HIV-infizierte Französin: Zwölf Jahre ohne Medikamente - und ohne Symptome
Vor zwölf Jahren setzten die Eltern eines mit HIV infizierten Mädchens in Frankreich die Medikamente gegen die Immunschwäche ab. Trotzdem ist das Aidsvirus nicht im Blut der heute 18-Jährigen nachweisbar. Nun wollen Forscher ergründen, warum es ihr so gut geht.
Das Baby kam mit einer schweren Hypothek auf die Welt: Von der Mutter war es mit HIV infiziert worden. Eine Bürde, die ein geplanter Kaiserschnitt den Kindern HIV-positiver Mütter heute meist erspart. Immerhin konnte das kleine Mädchen von der Gnade der späten Geburt profitieren. Damals, 1996, gab es bereits Medikamente, die das Immunschwächevirus HIV in Schach halten. Sechs Jahre lang bekam das Kind eine aus mehreren Komponenten bestehende antiretrovirale Therapie. Dann wurde die Behandlung von den Eltern gestoppt, gegen den Rat der Ärzte. Denn bekanntlich ist HIV nicht heilbar, das Virus, das die Immunschwächekrankheit Aids hervorrufen kann, ist allenfalls dauerhaft in Schach zu halten.
Was der Virologe Asier Sáez-Cirión vom Institut Pasteur in Paris jetzt auf einer Konferenz in Vancouver berichtete, scheint deshalb fast an ein Wunder zu grenzen: Heute, zwölf Jahre nach dem Absetzen der Behandlung, fühlt sich die junge Frau gesund. In ihrem Blut ist HIV nicht nachweisbar.
Forscher rätseln über die Gründe für dieses "Wunder"
Es ist ein Rekord. Bisher wurde weltweit noch kein Fall dokumentiert, in dem das Virus so lange ohne Medikamente unter der Nachweisgrenze gehalten worden wäre. Zwar gab es das „Mississippi-Baby“, ebenfalls Kind einer HIV-positiven Mutter, dessen Behandlung ebenfalls gleich nach der Geburt begann, aber schon endete, als es erst anderthalb Jahre alt war. Dieses Kind, dessen glückliches Geschick die Fachwelt 2013 in Erstaunen setzte, hatte danach das Virus zwar zwei Jahre lang nicht im Blut. Doch 27 Monate nach dem Therapiestopp war es zurück.
Welche günstigen Umstände haben nun dazu geführt, dass das Virus im Fall der jungen Französin so lange Ruhe gibt? „Wir wissen nicht, warum das geschah“, sagte Sáez-Cirión einem Bericht des Fachjournals „Science“ zufolge jetzt in Vancouver. Klar ist einstweilen, dass auch diesmal nicht über ein Heilungs-Wunder berichtet werden kann, sondern allenfalls über eine „funktionelle“ Heilung. Die Forscher haben nämlich Signale vom Erbgut des Aidsvirus in Immunzellen der jungen Frau gefunden. „Schläfer“, die jederzeit dafür sorgen könnten, dass die Infektion wieder aufflammt.
Wenige Patienten schaffen es aufgrund ihrer Erbanlagen, das Virus kleinzuhalten
Im Schlummer liegt sie zeitweise auch bei der „Visconti“-Kohorte, die inzwischen auf 20 Mitglieder angewachsen ist. Der Begriff steht für „Viro-Immunological Sustained Control after Treatment Interruption“ – eine Gruppe von erwachsenen Patienten, die nach einer Neuinfektion konsequent und vor allem schon ab dem Zeitpunkt behandelt wurden, als ihr Immunsystem mit der Produktion von spezifischen Antikörpern gerade erst begonnen hatte. Über diese Gruppe hatte Sáez-Cirión bereits 2013 im Fachblatt „Plos Pathogens“ berichtet. Weil sie auf die Behandlung besonders gut ansprachen, wagten es ihre Ärzte, die Medikamente nach ein bis sieben Jahren abzusetzen. Inzwischen leben die Mitglieder der Visconti-Gruppe im Schnitt siebeneinhalb Jahre ohne die Mittel.
