Sawsan Chebli über ehrenamtliches Engagement: „Berlin ist Modell für eine starke Zivilgesellschaft“
Hunderttausende Berliner arbeiten ehrenamtlich. Staatssekretärin Sawsan Chebli spricht im Interview über Vorbilder und Bürgerbeteiligung.
Frau Chebli, Hunderttausende engagieren sich in Berlin ehrenamtlich für ihre Stadt. Macht Sie das glücklich?
Als Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagement kann mich das nur glücklich machen. Und es zeigt, dass das Ehrenamt angesichts der aktuellen Angriffe auf unsere Demokratie eine immer größere Bedeutung gewinnt. Engagement ist eine tragende Säule einer funktionierenden Demokratie.
Die Zahl der ehrenamtlich Engagierten könnte sicherlich noch höher sein, wenn es für Bürger und Vereine einfacher wäre, sich allumfassend zu informieren. Das ist aber oft sehr mühsam ...
37 Prozent der Berlinerinnen und Berliner sind jetzt schon aktiv. Das ist toll. Richtig ist aber auch, dass wir Möglichkeiten des Engagements sichtbarer machen müssen. Wir werden künftig noch mehr Ressourcen in die „Bürgeraktiv“-Webseite investieren. Die Idealvorstellung wäre, dass auf dieser Plattform die gesamte Bandbreite des Engagements in der Stadt dargestellt wird. In Sachen Sichtbarkeit haben wir mit finanzieller Unterstützung des Parlaments außerdem den Aus- und den Aufbau von Freiwilligenagenturen vorangetrieben. Das sind Anlaufstellen in der Nachbarschaft, wo sich Bürger darüber informieren können, welches Ehrenamt zu ihnen passt. Das ist ein absolutes Novum dieser Legislaturperiode.
[Hunderttausende Berlinerinnen und Berliner engagieren sich ehrenamtlich in unser Stadt – ihren tollen Einsatz wollen wir unterstützen mit unserem monatlichen kostenlosen Newsletter "Ehrensache". Abonnieren können sie ihn hier.]
Sie sind seit 2016 Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagement und haben die Engagementpolitik Berlins durch ein eigenständiges Referat ausgebaut. Wie kamen Sie persönlich zu diesem Thema?
Ich bin, seit ich denken kann, auch selber engagiert. Ich war fast durchgängig Klassensprecherin, ich war Schulsprecherin. Ich habe in der Schule ein Café mit aufgebaut, damit sich Schülerinnen und Schüler vernetzen können. Ich war früh politisch aktiv, was natürlich mit meiner Biografie als Kind palästinensischer Flüchtlinge zu tun hat. Ich bin froh, dass ich das heute auch professionell machen darf und da meine eigene Note reinbringen kann. Dazu gehört, dass wir Demokratie und Engagement stärker zusammendenken. Als Senat wollen wir nächstes Jahr zu einem Demokratietag in Berlin einladen. 2020 ist genau der richtige Zeitpunkt für einen solchen Tag: 75 Jahre nach Kriegsende, 100 Jahre nach der Bildung unseres heutigen Berlin.
Die Berliner FDP kritisiert eine zu große Konzentration auf den Bereich der Arbeit mit Geflüchteten. Was sagen Sie dazu?
Ganz abgesehen davon, dass es diese Konzentration nicht gibt, verstehe ich nicht, wie man angesichts der Hetze und des Hasses gegenüber Flüchtlingen kritisieren kann, dass wir das Engagement von und mit Geflüchteten sichtbarer machen wollen. Wir wollen zeigen, dass sich viele von den Menschen, die zu uns gekommen sind, für dieses Land engagieren. Dieses Jahr ehren wir den Gründergeist von Geflüchteten. Und wenn ich mir die Bewerbungen anschaue, kann ich nur sagen: Es ist beeindruckend, was Geflüchtete in den vergangenen vier Jahren alles auf die Beine gestellt haben.
