Karl Schefflers "Berlin - ein Stadtschicksal": Yankees in der Wüste
Seit hundert Jahren aktuell: Karl Scheffler erklärt, in seinem jetzt neu aufgelegten Klassiker "Berlin - ein Stadtschicksal" warum die Hauptstadt hässlich war, ist und bleibt.
Lange war Berlin eine Mietskasernenstadt. Heute ist es die Hauptstadt der Eigentumskasernen. So öde, wie sich einst Mietshäuser mit ihren verschachtelten Hinterhöfen aneinanderreihten, so uniform wirken die Stadthäuser, Bauträger- oder Baugruppenprojekte, die jetzt überall hochgezogen werden. Architektonisch sind sie bis auf Ausnahmen – etwa die Gebäude am Schöneberger Lokdepot mit ihren fabrikartigen Fassaden – wertlos.
Die Neubauten tarnen sich als Altbauten, im reduzierten Zierrat ihrer Verkleidungen zitieren sie am liebsten Stile aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, von der Belle Époque bis zur Streamline-Moderne. Allerdings sind die Raumhöhen heute deutlich niedriger, und dort, wo die Eigentumspaläste besonders eng nebeneinanderstehen – wie auf der Stralauer Halbinsel –, nehmen sie sich gegenseitig Licht und Luft. Eine neue Gründerzeit, ein neuer Historismus.
Scheffler stellt seine Diagnosen wie ein Arzt
„Aus Backsteinen, Stuck und Gips haben sich die Reichshauptstädter ihre Pseudopaläste aufführen lassen“, schimpft der Kunstkritiker Karl Scheffler in seinem legendären Buch „Berlin – ein Stadtschicksal“ aus dem Jahr 1910. Die Berliner hätten „Fassaden erfunden, an denen sich die Bauformen, die Ornamente und Stillinien aller Zeiten und Länder im grässlichen Durcheinander, wie im Wahnsinn winden“.
Scheffler stellt seine Diagnosen wie ein Arzt aus, der seinen Patienten krankschreibt. Aber kann man gleich eine ganze Stadt einweisen lassen? Für Scheffler zeigt sich in der Baukultur der Zustand einer Gesellschaft. Und bei der kaiserzeitlichen Gesellschaft kommt für ihn jede Hilfe zu spät. Nirgends sind „die unmoralische Unechtheit, die verbrecherische Unfähigkeit und die gemeine Übertriebenheit des modernen Bauekletizismus“ so deutlich zu erkennen wie in Berlin.
Betrachtet man Fotos aus dem wilhelminischen Berlin, beginnt einem schnell der Kopf zu schwirren. Die Häuser sind überzogen mit historisierendem Fassadenschmuck, der das geradezu militante Selbstbewusstsein der Epoche demonstriert. Ritterfiguren, Barbarossa-Köpfe, Löwen unterstreichen das von Kaiser Wilhelm II. ausgerufene Verlangen nach einem „Platz an der Sonne“. Der britische Historiker Simon Winder konstatiert, dass die Deutschen der Kaiserzeit von einer Mittelalterschwärmerei geradezu „zerfressen“ gewesen seien, und meint, dass von den Bauten aus der Zeit um die Jahrhundertwende bis heute „etwas Schwermütiges“ ausgehe. Sie bezeugen einen aggressiven Wohlstand.
Die Fassaden aus der Kaiserzeit stehen für eine Mischung aus Größenwahn und Minderwertigkeitskomplex. Was spricht aus der Architektur der Eigentumskasernen? Ein Amalgam aus Auftrumpfen und Angst vor dem Abstieg? Selbstzweifel, die Lust, sich in den eigenen Wänden einzubunkern?
Bevor Scheffler Publizist wurde, arbeitete er als Maler und Zeichner
Karl Schefflers großer Berlin-Essay, der jetzt endlich wieder erscheint, überhaupt sein ganzes Werk, werden gerne auf einen Satz reduziert. Berlin sei „dazu verdammt: immerfort zu werden und niemals zu sein“. Er findet sich auf Seite 222, mit diesem Satz endet das Buch, in ihm kulminiert es. Scheffler, der 1869 geboren wurde und 1951 starb, hatte als Dekorationsmaler und als Ornamentzeichner in einer Tapetenfabrik gearbeitet, bevor er Publizist wurde. Er war ein leidenschaftlicher Gegner Wilhelms II., Unterstützer der Secessions-Künstler und vehementer Verteidiger Max Liebermanns. Wenn er schreibt, Berlin sei „verdammt“, muss man das wortwörtlich verstehen. Scheffler verdammt Berlin, für ihn ist es die Parvenühauptstadt, gefüllt mit „Bauunternehmerarchitektur“ und einer „kulturunfähigen“ Bevölkerung.
