Trödelnde Metropole: Berliner, macht mal hinne!
Immer langsam. Ganz entspannt. Viele Leute bewegen sich im Schneckentempo durch die Stadt. Das nervt – vor allem jetzt, in der hektischsten Zeit des Jahres. Ein Plädoyer für die Entdeckung der Schnelligkeit.
Eine Frau und ein Mann mittleren Alters sind auf dem U-Bahnsteig der U9 am Kurfürstendamm ins Gespräch vertieft, als sie plötzlich aufmerken. Während die U 9 Richtung Rathaus Steglitz etwas mühsam ihre Fahrgäste schluckt, ertönt aus dem Lautsprecher eine tiefe Stimme. "Immer schööön langsam einsteigen, bloooß nicht beeilen! Wir haben ja alle gaaanz viel Zeit!" Die Frau schaut den Mann an: "Ist das jetzt sarkastisch gemeint?" Vermutlich handelt es sich bei den beiden um Angehörige der Generation Relax, für die gemächlich ausgeführte Schritte und gedankenverlorenes Schlendern zum Lebensstil gehören. Kein Wunder, dass sie keinen Sinn für die eigentlich gar nicht so subtile Botschaft aus dem Lautsprecher haben.
Die Zahl dieser Menschen wächst stetig. Sie schieben sich im Schneckentempo über den vorweihnachtlichen Ku'damm, gern mit verstöpselten Ohren. Manche surfen im Handy herum. Das mag eine andere Art von Geschwindigkeit sein als die physische. Allerdings stehen sie dabei im Weg herum, so wie es Kühe manchmal auf einsamen Bergwegen tun. In uns Eiligen dieser Tage wecken sie manchmal eine völlig unkorrekte, aber schier unwiderstehliche Rempellust. Und der letzte Adventssamstag, wenn die Erledigungsliste noch lang ist, macht einen nicht duldsamer.
Wer in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts schon gelebt hat, kann diese unendliche Langsamkeit des Seins besonders schwer ertragen. Damals war Tempo eine Tugend. Angehörige jener Generation denken bei dem Wort "Chillen" noch an das dynamische Klirren der Eiswürfel, wenn sie in Cocktailgläsern in Spitzengeschwindigkeit einen Drink runterkühlen. In der Blütephase der Yuppies, der jungen urbanen Aufsteiger, tauschten Frauen auf längeren Wegen ihre High Heels gegen Turnschuhe aus, um noch flotter voranzukommen. Heute schlurfen ihre Nachfolgerinnen in modischen flachen Tretern so gemächlich durch die Städte, als müssten sie ihre Knöchel schonen.
Es ist nicht allein der Besuch vom Land, der den Verkehr auf Gehwegen aufhält
Und nein, das sind nicht nur Auswärtige. Ich mag Touristen, unter anderem, weil sie so viele Ein-Euro-Münzen mit dem schönen Leonardo-Motiv in die Stadt bringen. Dafür dürfen sie sich gern Zeit nehmen zum Gucken und Staunen. Klar sind immer auch Urlauber unter den Langsamen, aber das ist nichts Neues. Der berühmte "Besuch vom Lande", nervte schon Erich Kästner so sehr, dass er ihm 1929 ein Gedicht widmete, das mit den Zeilen endet: "Sie lächeln bestürzt. Und sie warten dumm./ Und stehn auf dem Potsdamer Platz herum,/ bis man sie überfährt."
Ohne empirisch belegbare Beweise bin ich überzeugt, dass es nicht in erster Linie der Besuch vom Land ist, der den Verkehr auf den Gehwegen aufhält und das städtische Fortkommen runterdimmt bis kurz vorm Stillstand. Sondern eher Yoga-Schüler auf Umwegen oder Mitglieder der neuen Schnecken-Sekten, die sich gegen möglicherweise drohende Herzkrankheiten ein Leben in Zeitlupe verordnen. Statt etwa auf Bahnhofsrolltreppen rechts zu stehen, wenn man Zeit hat, und die linke Spur für Überholer freizuhalten, stellt man sich in die Mitte der Treppe und verharrt, oben angekommen, einen Moment in müßiger Kontemplation, bis die S-Bahn garantiert verpasst ist. Es muss geheime Gähn-Mächte geben, die den Begriff "hektische Großstadt" in "dösende Metropole" umändern möchten.
Der Lautsprechermann von der U9 verdient einen Orden für seinen lebensnahen Sarkasmus. Schon oft habe ich mich gefragt, ob es einen heimlichen Wettbewerb gibt darum, wer es schafft, am langsamsten einen U-Bahn-Wagen zu besteigen. Das Gleiche gilt fürs Aussteigen: Wie soll man die – körperlich topfit wirkende – Dame übertrumpfen, die erst den einen, dann den anderen Fuß sachte hinausschiebt, um sogleich wie angewachsen stehen zu bleiben, direkt vor der offenen Tür?
Ja, ich habe es selbst mal probiert, gegen Ende der letzten Ferien, in einem Zustand größtmöglicher Entspannung. Leise schlurfend ging ich die Straße lang, blieb immer mal wieder stehen, um dösig nach rechts und nach links zu gucken. Ein albernes Gefühl. Ich fühlte das Adrenalin aufsteigen. Plötzlich wünschte ich mir jemanden, der mich anrempelt.
Dieser Text erschien als Rant in unserer Samstagsbeilage Mehr Berlin.