Revolution am 1. Mai verschoben: Berlin kämpft mit Worten, nicht mit Krawall
Drastisch steigende Mieten, Verdrängung aus dem gewohnten Umfeld: Die Bevölkerung ist politisiert wie lange nicht. Doch Randale hat keine Chance. Ein Kommentar.
Typisch Berlin: Die Mai-Revolution wurde mal wieder verschoben. Vor den großen Demonstrationen waren nach Jahren der relativen Ruhe heftige Krawalle befürchtet worden, weil die radikale Linke zur Baustelle eines verhassten Investors ziehen wollte – und weil sich immer mehr Berlinerinnen und Berliner unter dem Eindruck von drastisch steigenden Mieten und der Verdrängung aus dem gewohnten Umfeld den Protesten anschließen.
Doch auf den Straßen blieb es weitgehend friedlich und zuweilen sogar fröhlich. Erst am Abend nahm die Polizei einige Randalierer nach Flaschenwürfen fest, auch gab es einige Verletzte – doch am Ende waren fast alle zufrieden.
Die Taktik der Polizei, auch die unangemeldete Demonstration durch Friedrichshain ziehen zu lassen, ging auf: Die radikale Linke sah es schon als Erfolg an, ihre Route weitgehend durchsetzen zu können. Die Baustelle des Investors, der als Feindbild gilt, wurde von den Beamten dagegen so massiv gesichert, dass der befürchtete Barrikadenkampf ausfiel. Mehr als ein paar Böller explodierten nicht.
Etwas Aufsehen erregte die radikale Linke nur mit ihrem Demo-Aufruf. Aber die Gelbwesten-Guillotine für „Reiche“ unterscheidet sich vom Pegida-Galgen für Merkel nur äußerlich: Die einen tragen ihre Wut mit Pepitahütchen auf die Straße, die anderen mit Sturmhauben. Beide bleiben in der Minderheit.
Insgesamt erinnerte das alles mehr an die Love Parade und das Motto „Friede, Freude, Eierkuchen“ – ein Demonstrant hauchte sogar jedem vorbeikommenden Polizisten ein „Ich liebe dich“ zu. Die auf Abenteuer abonnierten Jungtouristen konnten es kaum glauben.
Nackensteaks statt Nackenschläge
Unterdessen feierte auch Kreuzberg trotz neuer Restriktionen friedlich in den Mai, als wäre es das Normalste der Welt. Dabei war es das nicht: Zum ersten Mal zog die „Revolutionäre 1. Mai-Demonstration“ komplett am Bezirk vorbei. Vermisst hat sie niemand. Nackensteaks statt Nackenschläge lautete hier die Parole.
Und auch in Grunewald blieb es friedlich – der Spaziergang der Kapitalismuskritiker durchs Villenviertel verlief so ironisch wie angekündigt: „Burn Bratwurst, not Porsches“. Sachbeschädigungen wie im vergangenen Jahr? So gut wie keine. Lachbeschädigungen? Jede Menge! Und dass der DGB die größte Kundgebung auf die Beine brachte, weist ebenfalls auf eine begrüßenswerte Entwicklung hin: Wir erleben eine Rückkehr zur politischen Auseinandersetzung mit Worten. So kann der nächste Mai gerne kommen.
Lesen Sie mehr im Tagesspiegel:
- Viele Demos, viele Feste: Den ganzen Tag haben wir den 1. Mai im Liveblog begleitet. Die Ereignisse können Sie hier in chronologischer Reihenfolge nachlesen.
- Eine Bilanz in neun Zufriedenen und die rechtliche Einordnung der abgerissenen „Tiny Houses“ von Obdachlosen finden Sie im aktuellen Checkpoint-Newsletter von Lorenz Maroldt.
Lorenz Maroldt