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Gräber auf dem Wilmersdorfer Waldfriedhof Stahnsdorf, südwestlich von Berlin.
© Thilo Rückeis

Stadtgeschichte zum Totensonntag: Berlins Friedhöfe bekommen ein neues Lexikon

Ein neuer Wegweiser widmet sich Berlins Kirch- und Friedhöfen sowie den Grabstätten bekannter Personen. Damit lässt sich auch die Geschichte erforschen.

Im Wendejahr kurz vor Weihnachten erhielten die Mitarbeiter des Waldfriedhofs Stahnsdorf zum ersten Mal seit Jahrzehnten Besuch von ihrem Dienstherrn aus West-Berlin. Wilmersdorfs Baustadtrat Uwe Szelag wollte auch der Belegschaft in der DDR ein frohes Fest wünschen.

Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatte die expandierende, noch selbstständige Gemeinde Wilmersdorf Gelände nördlich des Südwestkirchhofs Stahnsdorf erworben, seit 1921 nutzte sie die durch die sogenannte Friedhofsbahn leicht erreichbare Begräbnisstätte. 1935 wurde auch der Schöneberger, westlich des Südwestkirchhofs gelegene Waldfriedhof Güterfelde dem Bezirk zugeschlagen, und dabei blieb es selbst während der frostigsten Phasen des Kalten Krieges: Wilmersdorf bezahlten den zuletzt 18 DDR-Mitarbeitern sogar BAT-Tarif, ein überdurchschnittliches Gehalt, auch wenn die DDR-Behörden die erhaltenen West- nur in Ost-Mark auszahlten, im Verhältnis 1 : 1.

Die damaligen Erwartungen, das Ende der deutschen Teilung könnte wieder zu mehr Beerdigungen auf dem Waldfriedhof führen, haben sich auf lange Sicht nicht erfüllt. Er ist sogar quasi geschlossen, mehr eine geschützte Grünanlage als eine noch wählbare Stätte der Totenruhe: Beerdigungen sind nur noch in Gräbern von Angehörigen möglich, für die weiterhin Nutzungsrechte bestehen, sagt Erwin Mahlow. Als nunmehr einziger Festangestellter ist er zuständig für den Güterfelder und den Stahnsdorfer Teil des Waldfriedhofs, der inzwischen dem Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf untersteht.

"Ein sozial- und kunsthistorischer Wegweiser"

Ein kaum bekanntes Kuriosum der Berliner Friedhofskultur – schon deswegen zwingend in dem unlängst erschienenen Wälzer „Lexikon Berliner Begräbnisstätten“ vertreten. Erstellt hat es – in Zusammenarbeit mit Wolfgang Gottschalk – der kurz vor Veröffentlichung verstorbene Historiker Hans-Jürgen Mende, der sich schon lange mit der Thematik beschäftigt hat und auf früheren Publikationen, fremden wie eigenen, aufbauen konnte. Entstanden ist „Ein sozial- und kunsthistorischer Wegweiser zu allen Berliner Kirch- und Friedhöfen und Grabstätten bekannter Persönlichkeiten“, dessen Bilanz allein beeindruckt: Auf 1145 Seiten werden Grab- und Erinnerungsstätten von 16.240 mal kürzer, mal länger beschriebenen Personen vorgestellt, die auf 394 aktuellen und historischen Berliner Begräbnisstätten ihre letzte Ruhe gefunden haben. Auch die 13 Berliner Begräbnisstätten in Brandenburg werden gewürdigt. Die Geschichte dieser Orte wird knapp geschildert, ergänzt durch Stadtplanausschnitte, Skizzen und Fotos.

