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Eine Berliner Innovation: die Currywurst.
© Mauritius

Wirtschaftsstandort Hauptstadt: Berlin, Heimat der Innovation

Siemens, AEG und die Currywurst stammen alle aus Berlin. Sie erinnern daran, dass die Stadt einst Fluchtpunkt all derer war, die die Welt neu gedacht haben. Jetzt könnte Berlin wieder Zentrum der Veränderung werden.

Innovation? Was Neues? Ehrlich? Davon ist jeden Tag fast überall die Rede, so oft, dass man sich zu Recht die Frage stellen muss: Ist das wirklich neu oder kann das schon wieder weg? Ein paar Features mehr, einige Funktiönchen, Fortschritt in dünnen Scheiben, so tritt uns die Innovation entgegen, wenn wir Glück haben, und wenn wir, wie meistens, bloß Pech haben, dann ist das Neue bloß ein wenig hübscher lackiert.

Kein Zweifel: Die Innovation tritt auf der Stelle.

Dabei ist es ja nicht so, dass nichts passierte. Aber das deutsche Innovationswesen ist extrem eintönig. Das Neue hat immer irgendwas mit Autos oder Computern und Internet zu tun, Sachen, die man im Mediamarkt oder bei Saturn kaufen kann – wo „alles eine Frage der Technik“ ist, wie ja scheinbar alles in Deutschland.

Dieses Land ist von der Industrie geprägt, vom Maschinenbau, da waren wir immer wer, stets vorne und erfolgreich, und da wollen wir bleiben. Dem Ingenieur ist nichts zu schwör. Und auf den ersten Blick ist der Wohlstand in der Republik dort am stärksten, wo die Maschinenbauer und fleißigen Produktionsbetriebe zu Hause sind, im Süden und Südwesten. Industrie – das kommt vom lateinischen industria und heißt Fleiß, eine Tugend, derer die Berliner beim Rest der Republik nicht gerade verdächtig sind.

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Berlin war, was das Silicon Valley ist

Doch auch hier gilt John Maynard Keynes’ Einsicht über alle Veränderung, die er 1936 in seiner „Allgemeinen Theorie“ festhielt: „Die Schwierigkeit liegt nicht so sehr in den neuen Gedanken als in der Befreiung von den alten“. Hat er dabei an Berlin gedacht?

Das wäre eine sehr gute Idee, denn es wird nun, im Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft, um kulturelle und soziale Innovationen gehen.

Auch Berlin war mal Industriehauptstadt, das, was man heute verteilt im Auto- und Maschinenbau-Cluster rund um Stuttgart, Mannheim, München finden kann, an einem Fleck. Das imperiale Berlin war, wie das ganze Deutsche Reich im letzten Drittel des 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, ein Kind der preußischen Wunderwaffe, der herausragenden Rolle, die man der Industrie in den vom Königreich beherrschten Territorien gab. Es war die Industrie, die Deutschland zu dem machte, wovon heute alle glauben, dass es das immer schon war: ein fleißiges, emsiges, pünktliches Völkchen, das hohe Qualität fertigt und dabei äußerst diszipliniert ist.

Die Industrie hat den Flickenteppich der Kleinstaaten zum wichtigsten Player der Gründerzeit gemacht. Berlin war, was das Silicon Valley ist und Schanghai und Shenzen gleich dazu. Die Googles, Apples und Teslas hießen Siemens & Halske, Borsig und AEG. Fast 600.000 Menschen arbeiteten vor dem Zweiten Weltkrieg in Berlins Industrie, die sich selber als Fabrik verstand – in Walther Ruttmanns „Berlin – Sinfonie einer Großstadt“ kann man das nachvollziehen.

Kein Grund nostalgisch zu werden

All das ist lange her und dem verlorenen Industriestandort lange genug nachgetrauert worden.

Nun aber leben wir bekanntlich in Zeiten der Digitalisierung, was so viel heißt wie digitale Automation, was wiederum so viel bedeutet wie: Maschinen nehmen uns unsere Fleißkultur ab. Automation gibt es, seit es Menschen gibt, immer erfindet jemand etwas, womit man sich stupide und schwere, monotone und lästige Arbeit vom Hals hält und die Welt zu einem besseren, weil bequemeren Ort für die Menschen macht.

