Mehr Platz für Fußgänger: Berlin plant Pop-Up-Zebrastreifen und barrierefreie Kreuzungen
Der Teil für Fußgänger im Mobilitätsgesetz wurde vom Verkehrsausschuss beschlossen. Der Tenor ist klar: Weniger Autos in den Kiezen, mehr Raum für Geher.
Aus sehr viel „Sollen“ und „Können“ war noch ein paar mal mehr „Werden“ geworden. Rot-Rot-Grün hatte den Abschnitt des neuen Mobilitätsgesetzes zum Thema Fußverkehr in den vergangenen Tagen noch einmal nachgeschärft, butterweiche Konjunktiv-Formulierungen entfernt. Dafür brauchten die Koalitionäre letztlich solange, dass die vielen Änderungsanträge erst wenige Minuten vor Beginn des Verkehrsausschusses am Donnerstagmorgen vorlagen - und die Sitzung später begann.
Mit den Stimmen der Koalition wurden dann mehr als 50 Änderungsanträge beschlossen. In vielen Fällen sind es Absichtserklärungen, die aber - konsequent umgesetzt - geeignet sein könnten, den Autoverkehr in Berlin deutlich zurückzudrängen und die Stadt, aus Sicht der Koalition, fußgängerfreundlicher zu gestalten. Verkehrsstaatssekretär Ingmar Streese kündigte das Gesetz gar als „Meilenstein menschenfreundlicher Mobilität“ an.
Tatsächlich sieht der Gesetzentwurf, der dem Tagesspiegel vorliegt, deutlich längere Grünphasen für Fußgänger vor, auch auf breiten Straßen mit Mittelinseln. Als neuen Standard an Ampeln und Kreuzungen soll die so genannte Doppelquerung eingeführt werden. Das heißt, Bordsteine werden an Übergängen so abgesenkt, dass Rollstuhlfahrer zu 100 Prozent barrierefrei passieren können, Blinde aber direkt daneben eine minimale Bordsteinkante haben, die sie zur Orientierung brauchen.
Rot-Rot-Grün will auch die Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum erhöhen: Laut Gesetz müssen in den kommenden Jahren weitere Kieze autofrei werden oder zumindest verkehrsberuhigt - hier hat die Koalition nachgeschärft. Außerdem sollen mehr Bänke und andere Sitzgelegenheiten im öffentlichen Raum aufgestellt werden: „ohne Konsumzwang“.
Gerade in der Pandemie, heißt es, sei aufgefallen, wie wenige Sitzmöglichkeiten es in vielen Kiezen im öffentlichen Raum gebe, die nicht zu Restaurants, Bars oder anderen gewerblichen Einrichtungen gehören. Das will die Koalition ändern.
Pop-Up-Fußgängerüberwege sollen möglich werden
Auch die Mutter der Berliner Unzuständigkeiten, der Bau von Zebrastreifen, soll deutlich vereinfacht werden. Bislang sind 18 Verwaltungsschritte mit jeweils wechselnden Zuständigkeiten notwendig, einige Striche auf die Straße zu malen. Das Verfahren soll künftig von der Senatsverwaltung für Verkehr zentral gesteuert werden können. Die Bauzeit soll damit auf eineinhalb Jahre oder weniger verkürzt werden - für Berliner Verhältnisse gleiche das einem Quantensprung.
Der verkehrspolitische Sprecher der SPD, Tino Schopf, wies im Ausschuss explizit auf die Möglichkeit hin, Pop-Up-Fußgängerüberwege zu schaffen. Sie sollen vor Schulen und Kitas für schnelle Sicherheit sorgen, den Autoverkehr ausbremsen. Werden Kinder auf dem Weg zur Schule gefährdet, können künftig auch Straßen temporär gesperrt oder Halteverbote erlassen werden - ein womöglich weitreichendes Instrument für den Stadtumbau.
Jeder Bezirk soll außerdem jährlich zehn Gefahrenstellen entlang von Schulwegen entschärfen. In einer Zusatznote wurden dann noch 20 neue Blitzer-Anlagen beschlossen. All das wird geplant, sagte Grünen-Verkehrsexperte Harald Moriz, um die "fundamentalste Art der Fortbewegung" zu stärken: das zu Fuß gehen.
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Berliner Kindern dürfte zu Gute kommen, dass die Koalition die Einrichtung temporärer Spielstraßen erleichtern will. Dafür sollen berlinweit einheitliche Regelungen formuliert werden. Anfang Mai waren in Kreuzberg die ersten Pop-Up-Spielstraßen entstanden. Weil der Verkehr wegen des Lockdowns heruntergefahren war und Menschenansammlungen auf Spielplätzen vermieden werden sollten, wurden bestimmte Straßen nachmittags für den Autoverkehr gesperrt.
Aus der Opposition kam am Donnerstag kaum inhaltliche Kritik am Gesetz. Aus der CDU wurde der Koalition vor allem Zerstrittenheit attestiert, weil die Anträge erst so spät im Ausschuss eingegangen waren, die AfD kritisierte, das Gesetz sei „schlecht“ und „ideologisch“. Eine Begründung dafür gab es nicht.
Der verkehrspolitische Sprecher der FDP, Henner Schmidt, kritisierte als Einziger inhaltliches: „Es bleiben Kritikpunkte wie die übertriebene Schaffung zusätzlicher Gremien oder das Fehlen einer wirklich gleichberechtigten Planung für den Fußverkehr“, sagte er. Seine Fraktion stimmte am Ende aber zu.
IHK kritisiert fehlende Rolle des Lieferverkehrs
Die Berliner Industrie- und Handelskammer (IHK) kritisierte am Donnerstag den bisherigen Fokus der Koalition: Nach dem ersten Teil des Mobilitätsgesetzes zum Radverkehr hatte man sich jetzt dem Fußverkehr gewidmet. „Natürlich sind attraktive Straßenräume für Fußgänger in Berlin unverzichtbar“, sagte Jörg Nolte, Geschäftsführer Wirtschaft und Politik der IHK.
„Allerdings ist nicht nachvollziehbar, warum nicht auch gleich das zweite Änderungsgesetz zum Wirtschaftsverkehr mit behandelt wird. Dies liegt bereits als Referentenentwurf vor und es würde erheblich schneller gehen, wenn man beide Beratungen zusammenlegt.“ Im Sinne eines funktionierenden Wirtschaftsverkehrs mache es keinen Sinn, die jeweiligen Interessengruppen weiterhin einzeln zu behandeln.
Das Gesetz muss nun noch durch den Hauptausschuss, womöglich noch vor dem Jahreswechsel, und soll voraussichtlich im Frühjahr 2021 im Parlament beschlossen werden. Dem dürfte nach der Einigung der Fach-Politiker in der Koalition aber nur noch wenig im Weg stehen.