Solch ein Kompendium ist kein Geschichtswerk, dass man von der ersten bis zur letzten Seiten durchliest, aber Berliner Historie spiegelt sich darin mit einer Fülle von Kreuz- und Querverbindungen, die zum Weiterforschen einladen. So ist der Berliner Gartenarchitekt Erwin Barth nach seinem Freitod am 10. Juli 1933 nicht nur auf dem Wilmersdorfer Waldfriedhof Stahnsdorf begraben worden. Er hatte die 1921 eröffnete Anlage auch entworfen, prägte zudem mit vielen Arbeiten, die von den Volksparks Jungfernheide und Rehberge über den Volkspark Köpenick bis zu den Grünanlagen am Luisenstädtischen Kanal reichen, Berlins grünes Stadtbild.

Auch der Maler Hans Baluschek, der Schauspieler Hans Otto und der Politiker Paul Levi haben dort Ehrengräber, und es ist der Ort, an dem der 1942 im KZ Mauthausen umgekommene Arzt und Widerstandskämpfer Georg Benjamin begraben liegt, jüngerer Bruder des Philosophen Walter Benjamin und Ehemann der Richterin und DDR-Justizministerin Hilde Benjamin, der berüchtigten „Roten Hilde“. Doch der Waldfriedhof Stahnsdorf ist auch, wie im neuen Lexikon kurz erwähnt, letzte Ruhestätte für rund 500 Tote, die man hier, auf einem bezirklichen Berliner Friedhof in Brandenburg, nicht ohne weiteres erwartet: Soldaten der napoleonischen Armee.

Im Frühjahr 1997 waren bei vorbereitenden Erdarbeiten für den Hauptbahnhof zunächst 30 Skelette aufgetaucht, „im Bereich der Eisenbahnüberführung westlich des Friedrich-List-Ufers“, wie es im Tagesspiegel hieß. Es wurden rasch immer mehr, und ebenso schnell gab es neue Spekulationen über die Identität der Toten. Sie reichten von sowjetischen, im Kampf um Berlin gefallenen Soldaten über Berliner Bombenopfer bis zu Opfern des NS-Terrors, die im nahen Zellengefängnis an der Invaliden- Ecke Lehrter Straße zu Tode gekommen sein könnten.

Der Wilmersdorfer Waldfriedhof Stahnsdorf (Grafik anklicken zum Vergrößern).
Der Wilmersdorfer Waldfriedhof Stahnsdorf (Grafik anklicken zum Vergrößern).
© Tsp/Bartel

Als aber bei keinem der Toten Zahnfüllungen entdeckt wurden, eine Herkunft der Skelettreste aus dem 20. Jahrhundert also unwahrscheinlich war, tippte der damalige Leiter des Landesinstituts für gerichtliche und soziale Medizin, Volkmar Schneider, auf Seuchenopfer aus dem 19. Jahrhundert, zumal zwischen Knochenresten Kalkklumpen entdeckt worden waren. Mit Löschkalk wurden früher die Opfer von Epidemien bedeckt, als Maßnahme gegen ansteckende Erreger.

Zuständig für eine erneute Beisetzung wäre der damalige Bezirk Tiergarten gewesen. Da es ihm an geeigneten Flächen mangelte, sprang Wilmersdorf mit seinem Brandenburger Waldfriedhof ein. Erwin Mahlow war damals dabei, als man für die 55 schlichten Särge – eine Zuordnung der Knochen zu Einzelpersonen war kaum möglich gewesen – ein 20 mal 5 Meter großes Gemeinschaftsgrab im Feld F II aushob.

Vertreter der evangelischen und der katholischen Kirche sowie der Jüdischen Gemeinde sprachen den letzten Segen, als die sterblichen Überreste der Toten am 11. September 1997 zu Grabe getragen wurden. Der Oberkantor der Jüdischen Gemeine Estrongo Nachama sang eine Gedenkode, das Bläserensemble des Kirchenkreises Wilmersdorf spielte – ein würdiger „Akt der Gnade“, wie Monsignore Michael Töpel vom Erzbistum Berlin sagte. Ein Gedenkstein würde an die unbekannten Toten erinnern.

