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Berlins Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) will das Abitur durchziehen.
© Carsten Koall/dpa
Update

85 Prozent in Umfrage gegen Prüfungen: Berlins Bildungssenatorin verteidigt Abi-Pläne per Brief

Bei einer Schülerumfrage votieren 85 Prozent gegen diesjährige Prüfungen. Bezirkselternausschuss meldet sich zu Wort. Scheeres warnt vor einem Alleingang.

Im Streit um die Abiturprüfugen in Berlin hat sich Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) am Donnerstag mit einem Brief direkt an die diesjährigen mehr als 12.000 Abiturienten gewandt. Darin warb sie um Verständnis dafür, dass sie die Prüfungen trotz der Coronakrise wie geplant durchführen will - und verwies auf das Votum der Kultusministerkonferenz.

Die hatte sich Ende März dafür ausgesprochen, in ganz Deutschland an den Prüfungen festzuhalten. Vergangenen Freitag hatte Scheeres das bekräftigt und angekündigt, Berlins Abiturienten müssten sich darauf einstellen, dass die Klausuren am 20. April, also gleich nach den Osterferien, beginnen. Mit einer Reihe von Vorsichtsmaßnahmen sollen die Schulen sicherstellen, dass es kein erhöhtes Ansteckungsrisiko gibt. Der Senatorin ist ein einheitliches Vorgehen aller Bundesländer wichtig. In der kommenden Woche wollen sich die Kultusminister noch einmal abstimmen, ob sie ihre Absicht von Ende März weiterverfolgen oder zu einer anderen Bewertung der Lage kommen.

"Nur durch die gegenseitige Anerkennung ist sichergestellt, dass sich alle Berliner Absolventinnen und Absolventen mit ihrem diesjährigen Abschluss beispielsweise für einen Studienplatz in Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen oder Bayern bewerben können", betonte Scheeres nun in ihrem Brief. Daher sei ein gemeinsames Vorgehen der Bundesländer "unerlässlich".

Es geht um "Zukunfts- und Mobilitätschancen"

Ihr sei "bewusst, dass viele Schülerinnen und Schüler nicht nur in Berlin ihren Prüfungen in diesem Jahr und unter den aktuellen Umständen mit Sorge entgegensehen". Daher werde dem Schutz ihrer Gesundheit und der des pädagogischen Personals bei der Organisation der Prüfungen Priorität eingeräumt.

Scheeres warnte vor einem "Alleingang Berlins – oder auch einer kleineren Gruppe von Bundesländern". Denn diese "würde die Zukunfts- und Mobilitätschancen Ihres gesamten Abschlussjahrgangs massiv und dauerhaft einschränken", heißt es in dem Brief, der hier vollständig abrufbar ist. Wer Sorge habe, dass er sich nicht optimal auf die Prüfungen vorbereiten konnte, möge bei "Beratungsbedarf" Kontakt mit den Lehrkräften, der Schulleitung oder einem schulpsychologischen Beratungszentrum (SIBUZ) aufnehmen.

Senatorin zweifelt an Meinungsbild des Schülerausschusses

Scheeres bedankte sich zwar ausdrücklich beim Landesschülerausschuss dafür, "dass er sich intensiv mit der aktuellen Lage auseinandersetzt und dazu seine Positionen vertritt", gab allerdings in ihrem Brief zu bedenken, dass dieses Engagement nach ihrer "Beobachtung" in der Berliner Schülerschaft "ganz unterschiedlich angenommen werde".

Der Landesschülerausschuss (LSA) reagierte prompt: Der Brief der Senatorin werde als Versuch verstanden, "die Berliner Schülerschaft vom Kämpfen abzuhalten", hieß es am Nachmittag in einer Entgegnung des Vorsitzenden Miguel Góngora. Die Senatorin solle, "keine inhaltslosen Briefe" schreiben, sondern Lösungen finden. Wenn Berlin keinen Alleingang wählen solle, dann sei es Scheeres' Aufgabe "sich in der Kultusministerkonferenz für ihr Bundesland einzusetzen".

Wie berichtet, hatte sich der LSA gegen die Prüfungen positioniert, nachdem entsprechende Signale aus der Schülerschaft gekommen waren. Zuletzt hatten sich rund 160 der rund 200 Schulen, die das Abitur abnehmen, laut LSA dagegen ausgesprochen, die Prüfungen wie vorgesehen durchzuziehen: Góngora steht nach eigenen Angaben mit den jeweiligen Schülersprechern in Kontakt und führt parallel Umfragen durch.

Ausschuss: Viele haben Angst oder "mulmiges Gefühl"

An der letzten Umfrage hatten sich laut LSA über 10.000 Schüler beteiligt. Bereits nach zwei Stunden der Befragung seien knapp 5000 Antworten eingegangen. Die Bezirke seien in der Umfrage alle "relativ gleich stark vertreten", heißt es in einer Mitteilung des LSA vom Donnerstag.

