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Selbst schuld. Dass Jeff Tweedy, hier bei einem früheren Konzert in Berlin, neulich die Fans trotz toller Show irgendwann davonliefen, hatte auch mit dem späten Konzertbeginn zu tun.
© dpa

Unpünktliche Konzerte in Berlin: An-fan-gen! An-fan-gen!

Musikfans kennen das Problem: Zuerst wartet man sich lahm, dann ist man unnötig spät im Bett. Warum können Konzerte nicht einfach zu der Zeit beginnen, die auf dem Ticket steht?

Neulich, in Schöneberg, hat Jeff Tweedy sich in einen Rausch gespielt. Es war in der Apostel-Paulus-Kirche an der Grunewaldstraße, als der Sänger der Band Wilco sich ein wenig verlor in seiner Musik. Verständlich: der pompöse neogotische Backsteinbau, die Akustik. Der enge Kontakt zu den Fans, die hier dicht gedrängt auf den Bänken saßen wie sonst nur zum Gospelkonzert, der eigene Sohn am Schlagzeug – das erlebt selbst ein Profi wie Tweedy, der seit 30 Jahren im Geschäft ist, nicht jeden Tag. Die Fans standen bald, sangen, klatschten, stampften mit, bis die Wände bebten. Und Tweedy hörte gar nicht mehr auf.

Bis die Ersten gingen. Sie gingen nicht, weil sie genug hatten, sie gingen mit betrübten Gesichtern, weil sie so gern noch bleiben wollten. Doch es war kurz vor Mitternacht, an einem Donnerstag. Sie mussten noch nach Friedrichshain, Kladow, Potsdam.

Jeff Tweedy hatte sich Zeit gelassen. Eine Stunde nach Einlass durfte zunächst eine Vorband ihre Gunst beim Publikum suchen, mit mäßigem Erfolg, wie so oft. Bis sich Tweedy gegen halb zehn endlich selbst auf die Bühne bequemte. Warum, frage ich mich, muss das bloß immer so sein? Warum können Musiker und Bands nicht einfach zu der Zeit anfangen, die auf dem Ticket steht?

Achtung, sagen die Kollegen, du outest dich als Spießerin. Von mir aus! Ich habe allerdings den Eindruck, dass die wenigsten Spaß daran haben, mitunter zwei Stunden zu warten, bis derjenige auftritt, den zu sehen und zu hören man (oft unverschämte Summen!) bezahlt hat.

Ja, ich habe Rücken, ich stehe nicht gern lange grundlos herum. Ich neige dann zu übermäßigem Getränkekonsum und muss bei Konzertbeginn aufs Klo. Aber ich habe auch das Gefühl, dass es in Berlin am schlimmsten ist. Das institutionalisierte Zuspätkommen gehört offenbar zur Hipster- Hauptstadt dazu und wird von den Veranstaltern miteingerechnet. Oder wollen sie einfach nur mehr Bier und Brezeln verkaufen? Jedenfalls gilt eine einfache Rechnung: Die Startverzögerung verhält sich proportional zur Coolness des Veranstaltungsorts. Die Skala verläuft folglich etwa so: Gregory Porter in der Philharmonie = sehr pünktlich; Wir Sind Helden in der Columbiahalle = mittelpünktlich; Kakkmaddafakka im Astra Kulturhaus = sehr unpünktlich. Die Apostel-Paulus- Kirche lag also noch ganz gut in der Mitte – und man konnte wenigstens sitzen.

Ich habe nichts gegen Vorbands - wenn sie vor Konzertbeginn spielen!

Während bei Klassikkonzerten nie auch nur das akademische Viertel überschritten wird, ist die Anfangszeit im Astra meist von vornherein schon auf 21 Uhr angesetzt. Da wird es in der Woche zwar auch schon etwas spät, wäre jedoch kein größeres Problem – wenn es denn dann auch losginge! Häufig muss man dann jedoch noch eine halbe Stunde warten – wohlgemerkt, bis die Vorband zu spielen beginnt. Yann Tiersen trat bei seinem letzten Besuch im Astra gegen halb elf vors Publikum. Ich hatte da eigentlich schon keine Lust mehr auf ihn. Und wenn es dann doch mal recht pünktlich losgeht – wie einmal, es waren, glaube ich, die Fleet Foxes? Dann verpassen viele Besucher die erste halbe Stunde, weil sie gegenüber noch was essen waren.

Bitte nicht falsch verstehen: Ich habe nichts gegen Vorbands! Ich entdecke liebend gern neue, spannende Musik. Wenn allerdings eine RTL-Popnudel vor Jamie Cullum auftritt, fragt man sich schon, wer da das Casting gemacht hat. Da waren die Kings Of Convenience im Huxley’s konsequenter und haben einfach die alten WG-Kumpels aus ihrer Berliner Zeit spielen lassen. Die waren zwar ein wenig überfordert von der großen Bühne, aber es war wenigstens sympathisch-originell.

Vor allem aber sollte die Vorband doch bitte auch vor dem eigentlichen Konzertbeginn auftreten. Wer mag, kann dann beim Biertrinken schon zuhören, die anderen kommen pünktlich – und werden vielleicht mit zusätzlichen Zugaben belohnt. Denn die schönsten Momente kommen doch immer am Schluss. Wie neulich, im Lido, als Niels Frevert sagte: „Scheiß drauf, ich spiel jetzt alles, was ich habe!“ Da bleibt man doch gern noch ein bisschen länger. Und die Rückenschmerzen sind schon fast vergessen.

Dieser Text erschien als Rant in der Tagesspiegel-Samstagsbeilage Mehr Berlin.

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