Es gibt auch Stimmen, die sagen, das ehrenamtliche Engagement würde immer wichtiger werden, weil der Staat sich aus der Verantwortung zieht. Was sagen Sie denen?
Fakt ist, dass der Staat allein nicht für den gesellschaftlichen Zusammenhalt sorgen kann. Unser Gemeinwesen braucht auch eine starke Zivilgesellschaft. Die deutsche Geschichte hat gezeigt: Da, wo Menschen nur an der Seitenlinie stehen und Beobachter sind, kann eine Demokratie scheitern. Wir als Staat dürfen uns aber nicht zurücklehnen, wir müssen Rahmenbedingungen und Strukturen schaffen, damit Engagement gedeihen kann und leichter wird. Und das tun wir. Außerdem braucht Ehrenamt auch Hauptamt. Das gibt es zum Beispiel in den Freiwilligenagenturen. Und es gibt noch eine Neuigkeit: Wir bewerben uns als European Volunteering Capital. Im November fahre ich dafür nach Brüssel. Wir sind in Berlin ja nicht so gut mit dem Eigenlob. Aber in der Welt und in Europa blickt man auf Berlin und auf Deutschland bei der Frage, wie Zusammenhalt und Solidarität funktioniert. Berlin ist ein Modell dafür, wie eine Stadt aus den Trümmern wachsen kann, die Teilung überwindet und heute als Ort der Freiheit wahrgenommen wird. Und ich finde: Berlin ist auch ein Modell für eine starke, engagierte Zivilgesellschaft.
Sich ehrenamtlich zu engagieren, muss man sich auch leisten können. Wer zwei Jobs braucht, um seine Familie durchzubringen, und dann zu Hause noch Sorgearbeit leisten muss, hat schlicht keine Zeit dafür. Wäre deshalb nicht das Thema Grundeinkommen eines, das eng mit dem Engagement-Thema verknüpft sein müsste?
Der Regierende Bürgermeister hat das solidarische Grundeinkommen eingeführt, mit dem Arbeit, die vorher hilfsweise von Ehrenamtlern vollbracht wurde, nun mit bezahlten Kräften umgesetzt werden kann. Das ist ein richtiger Weg. Denn Ehrenamt darf nicht als Ausfallbürge herhalten. Wir setzen uns als Sozialdemokraten darüber hinaus dafür ein, dass Menschen von dem, was sie verdienen, auch würdevoll leben können. Für mich und für die meisten Engagierten gilt jedoch: Ehrenamt ist Ehrenamt. Und eines möchte ich doch noch sagen: Es gibt unendlich viele Menschen, die selbst wenig haben und sich trotzdem ehrenamtlich engagieren. Ich bin fast jeden Tag in der Stadt unterwegs und spreche mit diesen Menschen, die ohne Gegenleistung mit anpacken. Das Tolle am Ehrenamt ist ja: Es gibt einem ganz viel. Das Gefühl, gebraucht zu werden, zum Beispiel.
Damit Bürger sich als Teil des Staates verstehen, braucht es ein Mitspracherecht bei politischen Entscheidungen, auch jenseits von Wahlen. Wieso hat Berlin keinen Bürgerhaushalt wie zum Beispiel Paris, wo die Bewohner über die Verwendung von rund 100 Millionen Euro selbst entscheiden?
Wir haben uns im vergangenen Jahr intensiv mit dieser Form der Bürgerbeteiligung auseinandergesetzt. Es gibt in einigen Bezirken schon Bürgerhaushalte. Und wir sind tatsächlich gerade in Gesprächen über einen gesamtstädtischen Bürgerhaushalt. Der würde mit deutlich mehr Geld ausgestattet werden als die bestehenden bezirklichen Bürgerhaushalte und so viel mehr Menschen die Möglichkeit bieten, sich zu beteiligen.
Das Interview führte Laura Hofmann.
Sawsan Chebli hat Politikwissenschaft in Berlin studiert. Die 41-Jährige ist Mitglied der SPD und seit 2016 Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagement in der Senatskanzlei.