75 Visionen für Berlin – Folge 23: Berlin muss auf eigenen Stärken aufbauen
Wie können Hochschulen die nächste Generation von Gründern begeistern? Ein Gastbeitrag.
Berlin hat viele Stärken, auf die diese Stadt aufbauen kann, und zwei seien besonders hervorzuheben: Erstens ist Berlin der "Hotspot" der Start-up-Szene in Deutschland.
Zwischen 60 und 75 Prozent des in Deutschland eingesetzten Wagniskapitals gehen nach Berlin.
Allein in den vergangenen 48 Monaten fanden 19 000 Menschen einen Job in einem Berliner Start-up, von den 20 größten Finanzierungsrunden in Deutschland gingen 13 an Unternehmen mit Sitz in der Hauptstadt.
Zweitens ist Berlin der Wissenschaftsstandort in Deutschland: An elf staatlichen, zwei konfessionellen und rund 30 staatlich anerkannten privaten Hochschulen lehren, forschen, arbeiten und studieren mehr als 250 000 Menschen aus aller Welt.
Aber schon Götz von Berlichingen wusste bei Goethe: „Wo viel Licht ist, ist starker Schatten.“
Zum einen ist Berlin bei den Unternehmensgründungen bisher vor allem bekannt für die erfolgreiche Digitalisierung bei Konsumentenprodukten:
Was früher im Laden gekauft wurde, wird nun online bestellt – siehe Delivery Hero oder Zalando. Weniger ausgeprägt sind die Stärken bei der Hochtechnologie, in Bereichen wie der Medizin oder der durch künstliche Intelligenz und Machine Learning weiter entwickelten industriellen Fertigung.
[Gastautor Jörg Rocholl ist Wirtschaftswissenschaftler und Präsident der internationalen Wirtschaftshochschule ESMT Berlin.
Zudem ist der 47-Jährige stellvertretender Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesfinanzministerium.
Seine eigene Forschung konzentriert sich unter anderem auf Corporate Finance, Unternehmensführung und Financial Intermediation]
Zum anderen stehen an den Universitäten zwar wissensbasierte Ausgründungen grundsätzlich hoch im Kurs, viele leuchtende Vorbilder gibt es aber nicht.
Meine Vision ist ein Berlin, das diese Stärken besser zu nutzen versteht.
Eine wissensbasierte Wirtschaft, für die Nachhaltigkeit kein Nebenprodukt ist
Es sollte vor allem die bestehenden Stärken bei Start-ups und Wissenschaft verknüpfen und daraus neue Möglichkeiten schaffen.
Das Zielbild ist eine wissensbasierte Wirtschaft, die Wachstum, Wohlstand und Arbeitsplätze schafft und Nachhaltigkeit nicht nur als Nebenprodukt ansieht.
Berlin könnte somit zum nachhaltigen Innovationsmotor weit über Deutschlands Grenzen hinaus werden.
[Vor 75 Jahren ist der Tagesspiegel als erste Berliner Zeitung nach dem Krieg gegründet worden. Wir bitten 75 engagierte Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Politik, Kultur, Sport und Zivilgesellschaft, uns ihre Ideen für die Zukunft dieser Stadt zu schildern. Alle bisher erschienenen Beiträge dieser Serie lesen Sie hier.]
Die Durchbrüche bei der Erforschung von Impfstoffen bei BioNTech und der Universität Oxford zeigen, dass universitätsnahe Innovation möglich ist und viel bewegen kann. In diesem Fall aber leider nicht in Berlin, obwohl die Grundvoraussetzungen hier nicht schlechter sind.
Was gilt es zu tun? Die Maxime sollte sein, nicht unreflektiert andere Regionen der Welt zu kopieren, sondern aus deren Erkenntnissen zu lernen und auf eigenen Stärken aufzubauen.
Erstens sollten die Berliner Universitäten durch integrierte Lehre die kommenden Generationen an Gründern und Unternehmern begeistern und befähigen, Herausforderungen der Zukunft zu erkennen, neue Lösungen und Geschäftsmodelle zu entwickeln und nachhaltige Unternehmen aufzubauen.
Berlin sollte Offenheit gegenüber Forschenden und Lehrenden aus aller Welt bewahren
Das gilt besonders für universitäre Ausgründungen, die auf neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen und einen hohen Innovationsgrad aufweisen. Das bringt zwar Wettbewerbsvorteile und gute Renditeprognosen, aber auch große Unsicherheit.
Zweitens sollte Berlin seine Offenheit gegenüber Forschenden und Lehrenden aus aller Welt bewahren.
Die besten Talente kommen häufig nicht aus dem eigenen Land, das sieht man auch im Silicon Valley. Berlin bietet hier allerbeste Voraussetzungen.
Drittens bedarf es geduldigen und informierten Kapitals, etwa in Form von Venture Capital.
[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
Weiteres privates Kapital muss hier mobilisiert werden, gerade aus Deutschland.
Am besten wäre es, wenn deutlich mehr Universitäten über eigene Stiftungen verfügten, mit denen sie in eigene Start-ups investieren könnten.
Eine stärkere Signalwirkung und eine besser informierte Investition gäbe es nicht.
Scheitern bedeutet nicht immer Versagen
Und Viertens gilt die amerikanische Losung: Fail fast. Scheitern wird in Deutschland negativer bewertet als in den USA. Es handelt sich dabei aber nicht immer um Versagen.
Denn Risiken enthalten Chancen, und aus Scheitern und Fehlern wachsen neue Ideen und entstehen bessere Produkte.
„Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“: Helmut Schmidts berühmtes Zitat gehört längst zum Allgemeinwissen und Standardrepertoire öffentlicher Kommentierung.
Und dem Altbundeskanzler kann man in seiner Einschätzung nur Recht geben, wenn es sich bei einer Vision um eine inhaltsleere Träumerei handelt.
[In unseren Leute-Newslettern aus den zwölf Berliner Bezirken befassen wir uns regelmäßig unter anderem mit Polizei- und Sicherheitsthemen. Die Newsletter können Sie hier kostenlos bestellen: leute.tagesspiegel.de]
Aber mit der Vision einer wissensbasierten Wirtschaft kann ein politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Masterplan verbunden werden, der strategisch neue Kräfte freisetzt und Menschen zur Veränderung inspiriert und antreibt.
Berlin ist die Stadt der Disruption. Karl Scheffler wusste bereits vor über 100 Jahren, dass Berlin dazu verdammt sei, „immerfort zu werden und niemals zu sein.“
Vielleicht sollte man dieses Schicksal heute nicht mehr bedauern, sondern als großartige Chance für die Entwicklung dieser einzigartigen Stadt betrachten.
Eine solche unternehmerische Mentalität könnte gerade in diesen bewegten Zeiten Wunder wirken.
In diesem Sinne würde dann eher gelten: „Wer keine Vision hat, sollte zum Arzt gehen.“
Jörg Rocholl