Grünen-Fraktionschefin Antje Kapek: "Auf Berlins Straßen herrscht blanke Anarchie"
Im Interview spricht die Grüne-Fraktionschefin über Zoff in der Koalition, moderne Mobilität und Verständnis für Hausbesetzungen.
Frau Kapek, wie ist der Zustand der rot-rot-grünen Koalition in Berlin?
Rot-Rot-Grün arbeitet sehr gut zusammen. Wir haben gemeinsam schon viele Themen angepackt und abgearbeitet. Aber die Kommunikation darüber ist sicherlich ausbaufähig.
Aus Ihrer Partei war Ärger zu hören, der Regierende Bürgermeister habe bei der letzten Senatssitzung nur „rumgepampt“.
Uns ist wichtig, dass die Koalition die großen Reformvorhaben entschlossen angeht. Aber wenn jeden Tag Querschläger kommen, belastet das die Zusammenarbeit. Es bringt weder etwas, die Koalitionspartner schlecht zu reden, noch sich ständig abzugrenzen und auf deren Kosten zu profilieren. Es ist besser, wenn wir uns zusammensetzen und Konflikte besprechen. Das funktioniert mit den Fraktionschefs hervorragend. Wenn manch ein Senatsmitglied regelmäßig nur Streitpunkte kommuniziert, darf man sich nicht über schlechte Umfragewerte wundern.
Es knirscht doch gewaltig. Im Wohnungsbau geht es nicht voran, Kitaplätze fehlen, und mehr als 2100 Lehrerstellen müssen besetzt werden. Wo bleiben die Erfolge?
Unbestritten, dass es in einer wachsenden Stadt viele Probleme gibt. Die müssen benannt werden. Viele Grüne waren zum Beispiel auf der Kita-Demo, nicht um uns lieb Kind zu machen, sondern um den Betroffenen zu sagen, dass wir für ein Gespräch zur Verfügung stehen. Wir haben vor, jetzt während der Tarifverhandlungen die Gehälter der Erzieher zu erhöhen.
Dass jetzt schon Lehramtsstudierende im Masterstudium als Quereinsteiger in die Schulen umworben werden, ist ein klarer Hinweis darauf, dass man gegen Lehrermangel zu spät agiert hat.
Es gibt eine Reihe von Mangelberufen wie Lehrer oder Bauleiter, für die wir kurzfristige Maßnahmen brauchen. Für eine Übergangszeit könnten Schnellstudiengänge eingerichtet werden. Aber das Problem ist größer: Es fehlt seit Jahren ein Personalentwicklungskonzept, das den Generationenwechsel in der Verwaltung und die wachsende Stadt abbildet. Das ist neben der Verkehrswende das zentrale Reformprojekt der Koalition.
Erst am Dienstag drohte der Regierende Bürgermeister Michael Müller in der Senatssitzung, dass es „so nicht mehr weitergeht“. Stichwort Wohnungsbau oder Hausbesetzungen: Haben Sie als Kreuzberger Grüne Verständnis für Hausbesetzungen?
Ich habe Verständnis für politische Kunstaktionen, wenn wie am Pfingstsonntag neun Häuser besetzt wurden. Ansonsten muss man stark differenzieren. Wir müssen uns in der Koalition darüber klar werden, wie wir mit spekulativem Leerstand umgehen. Wenn Häuser für eine längere Zeit nachweislich aus Spekulationsgründen leer stehen, dann kann man über Modelle wie in London oder Zürich sprechen, die eine Besetzung legalisieren.
Wollen Sie die Berliner Linie verlassen, wie es die Linke in Aussicht stellt, also Häuser nach Neubesetzungen innerhalb von 24 Stunden zu räumen?
Ich stehe zur Berliner Linie, die sich seit den achtziger Jahren bewährt hat. Allerdings möchte ich prüfen lassen, ob wir bei spekulativem Leerstand eine Ausnahme machen. Dafür braucht man eine gesetzliche Grundlage. Ziel muss immer die Stärkung des Gemeinwohls sein.
Die Grünen haben sich beim Mobilitätsgesetz durchgesetzt. Es gibt kein eigenes Kapitel für den Autoverkehr, er steht nur in der Präambel. Haben Sie den motorisierten Individualverkehr vergessen?
Eine Greenpeace-Studie kam kürzlich zu dem Schluss, dass Berlin die autofreundlichste Metropole Europas ist. Bisher wurde immer für den motorisierten Individualverkehr geplant. Das Mobilitätsgesetz ist das größte grüne Reformprojekt und mit ihm beenden wir die Vernachlässigung von allen anderen Verkehrsteilnehmern inklusive Wirtschaftsverkehr. Dafür bekommt der Umweltverbund bei der Planung nun Vorrang. Denn wenn die Leute zu Bussen, Bahnen und Rad wechseln, schaffen wir Platz auf den Straßen für alle, die das Auto wirklich benötigen: Ältere, Familien, Mobilitätseingeschränkte und natürlich auch Handwerk und Logistik.
Und wie wollen Sie die Autofahrer zum Umsteigen animieren, wenn seit 2013 die Zahl der Gewaltdelikte in Bussen und Bahnen steigt?
Zwei Drittel aller Berliner fahren schon heute kein Auto. Für diese Menschen, die kein Auto fahren, fahren wollen oder nicht können, muss auch mal Politik gemacht werden. Wenn ich Verkehrspolitik denke, denke ich in allererster Linie an Kinder oder Ältere, die besonders oft Opfer von Unfällen werden. Die Verkehrswende mit mehr Verkehrssicherheit für alle ist das größte Reformprojekt für die Grünen.
Nur lassen die angekündigten verbesserten Fahrradwege oder die 100 Kilometer Radschnellwege auf sich warten. Es gibt auch nicht mehr Fahrrad-Stellplätze. Wo sind die sichtbaren Erfolge?
Es gibt bereits heute reale Verbesserungen. Nach schweren Unfällen zum Beispiel ist die Reaktionszeit der Behörden viel schneller geworden: Gefährliche Kreuzungen oder Straßenzüge werden innerhalb von vier Wochen entschärft. Statt zwei Mitarbeitern für die Radverkehrsplanung gibt nun 60, 80 werden es. In diesem Sommer wird zudem viel gebaut werden. Auch bei innovativer Mobilität müssen wir in Berlin endlich Vorreiter werden. Auch das schieben wir mit dem Mobilitätsgesetz nun an.
Was bedeutet innovative Mobilität? Den Autofahrern Tempolimits vorhalten und Parkplätze entfernen, wie es die Opposition der Koalition vorhält?
Da geht es zum Beispiel um Verkehrs-Apps, um schnell und bequem von A nach B zu kommen. Das Gesetz regelt auch, dass BVG oder VBB, aber auch Google, künftig ihre Echtzeitverkehrsdaten veröffentlichen müssen, damit sie auch andere Start-ups verwenden können. Auf unserer Sommerklausur in Hamburg ist innovative Mobilität ein Schwerpunkt. Wir sind explizit nicht gegen das Auto, wollen aber den Umweltverbund so attraktiv machen, dass viele umsteigen. Der Verkehr muss je nach Verkehrsteilnehmer entflochten werden. Auf Berliner Straßen herrscht bislang blanke Anarchie mit Hauen und Stechen.
Antje Kapek, 41, ist Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus. Sie hat Stadt- und Regionalplanung studiert.