Bequem? Richtig. Darum geht es. Vereinfachung, Komfort, Bequemlichkeit, sich hinfläzen. Arbeit, die man gerne tut, ist super. Arbeit, die man machen muss, die Hölle.

Die Wissensökonomie und ihr Motor, die Individualisierung, fordern unaufhörlich mehr Komfort und Bequemlichkeit für den Einzelnen. Das klingt in den Ohren der zu strikter protestantischer Arbeitsethik erzogenen deutschen Fleißkäferchen erst mal komisch, ist aber – siehe: Automaten übernehmen das, was wir heute noch „normale Arbeit“ nennen – eigentlich ganz logisch. Komfort ist das Ziel aller Kultur, Bequemlichkeit der Grund dafür, dass wir uns abrackern. Das Wort „bequem“ steht nun aber auf der schwarzen Liste der deutschen Fleißkultur an erster Stelle. Geschrieben hat das eine Kultur, die von gestern ist.

Fleiß ist in einer Welt, in der Algorithmen, Netzwerke, Roboter die Routinearbeit übernehmen, so ziemlich eines der dümmsten Dinge, auf die man kommen kann. Wozu sollte man fleißig sein, wenn man eine Maschine hat, die einem die Arbeit abnimmt? Nun ist – endlich, endlich auch in Deutschland – im Rahmen der Digitalisierungsdiskussion ein noch recht verzagtes Nachdenken über die Welt nach der Fleißarbeit losgegangen. Bei Innovation ist „alles eine Frage der Technik“?

Kreativität ist gefragt

Nein, eben nicht, wenn die Technik selbst einen erheblichen Teil dessen übernimmt, was man heute noch Arbeit nennt. Die eigentliche Innovation, über die grade die Fleißrepublik Deutschland nachdenken muss, besteht darin, zwischen Mittel und Zweck zu unterscheiden. Man klammert sich an die Scheinsicherheit des geregelten Arbeitslebens und der Beschäftigung, doch das ist trügerisch, und so steht das alte Arbeitsbild selbst auf der Roten Liste, ganz oben übrigens.

Gefragt ist kreative, schöpferische Arbeit, keine Fleißarbeit, für die man Hamster im Rad braucht. Schöpferische Arbeit besteht aus Versuch und Irrtum, nicht aus sturem Abarbeiten. Experimente sind keine Ausnahme mehr, sondern werden zur Regel. Das ist kennzeichnend für die Wissensökonomie. Menschen denken darüber nach, wie man es besser machen könnte – Maschinen erledigen den Rest. Das ist tatsächlich heute vielfach schon so, ist aber kaum in den Köpfen angekommen. Die neue Wirtschaft und Gesellschaft beschäftigt sich mit individuelleren Ergebnissen, Produkten. Das merkwürdige „Industrie 4.0“ bedeutet nichts anderes als eine personalisierte Produktion, das ist ihr Sinn, eben keine Massenfertigung. Aber an dieser verschämten Bezeichnung merkt man, wie rückständig die Industrialisten sind. Selbst bei Begriffen muss man ihnen ein Trojanisches Pferd unterjubeln. Was der Bauer nicht kennt, frisst er sonst nicht.

Es geht um kulturelle Innovation, die man für eine Welt braucht, in der nicht mehr alles vor blindem Eifer dampft und klappert. Und dann muss Berlin auch nicht mehr mangels anderer Sinnstiftung die Metropole der öffentliche Bediensteten sein. Es kann mehr.

Berlin hat beste Voraussetzungen

Die Transformation zur digitalen Wissensgesellschaft, die wirklich wahre Innovationswelle also, sie ist wie gemacht für Berlin. Denn Experiment und Versuch sind hier, immer von der Routinefleißgesellschaft der restlichen Bundesrepublik argwöhnisch beäugt, ein weitaus normalerer und alltäglicherer Prozess als in Bayern oder Baden-Württemberg. Die Innovationsgesellschaft, die gleichbedeutend ist mit der Wissensgesellschaft und ihrer neuen Ökonomie, braucht eine Vielzahl passgenauer Lösungen statt 08/15-Antworten, die im Zeitalter der Industrie richtig waren, aber in saturierten, entwickelten Märkten zu nichts mehr führen.

