Impfkampagne der Bundesregierung: „Benachteiligte zu Sündenböcken der Krise zu machen, zieht nicht“
Der ehemalige Berliner Antidiskriminierungsbeauftragte Derviş Hızarcı berät die Bundesregierung bei der Impfkampagne. Ein Gespräch über Impfskepsis und Vorurteile gegenüber Migranten in der Pandemie.
Herr Hızarcı, Sie haben das Bundesgesundheitsministerium in Sachen Impfskepsis beraten. Warum?
Die Impfkampagne hat den Anspruch, diversitätsbewusst und diskriminierungssensibel zu sein. Als ehemaliger Antidiskriminierungsbeauftragter unterstütze ich die Kampagne bei diesen Themen. Wenn ich einen kleinen Beitrag zur Eindämmung der Pandemie leisten kann, dann empfinde ich das als meine Pflicht und Verantwortung.
Worum geht es bei der Kampagne der Bundesregierung genau?
Es geht der Bundesregierung eigentlich um viel mehr als nur das Impfen. Es geht darum wie man Gruppen, die zum Beispiel aufgrund ihres sozialen Status und ihrer Herkunft benachteiligt werden, erreicht, ohne sie zu stigmatisieren. Neben der Aufklärung zu Corona und dem Umgang mit der Krise ist auch das adäquate Abbilden einer vielfältigen Gesellschaft ein wichtiges Ziel.
Wie sieht ihr Engagement konkret aus?
Vordergründig geht es mir um die Vermittlung eines Selbstverständnisses einer multidiversen Gesellschaft. Das bedeutet zum Beispiel, dass andere Muttersprachen außer Deutsch nicht als hinderlich angesehen werden, sondern dass die vielen Sprachen, die die Bürger:innen in diesem Land sprechen als bereichernd anerkannt werden.
Das wird durch eine mehrsprachige Kommunikation deutlich gemacht. Dazu gebe ich Empfehlungen, zu welchen Zeitpunkten, wo und wie eine Kommunikation besonders wirken kann. Das war im Fastenmonat Ramadan zum Beispiel der Fall.
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Wie schätzen Sie die Impfkampagne ein?
Für die Bundesregierung ist es insofern nicht einfach, weil die wichtigste Überzeugungsarbeit eigentlich auf der kommunalen Ebene stattfinden muss. Da bin ich froh, dass in Berlin zum Beispiel auch die Integrationsbeauftragte mitanpackt.
In den vergangenen Wochen gab es eine Debatte über eine möglicherweise höhere Impfskepsis in sozial schwächeren und migrantischen Stadtteilen. Welche Rückmeldung kriegen Sie?
Es gibt ja keine belastbaren Zahlen dazu. Mein Eindruck ist, dass die Mehrheit in den Gemeinden sich impfen lassen will. Was vielleicht ein Unterschied ist, sind die Vorbehalte. Wenn es bei Migrant:innen eine erhöhte Skepsis geben sollte, müssen wir uns fragen, woran das liegt und wie wir Vertrauen schaffen können.
Eine Beobachtung ist, dass die Skepsis unter Muslim:innen sich anders ausdrückt, dass bei den Vakzinen zum Beispiel ,Schwein’ enthalten sein soll. Die Experten versichern mir, dass die Impfstoffe in Deutschland ,halal’ sind.
Abgesehen davon leisten Menschen mit Migrationsbiografien auf allen Ebenen ihren Beitrag zur Pandemiebekämpfung. Von der Krankenpflegerin über den Imam, der Aufklärungsarbeit leistet, dem Taxifahrer, der Gratisfahrten zum Impfzentrum anbietet bis hin zu Özlem Türeci und Ugur Sahin, die den Impfstoff erfunden haben. Wir besorgen schon lange nicht mehr nur unser Gemüse vom Türken.
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Wie beurteilen Sie die Debatte allgemein?