Der folgte zwei Jahre später tatsächlich, mittlerweile ist er recht verwittert, war aber zum Volkstrauertag von der Friedhofsverwaltung mit einem Grabgebinde geschmückt worden. Doch in dem zweisprachig, auf Deutsch und Französisch gehaltenen Text ist von Seuchenopfern nicht mehr die Rede. „Den französischen Soldaten zum Gedenken, gestorben Ende 1813 in Berlin“, heißt es nun dort. Spätere Forschungen haben den Irrtum korrigiert, und Michael Tsokos, heutiger Leiter des Landesinstituts, muss nicht lange suchen, um in einer Festschrift für seinen Vorgänger die Erklärung für den Wandel von Seuchenopfern zu napoleonischen Soldaten zu finden: Man hatte auch Kleidungsreste gefunden und im Deutschen Historischen Museum untersuchen lassen.

Warum ausgerechnet am alten Lehrter Bahnhof?

Besonders ein Kupferknopf konnte der Uniform eines französischen Soldaten vom 13. Linien-Infanterie-Regiments zugeordnet werden, auch die textilen Reste passten dazu. Allerdings waren offenbar auch zivile Tote an der Fundstätte begraben. Es fanden sich Knochen verschiedener Altersklassen von Männern wie auch Frauen. Aber warum hat man sie zu Hunderten am alten Lehrter Bahnhof gefunden?

Das neue Lexikon hilft da weiter. So findet sich für den Ortsteil Moabit auch die Eintragung „Ehemaliger Begräbnisplatz für Soldaten der Befreiungskriege bei den ehemaligen Pulverhäusern“. Lexikon-Autor Mende lokalisiert den von 1813 bis 1868 bestehenden Soldatenfriedhof in dem Areal zwischen Friedrich-List-Ufer, Invalidenstraße und Alt-Moabit, beruft sich auf frühere Grabstättenforscher, die fünf Begräbnisstätten der über 9000 in Berliner Lazaretten gestorbenen Soldaten der Befreiungskriege ausfindig gemacht hatten. In denen seien die Toten allerdings nicht nach Nationen gesondert bestattet worden. Zu den fünf Friedhöfen gehörte auch der auf dem Areal des alten Lehrter Bahnhofs, bei dessen Bau er weichen musste. „Die bei Bauarbeiten aufgefundenen Gebeine wurden, in mehreren Kisten verpackt, in einem Sammelgrab bestattet“, schreibt Mende. Die 1997 aufgetauchten Skelettreste müssen also in einem Teil des Friedhofs gelegen haben, der von den Arbeiten unbehelligt blieb und vergessen wurde.

In Berlin selbst dürften die in Stahnsdorf bestatteten Soldaten allerdings kaum gekämpft haben. Zwar waren seit dem März 1812 wieder etwa 10.000 Soldaten Napoleons in Berlin stationiert, mit Preußen offiziell noch verbündet, wenngleich die Spannungen zwischen Franzosen und Berlinern von Tag zu Tag zunahmen. Am 20. Februar gab es ein erstes Vorgeplänkel der Freiheitskriege, als russische Kosaken kurz in die Stadt eindrangen. Dabei kam der in russischen Diensten stehende Hauptmann Alexander von Blomberg zu Tode, der später, nicht ganz zu Recht, als „erstes Opfer in den deutschen Freiheitskämpfen“ gerühmt wurde und an den ein Denkmal an der Bartholomäuskirche, nahe dem heutigen Platz am Königstor in Prenzlauer Berg, erinnert. Doch obwohl es diesmal für die Franzosen noch gut ausging: Die Lage in Berlin wurde ihnen zu heikel. In der Nacht auf den 4. März 1813 zogen sie kampflos ab.

Hans-Jürgen Mende: Lexikon Berliner Begräbnisstätten. Pharus-Plan, Berlin. 1145 Seiten, 78 Euro

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