Unternehmen müssen schleunigst lernen, dass die alten Organisationsformen, in denen sie stecken, offener werden müssen für Talente und Entrepreneure, für Ausprobierer, und dass dieses Ausprobieren selbst ein Geschäftsmodell ist.

Ist Berlin die Hauptstadt der Innovation?
Ist Berlin die Hauptstadt der Innovation?
© picture alliance / Robert Schles

Heute müssen die neuen Unternehmensformen gedacht werden, die innovatives Denken nicht aussperren, wie das in den zu stark bürokratisierten Unternehmen leider vielfach der Fall ist, dort, wo die Bewahrer und Erhalter das Sagen haben. Dafür ist das Ansehen Berlins weltweit unter Gründern und kreativen Machern ein Kapital, dass man im Lande selbst vielfach nicht erkannt hat. Kulturelle Innovation heißt nicht nur neue Organisationsformen denken, sondern auch genau zu sehen, wie die sozialen Rahmenbedingungen darauf wirken. Braucht ein Sozialstaat im 21. Jahrhundert dieselben Regeln, die in der beginnenden Industrialisierung galten?

Wohl kaum. Was braucht eine Stadt, in der Kreativität zu Hause ist? Wahrscheinlich mehr ruhige Quartiere, in denen man konzentriert arbeiten kann, und weniger öffentlich oder wenigstens halbamtlich organisiertes Tamtam. Kulturelle und soziale Innovation besteht darin, dass man überlegt, wie man besser lebt, und nicht bloß ein paar Features nachschiebt. Von der Organisations- bis zur Stadtentwicklung, der Architektur und neuen Modellen für den öffentlichen wie individuellen Verkehr liegen hier die Mega-Milliardenmärkte des 21. Jahrhunderts. Wo entsteht das Silicon Valley für mehr Komfort und Bequemlichkeit auf Erden?

Stadt der Experimente

Berlin könnte ausbrechen, wenn es denn wollte, aus der alten Tradition der Industrie, bei der alles im Takt lief, und sich – da würde die meist hohle Phrase auch mal stimmen – neu erfinden: als Hauptstadt der kreativen Lösungen, der Experimente, die man ganz bewusst und durchaus auch öffentlich begleitet macht. Die große Stadt als Labor, als Lerneinheit, als Universität des neuen Lebens und Arbeitens im 21. Jahrhundert. Das kostet weniger Geld als guten Willen und Interesse an der Veränderung. In Berlin könnten die Avantgarde und die besten Denker der Wissensgesellschaft lernen und sich austauschen. Und zwar ganz ohne Fleiß, dafür aber mit viel Verstand, Vernunft und kühlem Pragmatismus. Vor allem: mit Interesse für die zentralen menschlichen Bedürfnisse.

Das müsste Kapitalisten und Sozialisten eigentlich gleichermaßen ansprechen, wenn sie ihre Sache ernst nehmen. Das ist bekanntlich aber nicht immer der Fall. Aber auch die alten Lager müssen ihre Komfortzonen verlassen, um zur neuen, lukrativen Komfortzone vorzudringen: es den Menschen so gut wie möglich zu machen. Dieses Motto, dieser Leitsatz kann Start-ups und Maschinenbauer, Gastronomen, Hoteliers und öffentliche Einrichtungen zusammenführen. Die Welt wartet auf mehr Komfort, Bequemlichkeit.

Berlinerinnen und Berliner, ganz ohne Ironie: Da seid ihr die Mensch gewordenen Kernkompetenz. Also: raus aus den Komfortzonen, rin in die Komfortzone. Berlin, probier’s mal mit Gemütlichkeit.

Der Autor ist Gründungsmitglied des Wirtschaftsmagazins „Brand Eins“. Sein aktuelles Buch „Innovation. Streitschrift für barrierefreies Denken“ ist bei der Edition Körber erschienen. Dieser Artikel erschien auf der wöchentlichen Sonderseite "Berliner Wirtschaft". Folgen Sie uns auf Twitter für Updates: @BRLNRwirtschaft

Wolf Lotter

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