Folgen der neuen Landflucht nach Brandenburg: Berlin gehen die Mittelschicht und Einnahmen verloren
Da dank Homeoffice die gut Ausgebildeten ans Abwandern denken, ändert sich auch Berlins Bevölkerungsstruktur. Eine Kolumne.
Zuerst hatten es die französischen Telekommunikationsgesellschaften gemerkt. Handynummern, deren Besitzer sich immer von Paris aus ins Netz eingewählt hatten, tauchten im April und Mai plötzlich verstärkt bei der Einwahl im Umland der Hauptstadt auf, und dies dauerhaft. Die Telefongesellschaften schlossen daraus, dass die Menschen ihren Lebensmittelpunkt aus der Metropole weg in Regionen bis zu 100 Kilometer entfernt verlegt hatten.
Die Frage, die auch Sozialwissenschaftler schnell beschäftigte, war: Ist das eine Folge von Corona? Beobachtungen von Medien und Kommunikation bestätigen dies. Ja, diese Bürgerinnen und Bürger hatten offenbar wegen der Pandemie die Großstadt verlassen.
Auf dem Land fühlten sie sich sicherer. Und als sie gemerkt hatten, dass Homeoffice von überall funktioniert, wenn nur die Telefon- und Internetverbindungen stabil sind, machten sie aus einer temporären eine dauerhafte Lösung.
Paris ist kein Einzelfall. Das Amt für Statistik Berlin-Brandenburg teilte vor wenigen Wochen mit, dass die Einwohnerzahl Berlins kaum mehr gestiegen sei. Ein Blick auf die genauen Tabellen zeigt, dass die Zahl der Einwohnerinnen und Einwohner Berlins im ersten Halbjahr 2020 sogar um 7039 Personen gefallen ist. Das ist der erste Rückgang seit 2003.
Finanzsenator warnt vor Einbußen bei Steuereinnahmen
Auch in Berlin lag die Erklärung nahe: Die Pandemie verstärkt verstärkt einen Trend. Waren es aber bislang vor allem die steigenden Mieten und der Wohnungsmangel, die Großstädter ins Brandenburger Umland ausweichen ließen, kam jetzt, wie schon in Paris, die Erkenntnis hinzu, dass es beim Homeoffice völlig egal ist, wo der Computer steht – aber ein Wohnort außerhalb der Millionenstadt den Vorteil bringt, die Kinder ohne lange Wege in Kita oder Schule schicken zu können.
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Die offizielle Berliner Politik geht immer noch davon aus, dass es sich hier um eine temporäre Entwicklung handelt. Da wird in einer nicht fernen Zukunft noch immer mit vier Millionen Einwohnern gerechnet. Aber der Finanzsenator warnte schon einmal vorsorglich, dass aus diesem Trend ein Einnahmenproblem erwachsen könnte.
Vermutlich kennt man im Hause Kollatz auch die genauen Zahlen der Einwohnerentwicklung. Im ersten Halbjahr sind nämlich 8114 Deutsche weggezogen, 1075 Ausländer kamen dafür in die Stadt. Daraus errechnet sich der Wanderungsverlust von 7039 Menschen.
Die Stadtgesellschaft kann nicht auf die Mittelschicht verzichten
Nun ist Berlin eine internationale Metropole geworden. Aus dieser Vielfalt erwächst auch die globale Attraktivität der Hauptstadt. Zur nüchternen Analyse gehört aber die Erkenntnis, dass es vor allem gut ausgebildete Berufstätige und ihre Familien sind, die Berlin verlassen, oder die Absicht haben, dies bald zu tun.
Viele der Neuankömmlinge aus aller Welt aber kommen als Zufluchtsuchende. Andere brauchen dringend einen Job, meistens einen, der keine weitreichende Berufsausbildung voraussetzt. Nach Brandenburg abgewandert sind aber Menschen mit einem guten Einkommen, bei denen es für die berufliche Entwicklung keine Rolle spielt, von wo aus sie arbeiten.
Damit gehen der Stadt nicht nur Steuereinnahmen, sondern auch gesellschaftliche Ressourcen verloren, denn es ist diese Mittelschicht, die soziale Milieus stabilisiert. Darauf kann eine Gesellschaft nicht verzichten. Landluft macht frei, die Umkehr der alten Volksweisheit ist heute Realität. Aber die Probleme verschwinden damit nicht. Sie bleiben, wo sie sind – in der Stadt, wenn die sich nicht verändert.
Gerd Appenzeller