Im Unterschied zur kleinen Gruppe der „Elite-Controller“, die es aufgrund ihrer genetischen Voraussetzungen schaffen, das Virus auch ohne Behandlung auf Dauer kleinzuhalten, haben diese „Post-Therapie-Controller“ offensichtlich besonders gut auf die Medikamente reagiert. Die französischen Forscher gehen davon aus, dass rund 15 Prozent der sehr früh Behandelten dieses Glück haben. „Das könnte wichtige Folgen für die Suche nach Behandlungsformen haben, die auch andere funktionell heilen“, resümierten die Forscher vor zwei Jahren.
Ein zweites "Mississippi-Baby"
Noch ist allerdings unklar, was die „Post-Therapie-Controller“ in die glückliche Lage versetzt, mit den Viren fertig zu werden. Besondere Stärken des erworbenen Immunsystems wurden bei ihnen im Unterschied zu den „Elite-Controllern“ bisher nämlich nicht gefunden. Denkbar wäre, dass sie es mit einer schwächeren Form des Virus zu tun haben. Es könnte auch sein, dass bei ihnen die angeborene Komponente des körpereigenen Abwehrsystems sich besonders effektiv gegen das Retrovirus wehrt. Möglich wäre zudem, dass eine solche Besonderheit am ehesten im kindlichen Immunsystem wirksam wird. Und dass das eher klappt, wenn durch ein frühes medikamentöses Eingreifen das Virus-Reservoir klein bleibt.
Die junge Frau aus Frankreich, über die jetzt berichtet wurde, ist für Keikawus Arastéh, Chefarzt des Zentrums für Infektiologie und HIV am Berliner Vivantes-Klinikum Auguste Viktoria, eine Art „zweites Mississippi-Baby“. Auch bei ihr wurde mit der Behandlung sofort nach der Geburt begonnen. Weil eine Infektion Neugeborener sich heute meist gut verhindern lässt, ist in den Augen des HIV-Experten vor allem interessant, was beide Fälle für die Behandlung Erwachsener bedeuten könnten. „Hier ist möglicherweise ein Paradigmenwechsel nötig, wenn wir alle Chancen für unsere Patienten nutzen wollen“, sagt er.
Es spreche immer mehr dafür, bei der Behandlung eine Pause zu machen
Es spreche immer mehr dafür, frische Infektionen sofort zu behandeln und nach rund einem Jahr eine Pause einzulegen, während dieser medikamentenfreien Zeit aber engmaschig die Zahl der CD-4-Helferzellen des Immunsystems im Blut zu kontrollieren. „Früh zu behandeln fällt auch deshalb leichter, weil die Medikamente heutzutage viel besser verträglich sind.“
Mit einer schnell einsetzenden „Postexpositionsprophylaxe“ kann heute sofort nach einer möglichen Ansteckung begonnen werden. Generell hat die antiretrovirale Therapie (ART) nicht nur das Zeug dazu, die Krankheit Aids fernzuhalten. Sie kann auch das Übertragungsrisiko verringern und dadurch neue Optionen für die Lebensgestaltung bieten. „Wenn das Virus bei jemandem, der die Medikamente nimmt, jahrelang unter der Nachweisgrenze bleibt und er oder sie über ein halbes Jahr lang in fester Partnerschaft lebt, dann ist es verantwortbar, das Kondom wegzulassen“, sagt Arastéh mit Bezug auf verschiedene internationale Studien. Inzwischen gibt es sogar ein Mittel, das zwei der Wirkstoffe enthält, die aus der ART bekannt sind, und das man zur Vorbeugung einnehmen kann. Diese Pille zur „Präexpositionsprophylaxe“ (PreP) ist in den USA bereits zugelassen.
All das zusammen könnte bewirken, dass das hehre Ziel, das das HIV/Aids-Programm der Vereinten Nationen für 2020 anvisiert, erreicht werden könnte. Es besteht aus der eingängigen Zahlenfolge 90-90-90: 90 Prozent der Infizierten sollen bis dahin von ihrer Ansteckung wissen, 90 Prozent der positiv Getesteten sollen eine antiretrovirale Therapie bekommen und 90 Prozent der Behandelten mit einem Virus leben, das im Blut nicht nachzuweisen ist.