Demnach glauben über 90 Prozent der Umfrageteilnehmer nicht, "dass die Senatsverwaltung sicherstellen kann, dass die Ansteckungsgefahr minimal ist". Viele würden die Prüfung mit Angst oder einem "sehr mulmigen Gefühl, antreten, da sie fürchten, sich oder ihre Angehörigen anstecken zu können".

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Insgesamt würden 85 Prozent der Prüflinge - zumeist Abiturienten, ansonsten Zehntklässler, die den Mittleren Schulabschluss (MSA) ablegen sollen -, die Durchführung der Prüfungen in dieser Form ablehnen und die Absage einzelner oder aller Prüfungen fordern.

Der LSA betonte, er werde sich "keinen Zentimeter von unserer Aufgabe als Landesschülerausschuss entfernen" und weiter gegen die Entscheidung vorgehen, die Abiturprüfungen durchzuziehen.

Schülervertreter melden sich beim Tagesspiegel

Auch beim Tagesspiegel melden sich seit Tagen die Vertreter etlicher Schulen, die gegen die Prüfungen votieren, darunter zuletzt die Spandauer Heinrich-Böll- und die Schöneberger Sophie-Scholl-Sekundarschule, aus Charlottenburg die Friedensburg-Sekundarschule und das Schiller-Gymnasium, die Merian-Sekundarschule aus Köpenick sowie die Abiturienten des Dreilinden-Gymnasiums in Zehlendorf.

Die Dreilinden-Schüler und Merian-Schüler weisen darauf hin, dass knapp ein Fünftel der Abiturienten oder ihre Eltern zu einer Risikogruppe gehörten, an der Merian-Schule sollen sogar drei Viertel der Eltern zu einer Risiko-Gruppe gehören, wie die drei Oberstufensprecher am Donnerstag zusammen mit der Schulsprecherin in ihrem Brief an die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Stefanie Hubig, schrieben.

Eine einzelne Dreilinden-Abiturientin schrieb an den Tagesspiegel, dass sie die Prüfungen absolvieren möchte. Aus der Katholischen Liebfrauen-Schule votierte der Schülersprecher stellvertretend für den Jahrgang in einem Brief an den Tagesspiegel für die Prüfungen.

Vertreter aller Schulformen votieren gegen die Prüfungen

Nach der Vereinigung der Oberstudiendirektoren (VOB) und der Interessenvertretung der Sekundarschulen (BISSS) hat sich inzwischen auch das Netzwerk Berliner Gemeinschaftsschulen gegen die MSA-Prüfungen und die Prüfungen zur Berufsbildungsreife ausgesprochen.

"Bis vor ca. 25 Jahren gab es diese Prüfungen in Berlin nicht. Die damaligen Absolvent*innen sind in der Regel auch ohne diese Prüfungen vollwertige Mitglieder der Gesellschaft geworden", argumentierte im Namen des Netzwerks Sprecher Robert Giese, der die Neuköllner Fritz-Karsen-Gemeinschaftsschule leitet. Auf die Abiturprüfungen solle ebenfalls verzichtet werden, "unter der Voraussetzung, dass die Kultusministerkonferenz dies akzeptiert und das Berliner Abitur damit bundesweit anerkennt".

Ein Bezirkselternauschuss schaltet sich ein

Am Karfreitag schloss sich erstmal auch ein Elterngremium der Haltung der Schüler und Schulleiterverbände an: Der Bezirkselternausschuss (BEA) Steglitz-Zehlendorf wandte sich an die Senatorin.

"Der Vorstand des BEA Steglitz-Zehlendorf steht der Durchführung des Abiturs unter den gegebenen Umständen und zum jetzigen Zeitpunkt der Pandemie kritisch gegenüber", heißt es in der Stellungnahme, die dem Tagesspiegel vorliegt. Das Gremium appelliert an die Senatorin, dass im Rahmen der Kultusministerkonferenz eine "angemessene und praktikable Lösung auch für die Berliner Abiturientinnen und Abiturienten gefunden und umgesetzt werden".

Zudem spricht sich der Elternausschuss dafür aus, die MSA-Prüfungen "vollständig abzusagen". Sie seien aus folgenden Gründen zu riskant und "der Situation nicht angemessen":

  • Die gesundheitlichen Aspekte im Rahmen des Pandemieverlaufs und die Folgen für den Eigenschutz sind derzeit nicht absehbar
  • Die gegenwärtige Situation begünstigt soziale Ungerechtigkeit und vermindert die Chancengleichheit der Prüflinge
  • Die hohe psychische Belastung ist bei den sehr unterschiedlichen häuslichen Voraussetzungen (Equipment, wirtschaftliche oder häusliche Situation) nicht zu unterschätzen.
  • Die gezielte Vorbereitung und die Motivation der MSA-Prüflinge insbesondere an den Sekundarschulen kann durch Homeschooling nicht ersetzt bzw. in derselben Qualität gewährleistet werden.

Für das Osterwochenende hat auch der Landesschülerausschuss weitere Proteste angekündigt.

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