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Tagesspiegel-Kolumnist Peter Wittkamp.
© Peter von Felbert

Peter Wittkamps Kolumne „Ist doch wahr!": „Berlin ist zurzeit so langweilig wie München das gesamte Jahr“

Ja, dieser sogenannte Shutdown ist furchtbar, findet unser Kolumnist. Aber früher war es noch viel schlimmer. Das Internet war 1920 noch schrecklich langsam.

Mein Lieblingslied über diese Stadt heißt „Berlin erwacht“ und wurde im Jahr 1969 von Bob Telden veröffentlicht. Es ist ein flotter, pfiffiger Schlager – zumindest hätte man das damals noch so gesagt – über die Morgenstunden an der Spree. Fünf Uhr früh: Die letzten wanken gerade nach Hause, während der Bäckerjunge schon wieder die Brötchen ausfährt.

Derzeit macht die Stadt genau das Gegenteil des Schlagertitels: Berlin schläft ein. Denn – der ein oder andere von Ihnen wird es bereits den Gazetten entnommen haben – es wurde schon wieder ein sogenannter Shutdown verordnet. Restaurants geschlossen, Kulturstätten geschlossen, Kneipen geschlossen, Bars geschlossen, von den Tanzgaststätten will ich gar nicht erst reden. Der Bär hält Winterschlaf. Berlin ist also derzeit ungefähr so langweilig wie München das gesamte Jahr.

Nichts geht mehr. Zahlreiche Geschäfte, Restaurants und andere öffentliche Orte sind derzeit geschlossen.
Nichts geht mehr. Zahlreiche Geschäfte, Restaurants und andere öffentliche Orte sind derzeit geschlossen.
© Britta Pedersen / dpa

Aber ist das wirklich alles so schlimm? Ich denke nicht. Wir sitzen gemütlich zu Hause und streamen über Netflix Filme und Serien – notfalls gibt es auch noch den RBB. Diverse Lebensmittel und sogar exotische Produkte wie Ananas oder Klopapier werden größtenteils in ausreichenden Mengen in den Supermärkten bereitgehalten.

Fehlt die Lust am Kochen, genügt ein Klick in eine Smartphone-App und ein Radfahrer wird egal bei welchem Wetter losgeschickt, uns die Mahlzeit bis zur Haustür zu bringen. Es gibt sogar Dienste, die dasselbe mit einem Kasten Bier leisten. Luxuriöse Zeiten.

Kein Fernsehen, kein Radio – und das Internet war 1920 auch noch schrecklich langsam

Vor gut 50 Jahren, als Bob Telden „Berlin erwacht“ sang, wäre die Zeit zu Hause noch nicht so angenehmen gewesen. Netflix zum Beispiel, bestand damals aus dem Ersten, dem Zweiten und dem Dritten, inklusive Sendeschluss. Und unter Lieferando hat man sich wahrscheinlich einen italienische Arie vorgestellt. Na, immerhin ist Willy Brandt im engen Austausch mit den Virologen.

Aber deutlich schlimmer wäre es gewesen, wenn wir noch mal 50 Jahre zurückgehen. In das Jahr 1920. Man hätte vielleicht nicht Shutdown gesagt, sondern eher „Allgemeine Anweisung zum Verbleib in der Wohnstube“. Aber stellen Sie sich eine solche mal zu dieser Zeit vor. Der Erste Weltkrieg, von dem noch niemand ahnte, dass es nur der erste war, gerade vorbei und schon verbreitet so etwas wie Covid1919 oder die Spanische Grippe ihren Schrecken.

Damals wäre zu Hause bleiben vermutlich richtig langweilig gewesen. Fernsehen gab es überhaupt nicht und sogar das Radio begann erst drei Jahre später zu senden. Außerdem war das Internet zu dieser Zeit noch schrecklich langsam.

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Die Abendbeschäftigung lief vermutlich auf die Frage hinaus, ob man zum siebzehnten mal die „Buddenbrooks“ von Thomas Mann lesen wollte oder doch noch mal zu Hermann Hesse greift. Falls es im Haushalt überhaupt Bücher gab. Ansonsten musste man sich die Zeit damit vertreiben, in den Kohleofen zu schauen. Auch hier: Falls vorhanden.

Gag-Schreiber, Autor, Tagesspiegel-Kolumnist: Peter Wittkamp.
Gag-Schreiber, Autor, Tagesspiegel-Kolumnist: Peter Wittkamp.
© Peter von Felbert

Als letztes Mittel zur Zerstreuung blieb einem nur noch übrig, sich noch mal an die schönsten Erlebnisse an der französischen Front zu erinnern. Das aber auch nur, wenn man abends nach anstrengendem Tagwerk überhaupt noch genug Kraft hatte für einen geistigen Luxus wie Erinnerungen.

Und dann auch noch ein Serienmörder

Auch die Versorgung mit Lebensmitteln war – um es vorsichtig auszudrücken – eher suboptimal. Statt Fahrradfahrern, die warme Mahlzeiten nach Hause liefern, liefen viele Bürger einmal quer durch die Stadt, um vielleicht noch irgendwo ein halbes Pfund Kartoffeln aufzutreiben. Allerdings hatte das eingesteckte Geld während dieser Strecke schon an ein wenig an Wert verloren, da die Inflation seit Jahren im Gange war.

Von der Nachkriegsarbeitslosigkeit, die das Auftreiben von Geld ganz generell deutlich erschwerte, ganz zu schweigen. Zu allem Überfluss trieb sich zu dieser Zeit auch noch Carl Großmann in Kreuzberg herum, einer der schlimmsten Serienmörder der deutschen Geschichte. Neben Viren ein ziemlich überzeugender Grund, zu Hause zu bleiben.

Außer Betrieb: Szene vor einem Berliner Restaurant.
Außer Betrieb: Szene vor einem Berliner Restaurant.
© Britta Pedersen / dpa

Wenn also heute, im Jahr 2020, Berlin ein paar Wochen oder vielleicht auch Monate etwas ruhiger ist also sonst, denke ich mir: Alles halb so wild. Ich lese ein bisschen, ich höre ein wenig Radio, ich koche etwas oder bestelle eine Pizza. Ich freue mich, dass mein Euro am nächsten Tag auch noch einen Euro wert ist und dass Kreuzberg meines Wissens relativ serienmörderfrei ist.

Dann schaue ich im Internet, ob eine der zahlreichen Mediatheken die „Buddenbrooks“-Verfilmung im Angebot hat und irgendwann, vielleicht im Frühling, ist es dann auch wieder so weit: Berlin erwacht.

Peter Wittkamp ist Werbetexter und Gagschreiber. Er ist derzeit Hauptautor der „Heute Show Online“ und hat drei Jahre lang die mehrfach preisgekrönte Kampagne #weilwirdichlieben der Berliner Verkehrsbetriebe mit aufgebaut. Ab und an schreibt er ein Buch oder twittert unter dem leicht größenwahnsinnigen Namen @diktator. Peter Wittkamp lebt mit Frau und Kind in Neukölln - und schreibt alle 14 Tage eine Kolumne für den Tagesspiegel.

Peter Wittkamp

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