzieher:innen fehlen, bedeutet das, dass die Schule mit fünf vollen Stellen im Minus in das Jahr starten musste – für ein Ganztagsgymnasium im Brennpunkt ein erhebliches Zusatzproblem, zumal die Schüler:innen mit den Folgen des Lockdowns zu kämpfen haben und eigentlich besonders viel Zuwendung und Förderung brauchen anstatt personeller Unterversorgung.
Quereinsteiger müssen erst mal in Berlin bleiben
Berlin hat wenig Handhabe gegen die Abwanderungen: Generell kann kein Bundesland verlangen, dass die Lehrkräfte, die es ausgebildet hat, auch bleiben. Anders als mit den regulär ausgebildeten Lehrkräften verhält es sich allerdings mit den Quereinsteigern. Da sie eine aufwendige Nachqualifizierung erhalten haben, müssen sie sich seit 2019 vertraglich verpflichten, zwei bis drei Jahre in Berlin zu bleiben.
Die dreijährige Frist gilt für Lehrkräfte, die zusätzlich zum Referendariat auch noch ein Teil des Studiums nachholen mussten. Wer Berlin vorher verlassen will, muss einen Teil seiner Ausbildungskosten zurückzahlen; und zwar ein Viertel seines monatlichen Bruttogehalts, „das die Lehrkraft ... in der Regel für einen Zeitraum von 42 Monaten, erhalten hat“.
Die Lernlücken belasten im Brennpunkt doppelt
Die Brennpunktschulen leiden wegen der Corona-Folgen doppelt unter Abwanderung und Personalmangel. Denn ihre Elternschaft ist weniger bereit oder in der Lage, die Lernlücken durch eigenes Engagement oder durch Nachhilfe zu kompensieren. Daher sind diese Schulen besonders auf Hilfe aus dem neuen Bundes- und Landesprogramm „Stark trotz Corona“ angewiesen.
In den Schulen wächst jedoch die Sorge, dass das Programm durch zu viel Bürokratie und Vorschriften an Wirkung und Tempo verliert. Dazu liegt dem Tagesspiegel ein Schreiben von Reinickendorfer Grund- und Förderschulen vor.
„Leider stellen wir fest, dass zwar der Titel den guten Willen und die beste Absicht signalisiert, die Umsetzung jedoch einmal mehr einer für uns nicht nachvollziehbaren Bürokratie zum Opfer zu fallen droht“, mahnen die Schulleitungen Senatorin Scheeres. Es gehe nicht an, dass „übergeordnete Trägervereine“ mit der Abwicklung betraut würden, die sich in den Schulen nicht auskennen.
Sorgen, dass sich die Probleme der Sommerschule wiederholen
Auch die Schulleiterverbände warnen davor, dass solche Fehler aus der Sommerschule wiederholt werden, „als Diplomphysiker vor Erstklässlern standen und wir den Unterricht abbrechen mussten“, wie ein Brennpunkt-Schulleiter berichtet.
„Es ist wichtig, dass wir unsere eigenen Träger beschäftigen können“, betont denn auch Astrid-Sabine Busse von der Interessenvertretung Berliner Schulleitungen (IBS). Ihr Verband bedauere im Übrigen, dass das Programm infolge der aufwendigen Organisation erst nach den Herbstferien werde greifen können. Eine ähnliche Einschätzung kommt von Sven Zimmerschied, dem Co-Vorsitzenden der Berliner Sekundarschulleitungen.
Ein Sprecher der Bildungsverwaltung sagte, dass bei derartigen Bundesprogrammen wegen des Vergaberechts bestimmte Regularien zu beachten seien. Es sei aber durchaus möglich, die Anbieter zu benennen, die man gern einsetzen möchte.
*NRW nennt die Quereinsteiger "Seiteneinsteiger". In Berlin sind Seiteneinsteiger und Seiteneinsteigerinnen hingegen Lehrkräfte, die mangels geeigneter Fächer nicht an der Quereinsteigerausbildung teilnehmen können. Die Kultusministerkonferenz hat sich nicht auf gemeinsame Begriffe geeinigt. Daher nennt Berlin die Seiteneinsteiger:innen neuerdings "sonstige Lehrkräfte".