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Oma. Nur dieses eine Wort steht auf dem Grabstein von Heike Richters Mutter. Sie starb wegen eines Behandlungsfehlers, der verantwortliche Arzt wurde wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Das Strafmaß aber hält Richter für lachhaft.
© Georg Moritz

Tod nach Behandlungsfehler: "Abgerutscht" heißt es in den Prozessakten

Nach einem ärztlichen Eingriff starb die Mutter. Auch vier Jahre später kämpft die Tochter noch vor Gericht um Anerkennung und ein Schuldeingeständnis des Mediziners. Es ist ein Kampf um Paragraphen, Gutachten – und moralische Fragen.

„Wenn ich zittere, müssen Sie das ignorieren, das hört dann irgendwann wieder auf.“ Heike Richter lächelt entschuldigend, vier Jahre später, im Wintergarten ihres Hauses in Berlin-Marienfelde. Fast viereinhalb Jahre ist der Tod ihrer Mutter nun schon her, 14. September 2010, und noch immer bereitet es ihr sichtlich Mühe, darüber zu sprechen. Sie war selbst dabei, in den Minuten und den Stunden nach dem ärztlichen Eingriff, der eigentlich Routine sein sollte. Doch zwei Tage später war die Mutti tot, und für Heike Richter und ihre Familie begann die Leidenszeit erst.

„Es ist frustrierend“, sagt Heike Richter heute. „Wir sind völlig ernüchtert“, fügt ihr Mann hinzu. Ganz am Anfang, vor vier Jahren, das wissen sie noch, da stand das Gefühl, dass doch irgendetwas passieren müsse. Dass sie „dagegen vorgehen“ müssten. Dagegen: das ist die große Ungerechtigkeit, die sie empfinden, auch heute noch, auch wenn sie sich von einigen naiven Erwartungen der Anfangszeit längst verabschiedet haben. „Wir dachten, der Mann wird festgenommen, er wird verurteilt“, sagt Heike Richter, „er hat ja jemanden umgebracht“.

Ein Routine-Eingriff, der tödlich verlief

Ein Behandlungsfehler, tödlich verlaufen, „abgerutscht“, heißt es in den Prozessakten des Strafverfahrens, das bereits abgeschlossen ist. Der verantwortliche Internist aus dem Berliner Süden ist Ende Juli 2013 verurteilt worden, 6000 Euro Geldstrafe, fahrlässige Tötung eines Menschen. Einerseits eine Befriedigung, sagt Heike Richter, dass ihre Schuldvermutung endlich von offizieller Stelle bestätigt wurde. Aber das Strafmaß sei lachhaft, fügt sie bitter hinzu. Es musste weitergehen, fand Richter. Sie verklagt den Arzt nun auch zivilrechtlich, das neue Verfahren läuft seit März 2014. Um das Geld, rund 20.000 Euro vorläufiger Streitwert, gehe es ihr nicht, sagt sie. Sondern? „Er soll anerkennen, dass er Schuld hat. Ich möchte, dass er sagt: Es war nicht richtig.“

Die Beckenkammpunktion, zu der Richter ihre Mutter am 14. September 2010 in die Praxis fährt, gilt als Routine-Eingriff, er soll Erkenntnisse über eine bestehende Thrombose liefern. Doch die OP misslingt, statt wie geplant das Knochenmark trifft der Arzt, wie sich später herausstellt, eine Hauptarterie. Die Patientin bekommt starke Schmerzen, der Krankentransport verzögert sich, Heike Richter behauptet, er sei überhaupt erst auf ihr dringendes Bitten erfolgt. Während sie mit ihrer kleinen Tochter und der vor Schmerzen gekrümmten Mutter gewartet habe, sei der Arzt einfach gegangen. Das Gefühl, alleine gelassen zu sein, sei bis heute das Schlimmste. „Ich kann nicht beurteilen, was er bei dieser Untersuchung richtig oder falsch gemacht hat. Aber dass er einfach gegangen ist, dass er sich nicht gekümmert hat, dass er arrogant dagesessen hat... Ohne Herz.“

Trotz mehrerer Notoperationen verstarb die Mutter infolge des massiven inneren Blutverlusts knapp zwei Tage später im Krankenhaus. Zu einem persönlichen Kontakt zwischen Arzt und Familie ist es seitdem nicht mehr gekommen. Ist mit einem Schuldeingeständnis, wie es die Familie fordert, noch zu rechnen?

Ein Tod wird verhandelt

„Ich habe es erst einmal erlebt, dass ein Arzt gesagt hat, es tut ihm leid, und sofort gezahlt hat und fertig“, sagt Jana Hassel, Anwältin der Familie Richter. 300 bis 400 Medizinrechts-Fälle hat sie nach eigener Schätzung schon betreut. Die Regel sei, dass die Berufshaftpflicht, die das Verfahren für den Arzt führt, es auf eine Verhandlung ankommen lässt. Eine außergerichtliche Einigung „lohnt sich nicht“, sagt Hassel. Stattdessen führt der Versicherer das Verfahren bis zum Ende. Ein Tod wird verhandelt.