Veränderung ist zum Dauerzustand geworden
„Berlin – ein Stadtschicksal“ ist eine herrliche, sprachlich oft funkelnde Polemik. Viele von Schefflers Diagnosen haben ihre Gültigkeit behalten. Man könnte auch sagen: Sie gelten jetzt erst recht. Als Scheffler sein Buch schrieb, hatte sich die Berliner Einwohnerzahl gerade innerhalb von 40 Jahren auf 1,7 Millionen Menschen verdoppelt. Heute leben 3,5 Millionen in der Stadt, jährlich kommen 40 000 bis 50 000 hinzu – noch ohne Flüchtlinge gerechnet. Nach Angaben des Statistischen Bundesamt wurden allein von 1993 bis 2012 rund 700 000 Gebäude fertiggestellt. Veränderung ist zum Dauerzustand geworden.
Warum? Schuld an dem hyperventilierenden Daueraktionismus, dessen Kern in Wirklichkeit die Stagnation bildet, ist laut Scheffler Berlins Charakter als Kolonialstadt. Berlin war nie ein natürliches Zentrum, es blieb immer ein Außenposten des Deutschen Reiches, hineingesetzt ins kulturelle Abseits. Eine Pionierstadt wie in den USA, statt im Wilden Westen im Wilden Osten gelegen und deshalb dem von Scheffler gescholtenen „Amerikanismus“ sehr zugetan, der sich unter anderem in hohen, schnell hingestellten Häusern zeigt. Berlin ist kein Gewächs, sondern eine Gründung.
Bei aller Polemik: Karl Scheffler hatte tiefe Gefühle für Berlin
Die Ideen in dieser „Stadt ohne Gedächtnis“ kamen stets von außen. Alle ein, zwei Generationen zogen neue Kolonisatoren ein, verwarfen die vorgefundenen Konzepte und machten sich hemdsärmelig an alternative Projekte. Slawen, Hugenotten, Salzburger Protestanten, Schlesier, Türken, Studenten, Schwaben – die Menschenkette reicht bis in die Gegenwart. Was ästhetisch dabei herauskommt, ist allenfalls „unpersönlicher Eklektizismus“.
Schefflers Beziehung zu Berlin als distanziert zu bezeichnen, wäre untertrieben. Sie ist unrettbar zerrüttet. „Berlin ist eine laute Stadt, aber eine Stadt ohne Heiterkeit“, konstatiert er. Ist es dabei in der Club- und Technohauptstadt, in der autogerecht ausgebauten Metropole mit ihren sechsspurigen Tangenten nicht bis heute geblieben? Wo wäre die Heiterkeit, wo das Unbeschwerte, der Raum für Tagträume?
Unter den Linden kann nicht mit dem Champs-Élysées mithalten
Berlin, bevölkert von „provinzmäßigen Yankees“, fehlt es entschieden an ästhetischem Bewusstsein. Ein Grund dafür ist laut Scheffler der „unfruchtbare Dualismus“ der beiden Schwesterstädte Kölln und Berlin, die bis 1709 getrennte Verwaltungen besaßen. Im Fischerstädtchen Kölln entstand am Ende des Mühlendamms ein Marktplatz mit (Petrus-)Kirche, gegenüber in Berlin wurde der Molkenmarkt mit der Nicolaikirche angelegt. Ein „geräumiger, in schönen Verhältnissen angelegter“ Marktplatz fehlt. Hauptstraßen sind ungeordnet angelegt, dem Stadtplan mangelt es an „musikalischem Glücksgefühl“. Scheffler urteilt gnadenlos: „Man fühlt, dass kein Rhythmus in der Stadt ist.“ Mit der Eleganz der Champs-Élysées kann die angebliche Prachtstraße Unter den Linden nicht mithalten. Dass sie, kurz bevor sie das Schloss berührt, einen Knick macht, offenbart die Fehlplanung.
So geht die Suada weiter, die wohl deshalb so leidenschaftlich formuliert ist, weil der Autor in Wirklichkeit tiefe Gefühle für seine Stadt empfindet. Die Spree ist ein Fremdkörper geblieben, bloß ein Wasserlauf, weil Berlin seinen Flüssen anders als Wien, Frankfurt am Main oder Hamburg „keine Zärtlichkeit entgegenbringt“. Schon im Mittelalter reichte es bloß zu „Regierungsbaumeister-Gotik“. Es gibt keine Esskultur, nur ein paar Cafés. Schinkel war ein „feiner Epigonaler“, Fontane ein „Plauderer“ und Menzel stieg als „Opfer des Großstadt-Berlinertums“ ab zum „Uniformmaler“.
Herausgeber Florian Illies nennt Scheffler in seinem Vorwort einen „Selbstdenker“, der als Flaneur diese Stadt durchwandert hat, an den Magistralen entlanggegangen ist und an ihrer Formlosigkeit verzweifelte. Schefflers Fazit: „Man kann jedes Verhältnis zu Berlin gewinnen, nur lieben kann man diese Stadt nicht.“ Noch immer nicht?
Karl Scheffler: Berlin – ein Stadtschicksal. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Florian Illies, Suhrkamp, Berlin 2015. 222 S., 21,95 €.
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