„Wir werden völlig allein gelassen“: Berliner Hausärzte stellen sich auf das Coronavirus ein
Schon jetzt seien die Praxen überlastet, berichtet eine Ärztin. Es gebe ein „riesiges Koordinierungsproblem“ im Umgang mit dem Virus.
Während immer mehr Fälle des Coronavirus in Berlin bestätigt werden, fühlen sich Hausärzte schlecht auf die Ausbreitung der Infektionskrankheit vorbereitet. In den Praxen gebe es zu wenige Atemschutzmasken und Test-Kits. In den Behörden gehe es schon jetzt chaotisch zu, berichten Ärzte.
Die Kassenärztliche Vereinigung (KV), der die meisten Ärzte angehören müssen, schränkte am Dienstag außerdem den ärztlichen Bereitschaftsdienst (ÄBD) für Patienten mit Symptomen der Krankheit ein.
In einer Mail von Dienstagvormittag, die dem Tagesspiegel vorliegt, schreibt die KV den teilnehmenden Ärzten, dass „Patienten in ihrem häuslichen Umfeld mit Symptomen“ des Coronavirus aktuell keinen Hausbesuch durch den ÄBD erhalten. Seniorenheime „oder vergleichbare Einrichtungen“ könnten nur nach Rücksprache besucht werden und wenn die „erforderliche Schutzbekleidung“ vorhanden ist.
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Bereitschaftsdienstärzte sollen künftig in Fahrzeugen der Feuerwehr die „ambulante Versorgung von Corona-Verdachtsfällen im häuslichen Milieu organisieren“, schreibt die KV. Die Feuerwehr würde in diesem Fall den Schutz der Ärzte mit entsprechendem Mundschutz, Kitteln, Brillen und Handschuhen sicherstellen und möglicherweise kontaminiertes Material entsorgen.
Feuerwehr stellt Pkw für den Bereitschaftsdienst
Vier Fahrzeuge wird die Berliner Feuerwehr laut KV zur Verfügung stellen. Ein Sprecher der Behörde betonte, dass dafür keine Rettungswagen eingesetzt würden, sondern normale Pkw. Der Dienst solle täglich von sieben bis 22 Uhr im Einsatz sein und angefordert werden, wenn jemand schwere Erkältungssymptome aufweist. Das komme bislang rund 60 mal täglich vor.
Allerdings steht, wie berichtet, auch für Einsatzkräfte von Feuerwehr und Katastrophenschutz im Pandemiefall kaum ausreichend Schutzkleidung bereit. Die Neuköllner Ärztin Sibylle Katzenstein ist besorgt über diese Lösung. Die Fachärztin für Allgemeinmedizin und Geriatrie nimmt seit Jahren am ÄBD teil und hält die Vorgabe der KV für „völlig absurd“ und „nicht ressourcenorientiert“.
Es werde nun sowohl das medizinische Personal als auch die Feuerwehr für die Zeit des Einsatzes gebunden. Insgesamt, so die Ärztin, laufe die Organisation in Berlin bislang schlecht. „Ich habe acht Patienten aus Risikogebieten bei mir gehabt, denen ich nichts anbieten konnte“, sagt Katzenstein.
Auf eigene Kosten hat sie deshalb ihre Praxis so eingerichtet, dass auch Patienten mit Verdacht auf Coronavirus sich bei ihr medizinischen Rat holen können. „Ich habe schon über 5000 Euro für Vorsorge aus eigenen Mitteln investiert“, sagt Katzenstein. Jeder Verdachtsfall sei eine „Hochrisiko-Situation“ für sie und andere Patienten.
Sie schicke Patienten mit Infektionskrankheiten und Verdacht auf Coronavirus in ein gesondertes Wartezimmer. Eine neue Waschmaschine mit Trockner hat sie angeschafft, um steril waschen zu können. Sich selbst kann sie kaum schützen: Die benötigten Schutzmasken gibt es aktuell nicht. „Ich habe mir Atemmasken im Baumarkt besorgt“, sagt Katzenstein. Die entsprächen aber nicht den Sicherheitsstandards für das Virus.
„Wir werden völlig allein gelassen“
Katzenstein ist mit ihrer Meinung nicht allein. Dem Tagesspiegel liegt der Brief eines Charlottenburger Hausarztes vor, der sich über den „chaotischen Verlauf“ im Umgang mit dem Coronavirus in den medizinischen Behörden beschwert. Patienten hingen viel zu lange in Telefon-Warteschleifen, im Gesundheitsamt sei niemand erreichbar. Er sei „zornig, verzweifelt, besorgt und zutiefst enttäuscht“, schreibt der Arzt, der anonym bleiben will. „Wir werden als Grundversorger völlig allein gelassen.“
Derweil breitet sich das Coronavirus weiter in der Hauptstadt aus. Am Dienstag wurden drei neue Fälle offiziell bestätigt, damit sind es sechs in Berlin. Ein Fall wurde in Brandenburg bekannt. Berlins Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) sprach am Dienstag von einem weiteren Erkrankten aus Tempelhof-Schöneberg und einem Mann aus Neukölln – bei letzterem handelt es sich um einen Arzt aus dem Vivantes Klinikum Neukölln.
Kinderstation bleibt vorerst geschlossen
Auf Tagesspiegel-Anfrage teilte die Pressestelle von Vivantes mit, dass der Mann im sozialpädiatrischen Bereich arbeite, also in der ambulanten Kindermedizin. „Dieser Bereich bleibt vorübergehend geschlossen, die Mitarbeitenden des Bereichs bleiben in dieser Zeit zu Hause“, sagte eine Sprecherin.
Die Personen, die engen Kontakt mit dem infizierten Mitarbeiter hatten, seien bereits ermittelt und würden beraten. Die Sprecherin betonte: „Für weitere Personen, die nur flüchtige Kontakte hatten oder sich im Klinikum Neukölln aufgehalten haben, besteht kein besonderes Risiko.“
Neuköllns Gesundheitsstadtrat Falko Liecke (CDU) und Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD) informierten am Dienstag den bezirklichen Krisenstab. Der sechste Fall wurde am Dienstagabend bekannt. Ein Mann wurde positiv getestet und zuhause isoliert, er hatte in einem Großraumbüro in Mitte mit dem ersten Corona-Patienten zusammengearbeitet. Nun sollen alle Mitarbeiter des Büros getestet werden.
Keine Unterstützung für mögliche Videosprechstunden
Sibylle Katzensein, die Neuköllner Ärztin, hätte einige Vorschläge, wie Erstversorger besser geschützt werden könnten: Hausärzte sollten mit Infektionspatienten Videosprechstunden durchführen und abrechnen können. Im Moment gehe das nur bei bis zu 20 Prozent der Sprechstunden.
„Ich wünsche mir, dass die Kassenärztliche Vereinigung aktiv alle Ärzte anspricht, damit sie diese Technologie einrichten“, sagte sie. Aus „epidemiologischen Gründen“ müssten Patienten aus den Praxen rausgehalten werden. Die KV schrieb auf Tagesspiegel-Anfrage, die Unterstützung solcher Maßnahmen sei nicht geplant.
Katzensein schlägt auch vor, dass Menschen mit Symptomen sich selber testen können. Es gebe ein „riesiges Koordinierungsproblem“ bei der Verteilung der Test-Kits. Die KV ist gegen solche Selbsttests. Patienten müssten einen Arzt sehen und Proben sachgerecht transportiert werden, sagte ein Sprecher. Katzenstein hat derweil all ihre Patienten über 70 Jahre abtelefoniert. Sie gelten als Risikopatienten. Die Ärztin will sie künftig außerhalb der Praxis beraten.