Der Arzt ist selbst gefangen im vorgegebenen Schema. Seine Haftpflicht zahlt Anwalt und Verfahren und ist naturgemäß an einer möglichst günstigen Lösung interessiert. „Sie verlieren unter Umständen Ihren Versicherungsschutz, wenn sie sich da als Arzt querstellen“, so Hassel. Bei Schadenersatzsummen, die teils in den sechsstelligen Bereich gehen, steht auch für gut verdienende Ärzte schnell die finanzielle Existenz auf dem Spiel. Ein Chirurg schrieb 2012 in einem Leserbrief an die Süddeutsche Zeitung: „Will man sich und seine Familie vor dem wirtschaftlichen Kollaps schützen, muss man schweigend mit ansehen, wie die Versicherung einen demütigenden und unwürdigen Abwehrkampf gegen den Patienten führt, um ihm die Entschädigung für erlittenes Leid vorzuenthalten.“

Ist der Patient verstorben, wird besagter Abwehrkampf eben gegen die Hinterbliebenen geführt, wenn sie überhaupt Klage erheben. Das tun nach wie vor nicht alle, auch wenn das Anfang 2013 in Kraft getretene Patientenrechtegesetz den Geschädigten mehr rechtliche Möglichkeiten einräumt. Bei groben Fehlern muss nun der Arzt seine Unschuld beweisen, nicht der Patient oder die Angehörigen seine Schuld. 12 173 Beschwerden wegen vermuteter Behandlungsfehler zählte die Bundesärztekammer 2013, die eigentliche Zahl liegt nach Schätzungen weit darüber. Im Jahr 2010 starben laut Gesundheitsministerium 944 Menschen infolge von Ärztefehlern. Das Gesetz schützt aber nicht nur die Patienten, sondern auch die Ärzte, aus gutem Grund.

Alleine die Fristverlängerungen sprechen für sich

Es ist ein Beruf mit teils extremer Verantwortung, und jeder Mensch macht Fehler. Ist ein Fehler passiert, setzt jedoch die Maschinerie ein. In einem Wust an Gutachten, Standardschreiben und Erwiderungen geht das menschliche Schicksal oft völlig unter. Heike Richter erinnert sich gut an das Schreiben der Krankenkasse, Wochen nach dem Tod der Mutter, in dem es hieß, die Patientin möchte bitte den Arzt von der Schweigepflicht entbinden. „Man kriegt immer noch einen Schlag obendrauf“, sagt Richter.

Und trotzdem will sie weitermachen. Es gehe ihnen längst nur noch ums Prinzip, sagt Richters Mann, auch angesichts der langen, frustrierenden Wartezeiten. Alleine die Fristverlängerungen für die so genannte Klageerwiderung sprechen für sich: Mitte Mai sei mit der Stellungnahme der Gegenseite zu rechnen, hieß es erst, doch sie verzögerte sich immer wieder, das Landgericht gewährte immer neue Verlängerungen. Fast ein halbes Jahr später, Mitte Oktober, lag sie dann vor: zwölf Seiten, in denen der Anwalt des Arztes vorwiegend Details und Begrifflichkeiten verhandelt, neue Gutachten fordert, bereits vorhandene anzweifelt. Abwehrkampf.

Wenn alles normal läuft, wird sich der Prozess noch lange hinziehen, noch lange in dieses Jahr hinein, wahrscheinlich noch länger. Dass sich der Arzt eines Tages noch einmal gegenüber der Familie offenbart, ist sehr unwahrscheinlich, auch für diesen Artikel blieben die an seinen Anwalt weitergeleiteten Fragen unbeantwortet. Anwältin Jana Hassel rechnet nicht mit Mitgefühl: „Was die Familie maximal kriegen kann, ist Geld. Sie haben keinen Anspruch auf Entschuldigung, sie haben keinen Anspruch darauf, dass er berufsrechtlich verwarnt wird.“

Vier Jahre sind vergangen, aber die Erinnerungen kommen immer wieder hoch, zu Geburtstagen und anderen Gelegenheiten, bei denen Oma dabei war. Wenn Deutschland spielt, müssen sie an die WM 2010 denken, als sie im Garten saß, das 4:0 gegen Argentinien feierte mit den Enkeln, auf dem T-Shirt den Spruch „Ein Schuss. Ein Tor“.

Was ist, wenn der Prozess einmal vorüber ist? Wenn er nicht das gewünschte Ergebnis bringt? „Ich habe auch Angst vor diesem Abschluss“, sagt Heike Richter mit leiser Stimme. „Denn dann haben wir ja alle Mittel ausgeschöpft.“ Und das Leben muss trotzdem weitergehen.

Aber sie kämpfen noch. Der Friedhof liegt nur ein paar hundert Meter vom Haus der Richters entfernt. Nur ein Wort steht auf dem Stein: Oma. Die Friedhofsverwaltung sei zuerst dagegen gewesen, auf jedem Grab müsse ein richtiger Name stehen, erzählt Heike Richter. Sie ist dann auf dem ganzen Friedhof herumgegangen, hat sich hunderte Gräber angeschaut, bis sie ein anderes ohne richtigen Namen fand. Oma durfte bleiben.

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