Leider werden die Debatten teils sehr problematisch und marginalisierend geführt. Ich finde folgende Erkenntnis wichtig: Es gibt genügend Studien, die darauf hindeuten, dass hohe Infektionszahlen bei Migrant:innen eher auf prekäre Wohn- und Arbeitsverhältnisse zurückzuführen sind.
Dabei träumt niemand davon, mit sechs Personen in einer Zweizimmerwohnung zu leben. Vor diesem Hintergrund beobachte ich mit Beklemmen die Diskussion: Anstatt darüber zu debattieren, wie wir die Lebensverhältnisse verbessern können, werden Kultur und Religion verantwortlich gemacht.
In der Debatte wurden unter anderem Sprachbarrieren als Ursache einer möglichen Impfskepsis genannt. Sehen Sie in sprachlichen Barrieren ebenfalls ein Problem?
Sprache spielt eine Rolle, das größere Problem sind aber die sozialen Umstände. Eine Reduzierung auf Sprache wäre daher zu knapp. Die Kampagne nimmt die sprachliche Vielfalt in der Gesellschaft positiv in Bezug. Ihr multisprachlicher Ansatz unterstreicht das Selbstverständnis einer multidiversen Gesellschaft.
Wie sehen Sie dem Umgang mit der Pandemie heute im Vergleich zu der Zeit vor einem Jahr?
Die aktuellen Impfzahlen und die steigende Impfbereitschaft stimmen mich optimistisch. Dazu haben auch die diversen Impfkampagnen beigetragen. Ausbaufähig ist die weitere Aufklärung bezüglich der Wirkungsweise der Impfstoffe und das Nehmen von Ängsten vor Impfreaktionen.
Politik, Ministerien und Verwaltung versuchen möglichst schnell Lösungen zu liefern. Wir gehen heute mit der Krise besser um als im letzten Jahr oder noch vor einem Monat.
Auch im diskriminierungskritischen Sinne gibt es positive Entwicklungen. Die Nummer, benachteiligte Gruppen zu Sündenböcken der Krise zu machen, hat nicht gezogen und glücklicherweise werden derartige Versuche inzwischen größtenteils unterlassen. Die Corona-Krise hat strukturelle Missstände in Deutschland offengelegt.
Jeder, der nicht nur am Stammtisch über die uns alle belastende Lage schimpft, sondern ernsthaft über Faktoren und Ursachen nachdenkt, hat erkannt, dass migrantische Milieus nicht Ursache des Problems sind, sondern Leidtragende ungerechter Verteilung. Und da ist die Aufgabe: Wie können wir diese Schieflage korrigieren? Wie können wir gegen Benachteiligung und Diskriminierung vorgehen?
In Neukölln wurden Menschen aus Brennpunkten mit besonders hohen Infektionszahlen in einer Art Pop-up-Impfzentrum geimpft. Wie finden Sie das?
Es ist zu früh, darüber etwas zu sagen. Aber in einer sehr großen Krise muss man unterschiedliche Ansätze versuchen - auch digitale Ansätze wie die Corona-Warn-App. Allerdings muss man auch in diesen Bereichen von Diskriminierung betroffene Gruppen stärker einbeziehen. Nicht-Betroffene wissen oft nicht, was den Betroffenen fehlt.
Auch Ihre Mutter ist auf einem Foto der Kampagne zu sehen. Wie kam es dazu?
Relativ kurzfristig wurde von der Agentur ein intergeneratives Bild mit migrationsgeschichtlichem Bezug gewünscht und unter den Vorschlägen war auch meine Mutter. Meine Mutter gehört genauso selbstverständlich dazu wie auch Günther Jauch oder Alice Schwarzer. Das Foto macht mich als Sohn stolz und das wird sicherlich als Erinnerung an diese schwierige Zeit, über die wir hoffentlich schon bald in der Vergangenheitsform reden werden, bleiben.
Das Gespräch führte Nicolas Lepartz.
Nicolas Lepartz