Stadtspaziergang mit Visa Vie: Auf eine Suppe am Boxhagener Platz
Im Suppenimbiss am Boxhagener Platz ist Moderatorin Visa Vie Stammgast. Von dort geht’s auf einen kleinen Ausflug zum RAW-Gelände.
Suppe wärmt die Seele, lindert Schnupfen und Wehwehchen. Ein Suppenimbiss als einzige Leitung in die Außenwelt, als Hauptnahrungsquelle neben Ben & Jerry's-Eisbechern – diese Überlebensstrategie hat Hip Hop-Moderatorin und Instagram-Promi Charlotte Mellahn alias Visa Vie erfunden. „Ich habe hier in den letzten Monaten circa 840.000 Suppen gegessen“, sagt die 32-Jährige beim Treffen vor dem „Hot Dog Soup“ am Boxhagener Platz, einem winzigen Laden, der genau das serviert: Hot Dog und Suppe.
Einen kleinen Ausflug hat sie vor, dazu bittet sie in ihr mit Gösser-Flaschen und Krimskrams vollgemülltes Auto. „Das spiegelt mein Seelenleben in den letzten Monaten wider.“ BVG geht nicht, denn neben ihrer Hundephobie, die sie mit Hypnose bekämpfte, verfolgt sie in öffentlichen Verkehrsmitteln das Pech. „Man nennt mich Shit Magnet, weil ich den Wahnsinn anziehe“, sagt sie und fährt das Stück zum RAW-Gelände. Die Eigenschaft, Beschimpfungen und Unglück anzuziehen, teilt sie mit der Protagonistin aus ihrem ersten Spotify-Podcast "Das allerletzte Interview", einem Krimi in 20 Episoden.
Rapperin, Moderatorin, Podcasterin
Die Arbeit am Podcast, mit dem sie derzeit auf Lesereise ist, hat die Sache mit den einseitigen Essgewohnheiten und dem Chaos-Auto nicht besser gemacht: Für die zweite Staffel schrieb sie bis Mitte November die Nächte durch und zerstörte ihren Schlafrhythmus. Damit kommen viele Erfahrungen aus den vergangenen zwölf Jahren zusammen: Als Rapperin schrieb sie ihre Songs, arbeitete mit Vergleichen und Pointen, als Moderatorin und Interviewerin des Onlineportals „16 bars“ interviewte sie deutsche Hip Hop-Größen wie Bushido, Haftbefehl, Sido und Kool Savas und brachte es mit ihrer unverblümten Art und ihrem Fachwissen selbst zu einiger Bekanntheit.
Jetzt moderiert sie jeden Mittwochabend auf Radio Fritz die Show „Irgendwas mit Rap“. Im Podcast, dessen Story sie selbst schrieb, geht es um die Moderatorin Clara und ihren Plan, den berühmtesten Rapper Deutschlands zu ermorden – Ähnlichkeiten zu existierenden Personen oder Vorfällen aus ihrer Karriere sind natürlich unbeabsichtigt.
Auf dem RAW-Gelände bleibt Visa Vie vor einer bunt angemalten Telefonzelle stehen, die zur Mini-Disco, einer Art begehbaren Jukebox, umfunktioniert wurde. Eine Gruppe junger Franzosen blockiert mit Rollkoffern die Tür. „Wollen die da jetzt zu zehnt rein?“, fragt Visa Vie kopfschüttelnd. Berliner Schnauze, ganz klar. Sie ist in Prenzlauer Berg aufgewachsen. „Dort habe ich keinen Spaß mehr“, sagt sie. Die Gentrifizierung in Friedrichshain sei dagegen noch erträglich. Die Franzosen in der Telefonzellen-Disco halten gerade mal ein halbes Lied lang durch, dann ist Visa Vie dran. Routiniert wählt sie einen Titel aus - kein Hip Hop, stellt sie klar.
Noch schnell eine Story an die 117.000 Instagram-Fans schicken
"I would walk 500 miles" von The Proclaimers ist ihre Wahl. „Der beste Tipp um einen Abend zu beenden: leicht einen sitzen haben und mit Freunden hier reinstellen.“ Geknutscht hat sie in dem Ein-Quadratmeter-Räumchen auch schon mal.
Drinnen eingequetscht singt sie mit, bedient Stroboskoplichter und Nebelmaschine, schickt noch schnell eine Story an ihre 117.000 Instagram-Fans raus. Visa Vie ist ein Phänomen in der Szene. „Ich war eine Frau in der Rapwelt, als die meisten Frauen dort noch nackt im Hintergrund tanzten.“ Ähnlich wie ihre Protagonistin Clara ignorierte sie sexistische Sprüche und versuchte, sich in Rapperkriegen möglichst neutral zu verhalten – auch wenn sie längst nicht immer so ruhig blieb, wie es von außen den Anschein hatte.
Sie hat sich „Seid lieb“ auf ihr Handgelenk tätowieren lassen, ein Satz aus dem Satireroman „Gott bewahre“ des Autors John Niven. In dem sitzt Gott kiffend im Himmel und schaut auf die sich bekriegende Menschheit, auf Rassenhass und Homophobie. „Es klingt wie ein Kinderspruch, aber genau deswegen hab ich ihn zu meinem Lebensmotto gemacht“, sagt Visa Vie. Niven gab ihr bei einer Lesung auch die Inspiration für ein zweites Tattoo: Ein beschriebenes Blatt Papier ist auf ihrem Unterarm zu sehen.
„Eigentlich will ich nur noch Autorin sein“
Sie spricht offen über harte Zeiten und Unsicherheiten – Themen, die auch in ihrem Podcast aufscheinen – an diesem Sonntag aber schlendert sie fröhlich über den Boxhagener Platz, auf dem sich alles auf dem Flohmarkt drängt. Überteuerter Mauerpark oder das ruhige Charlottenburg sind ein „Albtraum“ für Visa Vie, sie will da sein, wo was los ist. Egal, ob das jetzt beim Feilschen mit den Möbelhändlern ist, denen sie beim letzten Mal ein ganzes Kellerabteil voll mit Möbeln abkaufte, oder wenn es mal wieder laut wird vor ihrem Wohnungsfenster. „Ich habe einen Tinnitus, da sind Hintergrundgeräusche eher angenehm“, meint sie.
Beim Suppenessen zurück im dunstigen „Hotdog Soup“ stellt sich heraus, dass eines aber gar nicht geht: Schlürfgeräusche. „Schon mal von Misophonie gehört?“, raunt sie über ihre Brokkoli-Käse-Suppe hinweg. Schlürfen, schniefen, schmatzen – fast schlimmer als großkotzige Rapper. In Zeiten der „Me too“-Debatte hat Visa Vie eine erstaunlich entspannte Einstellung zu frauenfeindlichen Texten. „Solange die Künstler das nur rappen und sich ansonsten davon abgrenzen, finde ich es in Ordnung“, lautet ihre Faustregel.
Ein paar junge Männer am Nebentisch erkennen sie, sprechen sie an. Sie lächelt, antwortet freundlich und offen. „Eigentlich will ich nur noch Autorin sein“, sagt sie danach. Das sind zumindest gute Nachrichten für die Suppenküche ihres Vertrauens, weniger gute für ihren Biorhythmus. Bevor sie geht, nimmt sie noch eine Tomate-Reis-Suppe mit: „Die geht immer."