"Schuldistanzierte" Jugendliche: 1000 mal geschwänzt - Behörden scheinen machtlos
Trotz verschiedener Gegenmaßnahmen der Ämter schwänzte ein 16-Jähriger aus Reinickendorf fast 1000 Mal die Schule. Hartnäckige Schwänzer sind in Berlin keine Seltenheit. Wie wirksam sind die Methoden der Behörden?
In Reinickendorf sind sie entsetzt. Von einem „tragischen Einzelfall“ spricht Schulstadträtin Katrin Schultze-Berndt (CDU). Fast 1000 Mal hat ein 16-Jähriger aus Reinickendorf im Laufe seiner Schulzeit bereits geschwänzt. „Da ist das Kindeswohl meiner Ansicht nach massiv gefährdet“, empört sich die Stadträtin. „Dem Jungen fehlen ja Grundkenntnisse im Rechnen und Schreiben.“ Wie berichtet, muss sich jetzt seine Mutter vor Gericht verantworten. Ihr wird eine Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht vorgeworfen. Wegen eines Formfehlers muss das Verfahren aber neu angesetzt werden.
Der Junge lebt mit seiner Mutter seit 2010 in Berlin. Zuvor wohnte die Familie in Rheinland-Pfalz; auch dort ging er die meiste Zeit nicht in die Schule. Insgesamt 14 Bußgeldbescheide bekam die Mutter deshalb, drei waren es in Berlin – in Höhe von 250, 400 und 600 Euro. Davon soll sie nur einen Bruchteil bezahlt haben. Zweimal wurde der Junge von der Polizei abgeholt und zur Schule gebracht – „polizeiliche Zuführung“ heißt das bei den Behörden. Doch auch diese Maßnahme zeigte keine Wirkung. Schließlich wurde der Mutter eine sogenannte Erzwingungshaft angedroht. Gleichzeitig wandte sich das Schulamt an die Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts auf Verletzung der Fürsorgepflicht.
Über 3500 Schüler in Berlin gelten als hartnäckige Schwänzer mit mehr als zehn unentschuldigten Fehltagen im Jahr – die Bildungsverwaltung spricht dann von „Schuldistanz“. Rund 650 Schüler fehlten im Schuljahr 2011/12 sogar mehr als 40 Tage ohne Entschuldigung. In den Jahren zuvor waren es noch mehr – die Quote der schuldistanzierten Schüler ist von 1,43 Prozent im Jahr 2010/11 auf 1,34 Prozent im Jahr 2011/12 gesunken. Dennoch stelle das Problem eine drängende Herausforderung dar. „Schuldistanz führt zu Schulverweigerung und kann mit Schulabbruch enden“, sagt Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD).
Bei den Maßnahmen setzen Schulverwaltung und Bezirke auf eine Mischung aus Prävention und Sanktionen. In der Regel bemühen sich zunächst Sozialarbeiter an den Schulen um die Familien und versuchen, die Ursachen zu erkennen. Denn die Gründe für das Schwänzen sind vielfältig. Einige Familien sind mit dem Alltag überfordert, in anderen Fällen haben die Schüler wegen Mobbings Angst, zur Schule zu gehen. Seit letztem Jahr werden Eltern bereits ab dem ersten unentschuldigten Fehltag informiert. Bei mehr als zehn Fehltagen müssen die Schulen eine Versäumnisanzeige stellen und das Jugendamt kontaktieren. Als weitere Konsequenzen gibt es Bußgelder, Erzwingungshaft und polizeiliche Zuführung.
Insbesondere diese Maßnahme ist jedoch umstritten. „Die Jugendlichen bekommen dann noch einen großen Auftritt im Polizeiwagen vor der Schule“, sagt die Neuköllner Schulstadträtin Franziska Giffey (SPD). „Das hat sich bei uns als nicht so wirksam erwiesen.“ Giffey setzt stattdessen auf Prävention, und die müsse möglichst schon in der Grundschule beginnen. Denn dort fangen die Probleme bereits an. In ihrem Bezirk seien im letzten Jahr etwa über 380 Kinder von ihren Eltern nicht einmal zur Einschulung angemeldet worden. In sechs bis acht Fällen hätten die Eltern schließlich von der Polizei zur Anmeldung gebracht werden müssen.